An der Oberbaumbrücke

Als Kreuz­ber­ger Pflanze bin ich nahe der Grenze zu Ost-Berlin aufge­wach­sen. Die Mauer war für mich normal, so wie die Ruinen, die abge­schnit­te­nen Stra­ßen­bahn­schie­nen und die großen Schil­der “Sie verlas­sen jetzt West-Berlin”. Bei manchen schrie­ben wir darun­ter: “…und knal­len mit dem Kopp an die Mauer!”
Solch ein Schild stand auch an der Ober­baum­brü­cke, hier war fast das Ende von Kreuz­berg und unse­rer Stadt. Ost-Berlin gehörte damals für uns ja nicht dazu. Zwar gab es auch die Schle­si­sche Straße, die noch etwas weiter östlich führte, zum tatsäch­li­chen Ende, aber da kamen wir kaum mal hin.

Die Ober­baum­brü­cke war etwas beson­de­res. Hier stand zwar die Mauer quer drüber, aber sie hatte einen Durch­lass, denn die Brücke war auch ein Grenz­über­gang. Der Durch­gang war etwa zwei Meter breit, nur Fußgän­ger konn­ten ihn benut­zen. Direkt dahin­ter stand ein Wach­turm, dessen Fens­ter vergit­tert waren. So nah am Westen wollte man wohl sicher sein, dass kein Grenz­be­am­ter stif­ten geht, denn der Abstand betrug gerade mal einen halben Meter. Das Ufer der Spree war an dieser Stelle gleich­zei­tig die Grenze. Da die DDR ihre Mauer nicht mitten im Wasser aufbauen konnte, stand sie gegen­über, etwa 50 Meter vom Fried­richs­hai­ner Ufer entfernt. Sie ist heute die East Site Gallery. Von der Kreuz­ber­ger Seite kam man bis ans Wasser heran.

Dass der Fluss hier auf voller Breite zu Ost-Berlin gehörte, wurde eini­gen Kindern zum Verhäng­nis. Mehr­mals fielen am Groe­ben­ufer (heute: May-Ayim-Ufer) kleine Jungs ins Wasser und kamen die 2 Meter Ufer­be­fes­ti­gung nicht hoch. Zwar exis­tierte auch ein Abstieg bis auf Wasser­höhe, aber Poli­zei und Feuer­wehr durf­ten nicht eingrei­fen und auch andere Helfer fanden sich meist nicht. Deshalb ertran­ken hier auf den 300 Metern mindes­tens vier Kinder, die man sonst viel­leicht hätte retten können. Als 15-Jähri­ger erlebte ich einmal solch eine Situa­tion mit, die jedoch glimpf­lich ausging: Wieder war ein klei­ner Junge über die Absper­rung geklet­tert, ausge­rutscht und ins Wasser gestürzt. Da es damals warm war, waren viele Leute in der Nähe, die eingrei­fen konn­ten. Ein Mann zog sich sofort bis auf die Unter­hose aus und sprang ins Wasser. Gegen­über lag immer ein Patrouil­len­boot der Grenz­trup­pen in Bereit­schaft, sie gaben Gas und fuhren Rich­tung Unglücks­ort — der für sie aber offen­bar ein Tatort war. Noch während der Fahrt hatten die Solda­ten nichts besse­res zu tun, als den Helfer über Laut­spre­cher aufzu­for­dern, “das Terri­to­rium der DDR sofort zu verlas­sen”.
Ange­sichts der sich anbah­nen­den Tragö­die war das unglaub­lich. Von Kreuz­ber­ger Seite aus wurden Holz­bret­ter ins Wasser gewor­fen, damit sich der Mann und der Junge daran fest­hal­ten konn­ten. Dort wo die Treppe bis ans Wasser führte, hob der Retter das Kind auf den ersten Absatz. Der Junge wurde sofort nach oben gezo­gen und kam mit dem Schre­cken davon. Der Mann jedoch konnte nicht so schnell hoch­klet­tern. Das Grenz­boot fuhr weiter auf ihn zu, offen­bar wollte man ihn verhaf­ten. Um dem Mann zu helfen, hiel­ten wir Äste ins Wasser, damit er sich daran hoch­zie­hen könnte. Die Grenz­ler aber waren mitt­ler­weile so nah dran, dass sie ihn zwischen Kaimauer und Boot einklemm­ten und gleich­zei­tig versuch­ten, ihn an Bord zu ziehen. Von unse­rer Seite aus schlu­gen einige Leute auf die Vopos ein, ich versuchte mit einem Freund, das Boot mit Stan­gen vom Ufer wegzu­drän­gen. Endlich konnte jemand den Mann aus dem Wasser ziehen, nun war auch er in Sicher­heit.

Während der ganzen Aktion wurden wir vom ande­ren Ufer aus beob­ach­tet und von dort sowie vom Boot aus foto­gra­fiert. Den Beam­ten war es wich­ti­ger, die “Grenz­ver­let­zer” zu bekämp­fen, als dem Verun­glück­ten zu helfen. Dieses Erleb­nis hat mich tief getrof­fen und mein Verhält­nis zu den “Orga­nen” der DDR dauer­haft geprägt.
Später rächte ich mich für das Erlebte. Mehr­mals ging ich mit Freun­den nachts neben der Ober­baum­brü­cke runter an die Spree. Wir ließen Bret­ter oder kleine Flöße ins Wasser, auf denen benzin­ge­tränkte Lumpen lagen, die wir anzün­de­ten. Wenn die Grenz­boote zum Löschen kamen, bewar­fen wir sie mit Stei­nen.

Aber es gab auch andere Situa­tio­nen. In mancher Sommer­nacht saßen die Pärchen am Ufer, den Blick auf das schwarze Wasser und den hell erleuch­te­ten Todes­strei­fen, die Hände strei­chel­ten den Part­ner. Wir haben nichts mehr um uns herum wahr­ge­nom­men, küssen, fühlen, ein unauf­fäl­li­ger Orgas­mus, selten wurde man von Spazier­gän­gern gestört. Diese schö­nen Erleb­nisse waren das Kontrast­pro­gramm zur Kälte der Grenz­an­la­gen gegen­über.

Mitte der 1980er Jahren ging ich öfter mal nach Ost-Berlin rüber, weil ich dort Freunde gefun­den hatte. Der Über­gang auf der Ober­baum­brü­cke lag am nächs­ten und so lernte ich ihn auch von innen kennen. Damals stand gleich hinter der Brücke, quer über die gesamte Breite, das zwei­stö­ckige Grenz­ge­bäude. Hier musste ich immer wieder mal zur Kontrolle in einen der klei­nen Räume, in denen nur ein Tisch stand. Auszie­hen, Kontrolle, selbst im Hintern, Klei­dung und Gepäck wurden akri­bisch gefilzt. Manch­mal kam noch ein Verhör dazu, wohin ich wollte, und warum. Es war nicht wirk­lich schlimm, aber immer sehr unan­ge­nehm und eines Tages wurde ich als “uner­wünschte Person” zurück­ge­wie­sen. Bis zum Sommer 1989 war dann Schluss mit Haupt­stadt der DDR.

Als kurz nach der Mauer­öff­nung die Grenz­an­la­gen an der Ober­baum­brü­cke abge­baut wurden, war das ein tolles Gefühl. Plötz­lich stand ich mitten auf der Brücke und niemand konnte mir was. Die beiden Türme waren damals noch im Zustand von 1961, im Krieg beschä­digt, die Dächer fehl­ten. Jemand hatte die Stahl­tür heraus­ge­ris­sen, so konnte ich mit einem Freund nach oben klet­tern. Wir genos­sen den Blick über die Spree, in den Sonnen­un­ter­gang. Ein ande­res Mal nahmen wir Holz mit nach oben und entzün­de­ten dort ein Feuer, es war wie eine riesige Fackel.

Schon bald nach der Wieder­ver­ei­ni­gung sollte die Ober­baum­brü­cke auch für den Auto­ver­kehr geöff­net werden. Vor allem von Kreuz­ber­ger Seite gab es dage­gen heftige Proteste, weil abseh­bar war, dass der Verkehr stark zuneh­men würde. Mehrere Male wurden Barri­ka­den gebaut und ange­zün­det, es gab Blocka­den und Demons­tra­tio­nen, aber vergeb­lich. Die Brücke erhielt eine Komplett­sa­nie­rung, sogar Stra­ßen­bahn­schie­nen wurden einge­baut, und heute ist sie die einzige Auto­ver­bin­dung zwischen Kreuz­berg und Fried­richs­hain. Ruhe findet man hier nicht mehr, selbst die Stra­ßen­seite zu wech­seln ist ein Risiko. An der Ufer­mauer aber spie­len immer noch Kinder und abends sieht man hin und wieder Jugend­li­che, eng umschlun­gen, ohne ihre Umwelt wahr­zu­neh­men. Die Ober­baum­brü­cke ist noch immer eine schöne Kulisse für roman­ti­sche Momente.

ANDI 80

Foto: Roeh­ren­see, 1986. Lizenz

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1 Kommentar

  1. Ich weiss noch genau wie ich 1983 das erste Mal durch Kreuz­berg gelau­fen bin auf der Suche nach dem Berlin das ich bis dahin nur vom Fern­se­hen kannte, mit den Bilder von Haus­be­set­zun­gen und Demos, vom Anhal­ter Bf, Gleis­drei­eck, Mehring­platz, südl. des Engel­be­ckens, Betha­nien, Markt­halle, bis zur Ober­baum­brü­cke. Wenn ich heute an manchen Punk­ten vorbei­komme, ist die Vergan­gen­heit so präsent, dass ich noch manch­mal Gänse­haut bekomme. Ein Lieb­lings­platz in der Stadt ist jetzt beim Engel­be­cken — und Klaus wollte mir noch die Markt­halle zeigen.

    Einige Jahre nach dem letz­ten tödli­chen Unfall wurde ein Alarm­sys­tem am Gröben­ufer instal­liert, das von west­ber­li­ner Rettern betä­tigt werden konnte, damit die DDR-Gren­zer aufmerk­sam wurden. Dann war es erlaubt, die Grenze “zu verlet­zen”. Es hatte sich offen­bar bewährt, denn danach gab es keine tödli­chen Unfälle mehr.
    Das erste Todes­op­fer am Gröben­ufer war lt. Wiki A.Senk. In deiner Daten­bank fehlt die Orts­an­gabe.

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  1. Mädchen aus Ost-Berlin |

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