Es passt eigentlich nicht so recht zusammen: Das Glas-Stahl-Beton-Monster, das den Platz des ehemaligen Bahnhofsgebäudes eingenommen hat, und Grenanders Vorbau, ein U-Bahn-Eingang nur. Er steht auf dem Vorplatz, klein, alt und schmutzig. Und er sieht so aus, als wäre er der letzten Rest einer einst großen Bahnhofsanlage, der sich trotzig seinem Abriss und damit dem ungehinderten Zugang zum klotzigen Gesundbrunnen-Center entgegenstellt. Und beides stimmt.
Wer aus der Badstraße kommend auf das Center zugeht, kann sich selbst in der über mehrere Stockwerke reichenden Glasfassade spiegeln, auf der sich das »Gesund Brunnen Center« in falscher Schreibweise in protzigen Buchstaben anpreist. Die asymmetrische Gestaltung dieses Teils gibt dem Gesundbrunnen-Center einen unwirklichen Touch. Es wirkt wie ein Fremdkörper und zieht im Zusammenspiel mit dem alten U-Bahn-Gebäude dieses mit hinunter in den irrealen Eindruck dieses Platzes.

Samstagmittag strömen viele hundert Menschen in das Einkaufscenter. Auffällig viele Mütter mit Kinderwagen, auffällig wenig ausländische Kunden, obwohl diese doch im Gesundbrunnen sicher die Hälfte der Bevölkerung stellen.
Der Flugblattverteiler einer türkischen Kommunistengruppe konkurriert mit dem eines Drogeriemarktes um die wenigen Passanten, die willig sind, sich mit dem Papier zu belasten. Wobei der Drogisten-Propagandist mit Abstand der erfolgreichere Verteiler ist.
Am Fuße des Centers sitzen einige wenige Menschen auf den Stahlstühlen des Cafés, die vollen Einkaufstüten neben sich, und trinken, geschafft vom Einkauf, ihren Espresso. Einige vielleicht zwölfjährige Jungen üben daneben ihre Kunststücke mit den Rollerskates, während das hysterische Schreien einer genervten Mutter ihr Zweijähriges davon abhalten soll, auf die Fahrbahn zu rennen.

Wieder kommt ein Pulk von 20, 30 Menschen auf den Eingang des Centers zu, eine S-Bahn ist angekommen, und bevor sich deren Fahrgäste zu Einkaufskunden verwandeln, müssen sie den Weg vom Bahnsteig über den Behelfssteg auf die Straßenbrücke nehmen. Wer von dort Richtung Osten die Gleise entlang sieht, bekommt einen guten Eindruck von der Größe des Gesundbrunnen-Centers. Und er hat einen kurzen Gedanken, einen Eindruck nur, sowas wie eine Ahnung: Von hier aus sieht das Gebäude aus wie die gerade sinkende Titanic! Der größte Teil des Centers neigt sich hinten weit nach unten, die runden Fensteröffnungen an der Oberkante verstärken noch den Eindruck, dem Untergang des Luxus-Liners beizuwohnen. Die hinten anschließende Millionenbrücke mit ihrem geschwungenen stählernen Aufbau wirkt dabei wie eine Notrutsche. Kann Architektur prophetisch wirken?

Während des Trubels auf dem Vorplatz stehen einige Taxis an der Rufsäule, die sich aber so selten bemerkbar macht, dass man die Kutscher aus Mitleid zu einer Currywurst einladen möchte, damit sie nicht in ihren Wagen verhungern. Nur selten steigt mal ein Fahrgast ein. Der Imbiss am U-Bahn-Eingang, der vom Hunger der zufälligen Passanten und von der alktrinkenden Stammkundschaft lebt, wird jetzt kaum angesteuert. Und diejenigen, die hier verkehren, werden sicher nie Gast in dem Gebäude sein, das sich bescheiden hinter den Bäumen des kleinen Bloch-Platzes versteckt. Das Hotel »Holiday Inn Garden Court« steht schüchtern in der Häuserflucht, nicht mal mit einer eigenen Auffahrt macht es sich bei den Nachbarn bemerkbar, so dezent und unauffällig versucht es sich in den Alltag dieses Kiezes zu integrieren.
Unauffällig sind auch die Männer, die auf dem Mittelstreifen der Behmstraße bei den Telefonzellen oder gegenüber an der U-Bahn herumstehen. Den Eingang zur unterirdischen Toiletten immer im Augenwinkel, schlendern sie ab und zu hinunter, wenn wieder jemand Begehrenswertes die Treppe hinabgestiegen ist. Vielleicht drückt ihn ja nur die Blase, vielleicht treibt ihn aber auch die Suche nach den wenigen Sekunden Befriedigung. Manchen sieht man auch nach zwei Stunden noch hier stehen.

Das Gesundbrunnen-Center ist ein Magnet, ist es auch ein Center? Denn Center heißt Mittelpunkt und solche »Center« gibt es mittlerweile eine ganze Menge. Bald aber wird dieser Platz ein Mittelpunkt werden, dann wird auch das letzte Kiez-Gefühl verschwunden sein. Schon ist der Bau des neuen Fernbahnhofs weit fortgeschritten. In ein paar Jahren, wenn der Bahnhof Gesundbrunnen einer der drei wichtigsten Bahnhöfe Berlins sein wird, dann wird hier eher Mitte sein als Wedding.
Die Frauen mit den Kinderwagen, der alte Glatzkopf, der Soldatenlieder singt, die türkischen Jugendlichen mit den zurückgekämmten, gegelten Haaren und den teuren Klamotten, die Alkis am Imbiss, die Taxifahrer, die Schwulen, die Zettelverteiler, die Skater, die deutschen Väter mit ihren Hunden an der Leine – noch sind sie es, die die Atmosphäre ausmachen, hier am Samstagmittag am Bahnhof Gesundbrunnen.

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