Ingenieurbaukunst für die Hauptstadt

Berlins Aufstieg zu Deutsch­lands größ­ter Indus­trie­stadt und zur Haupt­stadt ist verbun­den mit der tech­no­lo­gi­schen Entwick­lung der Projek­tie­rung sowie dem reibungs­lo­sen Betrieb eines hoch­mo­der­nen, flächen­de­cken­den Netzes städ­ti­scher Infra­struk­tur: Eisen­bah­nen, Bahn­höfe, Stra­ßen­bah­nen, S- und U‑Bahnen, natür­lich das von Hobrecht entwor­fene Stra­ßen­sys­tem und nicht zuletzt Anla­gen der Ver- und Entsor­gung, also Gas, Wasser, Abwas­ser, Elek­tri­zi­tät. Ohne die nütz­li­chen Inge­nieur­künste des 19. und frühen 20. Jahr­hun­derts wären das rasante Wirt­schafts- und Bevöl­ke­rungs­wachs­tum und vor allem ein trotz oft beeng­ter Verhält­nisse von Seuchen und Epide­mien freies Stadt­le­ben nicht denk­bar gewe­sen. Trans­port, Vertei­lung, Versor­gung in der sich rasch ausdeh­nen­den Mehr­mil­lio­nen­me­tro­pole wären zusam­men­ge­bro­chen.

Die bloße Betrach­tung der Einwoh­ner­ent­wick­lung Berlins (in den Gren­zen von 1920) macht die Dyna­mik dieses Prozes­ses deut­lich:
Jahr:      Einwoh­ner:
1825:     251.000
1852:     511.000
1871:     931.000
1880:     1,321 Mill.
1900:     2,712 Mill.
1913:     4,026 Mill.

Die verhee­ren­den Lebens­ver­hält­nisse explo­die­ren­der Millio­nen­städte ohne ausrei­chende stadt­tech­ni­sche Infra­struk­tur kann man heute in den Städ­ten der Drit­ten Welt beob­ach­ten.

Berlins Stadt­bild war bis zu seiner Zerstö­rung durch die Bomben des Zwei­ten Welt­krie­ges und mehr noch durch die anschlie­ßende Abriss­ent­schei­dung von Poli­tik und Planung geprägt durch groß­ar­tige Inge­nieur­bau­werke, die “Kathe­dra­len der Tech­nik”: die Fern­bahn­höfe, die inner­städ­ti­schen Gaswerke mit ihren riesi­gen Gasbe­häl­tern, die Kraft­werke, die hoch­lie­gende Stadt­bahn und hunderte von Stra­ßen- und Eisen­bahn­brü­cken, die Brücken über die Spree, die Anlage des Ost- und West­ha­fens etc.
Wesent­li­che Voraus­set­zung für das Entste­hen dieser großen Tradi­tion städ­ti­scher Inge­nieur­bau­ten war die Zusam­men­ar­beit von Inge­nieu­ren und Archi­tek­ten. Grund­lage für diese Zusam­men­ar­beit war das gemein­same Ziel, eine auf die Funk­tion und gestal­te­ri­schen Ansprü­che der Bauauf­gabe ange­mes­sene Inge­nieur­lö­sung zu finden. Dies bedeu­tete nie die Reduk­tion der Archi­tek­ten­ar­beit auf deko­ra­tive Elemente, sondern die Zusam­men­ar­beit zweier sich im 19. Jahr­hun­dert als selb­stän­dige Diszi­pli­nen etablie­ren­der Berufe.

Exem­pla­risch für solche Zusam­men­ar­beit sind die sieben zwischen 1866 und 1880 gebau­ten großen Berli­ner Fern­bahn­höfe, die mit ihren zahl­rei­chen Brücken, den Viaduk­ten, das Berli­ner Stadt­bild bis in die Nach­kriegs­zeit hinein präg­ten. Beson­dere Berühmt­heit erlang­ten der Anhal­ter und der Stet­ti­ner Bahn­hof, weil ihre spezi­fi­sche Konstruk­tion und Gestalt zu ihrer Zeit als vorbild­lich galt. Der Stet­ti­ner Bahn­hof, 1876 von Theo­dor Stein gebaut, über­nahm erst­mals in der Bahn­hofs­ge­schichte die Binder­form des Hallen­da­ches bis in den Giebel des zur Stadt gewand­ten Kopf­baues. Der 1860 von Franz Schwech­ten errich­tete Anhal­ter Bahn­hof galt mit der 43 Meter hohen Halle als höchs­tes Bahn­hofs­ge­bäude der Welt. Die Halle war mit 60,72 Meter Abstand zwischen den Wänden brei­ter als die Straße Unter den Linden mit ihren 56 Metern.

Auch die älte­ren Berli­ner Bahn­höfe, so der Görlit­zer Bahn­hof, der Schle­si­sche Bahn­hof und schließ­lich der Pots­da­mer Bahn­hof waren sämt­lich zu ihrer Zeit bemer­kens­werte Doku­mente inge­nieur­bau­künst­le­ri­scher Leis­tung. Bei ihren Bauten wurde der Zwie­spalt zwischen Archi­tek­ten und Inge­nieu­ren über­wun­den. Die Archi­tek­ten hatten gelernt, mit den neuen Mate­ria­lien (Stahl) und den durch sie ermög­lich­ten leich­ten, weit­ge­spann­ten Konstruk­tio­nen krea­tiv umzu­ge­hen.
Die Zusam­men­ar­beit großer Archi­tek­ten und Inge­nieure wirkte sich auch auf die Indus­trie­bau­ten der AEG, von Siemens oder Borsig und auf die moder­nen Büro­bau­ten von Mendels­ohn, Max Taut oder Gren­an­der und nicht zuletzt auf die Waren­häu­ser aus. Erin­nert sei an die großen Licht­höfe in Messels Waren­haus am Leip­zi­ger Platz oder an den Licht­hof von Cremer und Wolf­fen­stein des Tietz-Waren­hau­ses am Alex­an­der­platz.

Die meis­ten Doku­mente archi­tek­to­ni­schen und inge­nieur­tech­ni­schen Fort­schritts wurden vom Krieg zerstört oder danach abge­ris­sen, weil sie wegen des stadt­tech­ni­schen Fort­schritts nicht mehr gebraucht wurden. Dies trifft zu für die großen Gasbe­häl­ter, einige Kraft­werke und Umspann­werke. Andere stadt­bild­prä­gende Inge­nieur­bau­ten insbe­son­dere der Eisen­bahn­in­fra­struk­tur und Brücken über die Spree wurden in einem Akt heute nur noch schwer nach­voll­zieh­ba­rer Selbst­zer­stüm­me­lung abge­ris­sen oder sträf­lich vernach­läs­sigt. Ein beson­de­res Kapi­tel nach­läs­si­gen Umgangs mit stadt­bild­prä­gen­der Inge­nieur­bau­kunst sind die zusam­men mit der Entwäs­se­rung gebau­ten Berli­ner Stra­ßen mit ihren brei­ten Bürger­stei­gen, Baum­pflan­zun­gen, soli­den Bord­stei­nen. Die Nach­kriegs­jahr­zehnte Berlins sind vor allem geprägt durch den auto­ori­en­tier­ten Stra­ßen­bau, für den tiefe Schnei­sen in die Stadt­struk­tur geschla­gen wurden. Schlanke, auf die Geschwin­dig­keit des Fahr­zeugs abge­stellte Kurven, lieb­lose Baum­pflan­zun­gen in Abstands­grün­flä­chen, über­di­men­sio­nierte Fahr­bah­nen kenn­zeich­nen die ästhe­ti­schen Verwüs­tun­gen des vorhan­de­nen Stra­ßen­pro­files, später auch Einbau­ten der Verkehrs­be­ru­hi­gung mit Aufpflas­te­run­gen und Poller- und Kübel­baum­land­schaf­ten. Als neue Aufgabe für Inge­nieure kam in den 1960er Jahren der Bau von Stadt­au­to­bah­nen hinzu.

Spätes­tens mit der Wieder­ver­ei­ni­gung voll­zieht sich bei der Planung von Inge­nieur­bau­wer­ken eine Akzent­ver­schie­bung. Die Stadt ist sich ihrer Verant­wor­tung für den Erhalt, die Erneue­rung und für anspruchs­volle, neue Leis­tun­gen der Inge­nieur­bau­kunst bewusst. Vorhan­de­nes wird gepflegt, verfal­lene Brücken und Bahn­bau­ten werden aufwän­dig saniert oder moder­ni­siert. Neue Bauwerke werden im Bewusst­sein der Bedeu­tung der Inge­nieur­bau­werke für die Gestalt der Stadt regel­mä­ßig in enger Zusam­men­ar­beit von Inge­nieu­ren und Archi­tek­ten entwor­fen, in eini­gen Fällen wurden Wett­be­werbe durch­ge­führt. Dies gilt für die neuen Fern­bahn­höfe in Span­dau, am Gesund­brun­nen und für den Lehr­ter Kreu­zungs­bahn­hof sowie für den Regio­nal­bahn­hof am Pots­da­mer Platz. Exem­pla­risch gestal­tet sich die Zusam­men­ar­beit bei der neuen U‑Bahn zwischen Alex­an­der­platz und Lehr­ter Bahn­hof, ähnlich bei den zahl­rei­chen Brücken über die Spree, die Havel und die Berli­ner Kanäle. Dies gilt schließ­lich auch für die Inge­nieur­bau­ten der neuen Stra­ßen und Auto­bah­nen mit ihren Tunnel- und Über­wurf­bau­wer­ken.

Wesent­li­che Voraus­set­zung für die Reali­sie­rung des Anspru­ches, die großen Tradi­tio­nen städ­ti­scher Inge­nieur­bau­ten fort­zu­set­zen oder weiter­zu­ent­wi­ckeln, ist die von der Senats­bau­ver­wal­tung forcierte Zusam­men­ar­beit von Inge­nieu­ren und Archi­tek­ten. Bei Wett­be­wer­ben ist sie grund­sätz­lich Pflicht. Grund­lage für eine erfolg­rei­che Zusam­men­ar­beit ist das gemein­same Ziel, ein dem spezi­fi­schen Ort in der Stadt und der Funk­tion ange­mes­se­nes Inge­nieur­bau­werk zu entwer­fen, sowie die Akzep­tanz der berufs­spe­zi­fi­schen Aufga­ben­stel­lung. Dies bedeu­tet auf keinen Fall die Reduk­tion der Archi­tek­ten­ar­beit auf deko­ra­tive Elemente. Der Entwurf eines städ­ti­schen Inge­nieur­bau­werks erfor­dert viel­mehr für alle Dimen­sio­nen ganz­heit­li­ches Denken. Jeder will­kür­li­che Verlust an konstruk­ti­ver Ordnung endet nicht in Inge­nieur­bau­kunst, sondern in post­mo­der­nem Kitsch. Auch dafür gibt es in Berlin sehens­werte Beispiele. Exem­pla­risch wurde der hohe Anspruch einge­löst bei den Bahn­hofs­bau­ten der Fern­bahn, zum Beispiel in der engen Zusam­men­ar­beit zwischen dem Hambur­ger Archi­tek­ten von Gerkan und dem Stutt­gar­ter Inge­nieur Prof. Jörg Schlaich. Ihre auf Leich­tig­keit, Trans­pa­renz und Mini­mie­rung des Mate­ri­al­ein­sat­zes zielende Entwurfs­phi­lo­so­phie beein­flusste sowohl den Span­dauer Fern­bahn­hof und den Lehr­ter Bahn­hof als auch die in unmit­tel­ba­rer Bezie­hung zu diesen Bahn­hö­fen stehen­den Eisen­bahn­brü­cken. Ein gelun­ge­nes Beispiel für die enge Zusam­men­ar­beit städ­ti­scher U‑Bahn-Inge­nieure, frei­schaf­fen­der Archi­tek­ten und dem Betrei­ber BVG sind die Entwürfe für die neuen U‑Bahnhöfe der U5. Bei aller Unter­schied­lich­keit der Archi­tek­tur­spra­chen domi­niert bei den neuen Bahn­hö­fen Sach­lich­keit und Groß­zü­gig­keit, der Anspruch der Kunden­freund­lich­keit sowie der Versuch, möglichst viel Tages­licht in die unter­ir­di­schen Bahn­höfe zu lenken. Dies war auch das Prin­zip, das die Archi­tek­ten Hilmer & Satt­ler bei ihrem Entwurf für den höchst komple­xen unter­ir­di­schen Pots­da­mer Regio­nal­bahn­hof leitete. Der archi­tek­to­ni­sche Ausdruck des Anspru­ches, Tages­licht in den Bahn­hof zu brin­gen, stand im Zentrum der Entwurfs­idee der beiden ober­ir­di­schen Eingangs­bau­werke.

Ein Beispiel für eine gelun­gene Zusam­men­ar­beit von Archi­tek­ten und Inge­nieu­ren ist auch der Gestal­tungs­ent­wurf für die Stra­ßen und Plätze im Bereich des Potsdamer/Leipziger Plat­zes. Damit die Quali­tät der Gestal­tung der öffent­li­chen Räume sich mit der priva­ter Hoch­bau­ten messen kann, wurde von den Archi­tek­ten Heinz und Jahnen ein Gestal­tungs­plan erar­bei­tet, in dem vom Bord­stein über die Mate­ri­al­wahl bis zur Erstel­lung der Beleuch­tung Aussa­gen getrof­fen werden. Die Ziele für diesen Plan sind Einfach­heit, Klar­heit, Iden­ti­tät, die Verwen­dung tradi­tio­nel­ler Berli­ner Mate­ria­lien und eine auf den Zweck hin ausge­rich­tete mini­mierte Ausstat­tung, bei der die späte­ren Benut­zer im Vorder­grund stehen und nicht die Archi­tek­tur der Stra­ßen­mö­bel. Die Erar­bei­tung des Regel­werks war kompli­ziert, weil sie sowohl städ­te­bau­li­che als auch hoch entwi­ckelte verkehr­li­che Vorga­ben und Vorschrif­ten zu berück­sich­ti­gen hatte.
Die deli­ka­teste Aufga­ben­stel­lung für Archi­tek­ten ist die Gestal­tung von Tunneln und Brücken der Auto­bahn. Wie schwer oder proble­ma­tisch ein solcher Anspruch umzu­set­zen ist, lässt sich am Beispiel der Gestal­tung der Tunnel­bau­werke im Tier­gar­ten­be­reich und bei dem Gutach­ter­ver­fah­ren zur Gestal­tung der Auto­bahn im Süd-Osten Berlins doku­men­tie­ren. Da die im Span­nungs­feld von Inge­nieur­bau, Archi­tek­tur, Städ­te­bau und Bewäl­ti­gung des moto­ri­sier­ten Massen­ver­kehrs stadt­pla­ne­risch unglück­li­che Tras­sen­füh­rung paral­lel zum Teltow­ka­nal bereits fest­stand, konnte es nur noch darum gehen, ein lärmen­des und große Flächen bean­spru­chen­des Bauwerk so in die Stadt­land­schaft einzu­fü­gen, dass für die Anwoh­ner das Leben erträg­lich bleibt. Dass selbst unter diesen Bedin­gun­gen noch eini­ges repa­ra­bel ist, zeigt der Entwurf des Hambur­ger Archi­tek­ten Burck­hardt.

“Berlin ist nicht, sondern dazu verdammt immer­fort zu werden”, so eine heute wieder aktu­elle Fest­stel­lung von Karl Scheff­ler (1910). Will man nicht der Belie­big­keit das Wort reden, wirft der Verweis auf den perma­nen­ten Wandel zugleich die Frage nach der iden­ti­täts­stif­ten­den Konti­nui­tät auf. Worin liegen die Elemente der gestal­te­ri­schen Iden­ti­tät, an die die neue Entwick­lung anknüp­fen kann? Diese Frage rich­tet sich nicht nur an die Archi­tek­tur der Hoch­bau­ten, sondern auch an die Inge­nieur­bau­werke.

Dr. Hans Stim­mann
Aus: FOYER, Maga­zin der Stadt­ver­wal­tung für Bau- und Wohnungs­we­sen
Foto: Der alte Lehr­ter Bahn­hof, 1879

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Zufallstreffer

3 Kommentare

  1. Vielen Dank für den Arti­kel, Aro — und auch mal wieder einen Pauschaldank für diese anre­gende Inter­net­seite!

    Dass von Hobrecht wesent­lich mehr als das Radi­al­sys­tem stammt, wusste ich noch nicht. Die Zeit­schrift “Foyer” hatte ich einige Jahre bis zu ihrer Einstel­lung abon­niert. Weisst du, ob es etwas Vergleich­ba­res gibt, gedruckt oder im Inter­net? Beim googeln nach dem Begriff habe ich nichts Brauch­ba­res entdeckt.

    • Die Frage kann ich Dir leider nicht beant­wor­ten.
      Ansons­ten, was Hobrecht betrifft, wird er tatsäch­lich unter­be­wer­tet. Er hat die letz­ten 150 Jahre städ­te­bau­lich so stark geprägt, wie kaum jemand ande­res. Dass dafür nur zwei Neben­stra­ßen an ihn erin­nern, ist eigent­lich schade.

  2. James Hobrecht hat mit seiner Städ­te­pla­nung aller­dings auch gewisse Voraus­set­zun­gen für die typi­sche Miets­ka­serne geschaf­fen. Die Hobrecht’sche Planung und ihre baupo­li­zei­li­chen Folgen hat viele Jahre später auch dafür gesorgt, dass es im Bomben­krieg zu keinem Feuer­sturm wie in Hamburg und ande­ren Städ­ten kam (Ausnahme 3.2.1945 lokal in Kreuz­berg). Erin­nern möchte ich auch an Hein­rich Seidel, dem Entwer­fer der Kuppel des “Anhal­ters”, der neben­bei auch Schrift­stel­ler war (“Lebe­recht Hühn­chen”).

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