Im Haag

620 km. Blühende Land­schaf­ten

Was wird er gefühlt haben, als er zum ersten Mal in die Nieder­lande kam? Er wird ja wohl vorbe­rei­tet gewe­sen sein. Es gab Bücher und Gemälde. Sicher haben ihm Diplo­ma­ten das Land beschrie­ben. Er war vier­zehn Jahre alt, wie ich bei meinem ersten Schü­ler­aus­tausch mit England; da ist man neugie­rig und offen. Aber der Unter­schied zwischen seiner Heimat und den Nieder­lan­den war krass.

Er sollte einmal das Kurfürs­ten­tum Bran­den­burg erben, ein hoff­nungs­los verschul­de­tes, verwüs­te­tes Land. Eigent­lich nur Sand. Hier und da regel­rechte Wander­dü­nen, meis­tens trocke­ner Sand, der durch spär­li­che Nadel­wäl­der notdürf­tig am Wegflie­gen gehin­dert wurde. Mich depri­miert das noch heute, wenn ich von Magde­burg nach Berlin und weiter nach Osten fahre. Acker­land sieht man kaum, Kühe nirgends. Immer­hin kann man das Ganze dank Auto- oder Eisen­bahn schnell hinter sich brin­gen.

Wer sich die Reise nicht antun will, kann im Inter­net finden, wie Rainald Grebe singt: „In Bran­den­burg, in Bran­den­burg ist wieder jemand gegen einen Baum gegurkt. Was soll man auch machen mit sieb­zehn, acht­zehn in Bran­den­burg?“ In Holland studie­ren und eine Oranie­rin heira­ten, möchte man raten. Grebes demo­ti­vie­ren­des, aber tref­fen­des Lied endet: „Wenn man zur Ostsee will, muss man durch Bran­den­burg.“ So war es auch damals; aber unser Fried­rich Wilhelm sollte es nicht dabei belas­sen und seinem Kurfürs­ten­tum ein paar Ostsee­hä­fen einver­lei­ben. Die gehö­ren nun zu Meck­len­burg-Vorpom­mern. Aber ich greife vor.

Wo es nicht zu trocken war, war es damals sump­fig. Es gab kaum Verkehrs­wege, keine Seehä­fen, darum keine Flotte und schon gar keine reichen Kolo­nien in Über­see. Sand birgt keine Boden­schätze wie das Erzge­birge des uner­mess­lich reichen säch­si­schen Nach­barn. Ein Groß­teil der Dörfer war durch den damals noch nicht drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg geplün­dert und verbrannt, und die Menschen, die das und die Seuchen über­lebt hatten, waren erschöpft und ohne Hoff­nung. Dieses Land würde ihm demnächst gehö­ren.

Und dann Holland: saftige Weiden mit gesun­den Kühen; frucht­ba­res, wohl­be­stell­tes Acker­land; über­all Kanäle, auf denen alles Mögli­che trans­por­tiert werden konnte. Und für Bran­den­bur­gi­sche Verhält­nisse unvor­stell­bar dicht beiein­an­der reiche, stolze Städte mit einem selbst­be­wuss­ten Rathaus mit Frei­treppe an der einen Seite des Markt­plat­zes und einer großen Kirche mit Glocken­spiel an der ande­ren. Gouda, Leiden, Delft, Amster­dam, Haar­lem, Middel­burg, um nur einige zu nennen. Über­all immer wieder Glocken­spiele. Grach­ten mit schö­nen Häusern wohl­ha­ben­der Menschen. Nur die Trep­pen waren schmal und steil.

Hier blüh­ten Wissen­schaft und Lite­ra­tur. Musik wurde kompo­niert und gespielt. Skla­ven­han­del und Ausbeu­tung von Kolo­nien trüb­ten das Bild nicht, weil unsicht­bar. Das Goldene Zeit­al­ter. Er studierte in Leiden und lernte wie Peter der Große das Schiff­bau­er­hand­werk in Amster­dam.

Beson­ders reich und vornehm war es im Haag mit seinen Schlös­sern und dem alten Binnen­hof. Hier sollte er seine zukünf­tige Frau kennen­ler­nen: Louise Henri­ette von Oranien. Hier freun­dete er sich auch an mit Moritz von Nassau, von dem wir noch hören werden. Sein Maurit­shuis neben dem Binnen­hof ist nun eines der bedeu­tends­ten Museen.

Was hätten Sie an der Stelle des Kurprin­zen gemacht? Ehrlich gesagt, ich wäre in tiefe Hoff­nungs­lo­sig­keit verfal­len, hätte mir mein Erbteil des Staats­schat­zes auszah­len lassen und ein nettes Palais in Wien gekauft, um dort mit ein paar Dienern zu leben und Bran­den­burg zu verges­sen. Für Wein und Musik hätte es wohl gerade noch gereicht.

Er aber, Fried­rich Wilhelm von Hohen­zol­lern, jung wie er war, ließ sich nicht entmu­ti­gen, und damit fing alles an. Darum sollte man ihn später den Großen Kurfürs­ten nennen.

Er kehrte als Sechs­und­zwan­zig­jäh­ri­ger noch einmal nach Holland zurück, um Louise Henri­ette zu heira­ten. Gemälde zeigen einen gut ausse­hen­den jungen Mann in Klei­dern, wie sie hollän­di­sche Bürger trugen. Erst später wurde er fett und bräsig.

Fried­rich Wilhelm und Louise Henri­ette verstan­den sich nicht nur gut, sie waren sich auch einig, dass sie in Bran­den­burg ein Vernie­der­land­i­sie­rungs­pro­gramm durch­füh­ren würden, um das Land zum Blühen zu brin­gen. Nieder­län­di­sches know how auf den Gebie­ten von Wasser­bau, Festungs­bau, Verwal­tung, Handel und Land­wirt­schaft. Nieder­län­di­sche Menschen, um es mitzu­brin­gen und zu verbrei­ten.

Eines war diesem Ehepaar klar, und damit unter­schied es sich von den meis­ten Menschen seiner Zeit: der Wohl­stand der Nieder­lande war gebaut auf Tole­ranz und Aufklä­rung. Ohne beides bekommt man nicht die nöti­gen Leute, ohne beides entsteht wenig Neues in den Wissen­schaf­ten. Und wenn Nieder­län­der ins Land kommen würden, würde hoffent­lich nicht nur ihr Wissen über­nom­men, sondern auch diese neuen Normen und Werte. Natür­lich nur, wenn die Kurfürst­li­che Fami­lie sie auch vorlebt.

Der nieder­län­di­sche Wohl­stand war auch gebaut auf Kolo­nien und Skla­ven­han­del. Das ließ sich, wie wir wissen, nicht erfolg­reich auf Bran­den­burg über­tra­gen.

Der moderne preu­ßi­sche Staat, aber auch die bran­den­bur­gi­sche Land­schaft mit ihren Kanä­len, das anti­au­to­ri­täre Berlin und die Berli­ner Schnauze indes sind ohne jahr­hun­der­te­lange nieder­län­di­sche Einflüsse kaum denk­bar. Man findet sie in Bran­den­burg und Berlin über­all, wenn man erst einmal darauf achtet. Hier im Haag hat sich das einge­fä­delt.

Femi­nis­tisch korrekt müsste man heute vom Großen Kurfürs­tIn­nen­paar schrei­ben und genau darauf achten, wie viele Denk­mä­ler und Brief­mar­ken die eine bzw. der andere bekommt.

Viel­leicht hat nicht Fried­rich Wilhelm, sondern Louise Henri­ette den Gedan­ken gehabt, durch das sump­fige Gelände einen Knüp­pel­damm bauen zu lassen, damit man nach Pots­dam kommt, ohne im Schlamm zu versin­ken. Kurfürs­tin­nen­damm? Dass man Frauen über den Beruf ihres Mannes defi­niert, ist auch verwerf­lich. Außer­dem wissen wir es nicht. Wenn der Kurfürs­ten­damm in Kreuz­berg läge und heute benannt werden müsste, würde er Louise-Henri­ette-Fried­rich-Wilhelm-Damm heißen müssen, ähnlich wie es vor dem Jüdi­schen Museum mit Moses Mendels­sohn ging.

Warum der Kurprinz keine Braut im eige­nen Lande fand? Seine Fami­lie hatte strenge Regeln, welches Mädchen ein Junge heira­ten darf: Die Reli­gion muss stim­men; protes­tan­tisch oder notfalls russisch-ortho­dox, keines­falls katho­lisch. Das soziale Niveau muss stim­men: eine Toch­ter eines regie­ren­den Fürs­ten. Weil das schon immer so war, waren alle Fürs­ten­häu­ser mitein­an­der verwandt. Fried­rich Wilhelm war ein Berli­ner, der mehr oder weni­ger zwangs­ver­hei­ra­tet wurde mit einer entfern­ten auslän­di­schen Kusine der rich­ti­gen Reli­gion. Damals gab es das also auch schon. Diese Heirat hat Bran­den­burg und damit später Preu­ßen und noch später Deutsch­land viel Gutes gebracht.

Liebe Eltern, die ihr Zwangs­ehen für eure Söhne regelt, liebe Söhne mit Import­bräu­ten: Macht was draus!

Dass der Vier­zehn­jäh­rige in die Nieder­lande geschickt wurde, lag daran, dass er dort einen Groß­on­kel hatte. Eine Zaren­toch­ter wäre auch als Braut in Betracht gekom­men. Schwer vorstell­bar, wie es dann im heuti­gen Deutsch­land ausse­hen würde, ohne die dama­lige Vernie­der­land­i­sie­rung. Zumin­dest stünde dann wohl über­all in Deutsch­land Soljanka auf der Spei­se­karte, nicht nur wie heute in den neuen Bundes­län­dern.

Der Sohn des großen Kurfürs­ten erbte dann sogar den Titel Prinz von Oranien, und in den Nieder­lan­den musste aus Oppor­tu­nis­mus eine Kopie dieses Titels geschaf­fen werden. Bis heute gibt es drei Prin­zen von Oranien: den Erben des heuti­gen Hauses Oranien-Nassau, den Erben des Hauses Hohen­zol­lern und den Erben des fran­zö­si­schen Marquis, dem Ludwig XIV. den Titel des Fürs­ten­tums Oranien zuge­spro­chen hatte, nach­dem die Oranier es verlo­ren hatten.

In Berlin gibt es eine Orani­en­straße, einen Orani­en­platz, eine Orani­en­bur­ger Straße und einen unter­ir­di­schen Bahn­hof, der Orani­en­bur­ger Tor heißt. Auf dem Gemälde von der Kaiser­pro­kla­ma­tion 1871 laufen alle mit orange Schär­pen herum. Das hat mit der Vernie­der­land­i­sie­rung zu tun – und mit zwei Wörtern, die zufäl­lig gleich klin­gen:

Das in den Nieder­lan­den herr­schende Haus, eigent­lich aus dem deut­schen Nassau stam­mend, hatte sich nämlich nach dem winzi­gen fran­zö­si­schen Fürs­ten­tum Orange genannt, das es vorüber­ge­hen auch besaß. Fürst oder Prinz von Oranien ist ein höhe­rer Titel als Graf von Nassau. König in Preu­ßen – wir werden in Königs­berg darauf zurück­kom­men – klingt ja auch besser als Kurfürst von Bran­den­burg, egal wie weit weg Orange bezie­hungs­weise Ostpreu­ßen eigent­lich liegt. „Janz weit drau­ßen“, sagt der Berli­ner: jwd.

Tja, und das persi­sche Wort für Apfel­sine klingt nun einmal so wie der Name des fran­zö­si­schen, längst verlo­re­nen Fürs­ten­tums, und die Apfel­sine hat eine auffäl­lige Farbe. Dass diese bei Fußball­hoo­li­gans beliebte Schrei­farbe in der Heral­dik verpönt war, störte die Oranier nicht: sie wurde das Etikett dieses aus Nassau stam­men­den Hauses und damit später auch eine der Farben des Hauses Hohen­zol­lern.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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