Grundmauern in Altlandsberg

25 km. Wohin führt die Lands­ber­ger Allee?

Der Große Kurfürst dage­gen war in den Nieder­lan­den aufge­wach­sen, und das hat ihm und seinem Land gutge­tan, wie wir wissen. Wo lässt nun ein Mann, der sich so bewusst um sein Land kümmert und dem so deut­lich ist, was er seinem Nieder­land-Aufent­halt verdankt, seinen Nach­fol­ger erzie­hen? Ich hätte gedacht: auch in den Nieder­lan­den. Da hat man ja inzwi­schen ein Netz­werk von zuver­läs­si­gen Freun­den und Bekann­ten. Oder zur Abwechs­lung viel­leicht in England mit seinen berühm­ten Univer­si­tä­ten Oxford und Cambridge. Aber der Große Kurfürst schickte seine beiden Söhne zur Erzie­hung nach Altlands­berg, of all places.
Kein Mensch hatte mir je von Altlands­berg erzählt. Nirgendwo hatte ich darüber gele­sen.
In Berlin führt die Schön­hau­ser Allee nach Schön­hau­sen, die Prenz­lauer Allee nach Prenz­lau, die Greifs­wal­der Straße nach Greifs­wald, die Frank­fur­ter Allee nach Frank­furt an der Oder, die Stor­kower Straße nach Stor­kow. Man kennt diese Namen von der Ring­bahn, die diese radia­len Ausfall­stra­ßen kreuzt. Alles hat seinen geogra­phi­schen Sinn. Nur die Lands­ber­ger Allee führt nicht nach Lands­berg, weil es gar kein Lands­berg gibt und nie eines gege­ben hat.
Die Lands­ber­ger Allee führt immer weiter nach Osten, heißt dann Lands­ber­ger Chaus­see, und außer­halb der Stadt­grenze des heuti­gen Berlin heißt sie logi­scher­weise Berli­ner Straße. Wenn man immer weiter fährt, ohne die Hoff­nung aufzu­ge­ben, kommt man irgend­wann nach Altlands­berg. So heißt der Ort nun mal. Auch ein Neulands­berg gibt es nicht. Altlands­berg ist ein Eigen­name, kein Kompo­si­tum.
Doch haben die Berli­ner die Silbe „Alt-“ einfach abge­schafft. Das spart nicht nur drei Buch­sta­ben auf hunder­ten Stra­ßen­schil­dern, es spart auch jedes Jahr Unmen­gen Drucker­schwärze. Denn auf der Lands­ber­ger Allee liegt nicht nur ein Bahn­hof der Ring­bahn; über sie fährt auch eine Stra­ßen­bahn, und die kreuzt etli­che andere Stra­ßen­bahn­li­nien. Insge­samt gibt es wohl hundert Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­len, an denen jeweils zwei Lini­en­pläne und zwei Netz­pläne hängen, auf denen „Lands­ber­ger Allee“ auftaucht, meist sogar mehr­fach. Die müssen bei jeder Fahr­plan­än­de­rung neu gedruckt werden. So braucht man etli­che tausend Mal pro Jahr die Buch­sta­ben „Alt“ nicht zu drucken. Was das allein für das Grund­was­ser bedeu­tet…
Aber damals gab es noch keine Stra­ßen­bahn, und Berlin war viel klei­ner, Altlands­berg also viel weiter weg. Es hat weder die Allure von Amster­dam, Leiden und Den Haag noch die von Oxford und Cambridge. Warum hatte der Große Kurfürst seine Söhne dort erzie­hen lassen? Hatte er viel­leicht die hollän­di­sche Spar­sam­keit über­be­wer­tet?
Nach­dem ich Altlands­berg auf einer einsa­men Radtour zufäl­lig gefun­den hatte, schaute ich es mir genau an.
Erstens gibt es dort eine empfeh­lens­werte Eisdiele. Sie heißt „Eisdiele“, und an warmen Tagen stehen da immer lange Schlan­gen, weil es weit und breit keine andere Eisdiele gibt. Das Eis ist gut und kostet fast nichts. Es geht eben doch, und wenn es geht, geht es sogar beson­ders gut: dass man in Bran­den­burg Eis essen kann. – Aber diese Eisdiele gab es damals bestimmt noch nicht.
Zwei­tens hat Altlands­berg eine mittel­al­ter­li­che Stadt­mauer mit Toren. – Aber die war damals schon hoff­nungs­los veral­tet.
Drit­tens gibt es die Grund­mau­ern eines abge­brann­ten Schlos­ses. – Aber das ganze Schloss gab es damals auch noch nicht.
Disko­the­ken habe ich in Altlands­berg eben­so­we­nig entdeckt wie Gele­gen­hei­ten, wo man Canna­bis, damals Knas­ter genannt, kaufen kann. Was zwei heran­wach­sende Jungs dort eigent­lich sollen, ist mir nach wie vor völlig unklar.
Ganz abge­se­hen von dieser Frage war aber die Erzie­hung dort eine pädago­gi­sche Kata­stro­phe.
Der jüngere der beiden Kurfürs­ten­söhne, Fried­rich, hatte von Geburt an Klump­füße und war klein, dünn und häss­lich. Nach­dem er als Baby auf den Stein­fuß­bo­den gefal­len war, war auch noch eine Schul­ter schief und krumm zusam­men­ge­wach­sen. So ein Kind braucht Liebe, Zuwen­dung, Bestä­ti­gung. Statt­des­sen ließ sein Lehrer ihn Aufsätze schrei­ben, wie es ist, wenn man als Zweit­ge­bo­re­ner nicht zählt, während der Bruder einmal wie die Sonne über Bran­den­burg leuch­ten und von allen bewun­dert werden wird. Jahre­lang wurde dem klei­nen, häss­li­chen Krüp­pel einge­pfef­fert, dass er eigent­lich nichts ist.
Ja, und dann starb der ältere Bruder uner­war­tet an einer Infek­tion, und Fried­rich war auf einmal Kurprinz und wurde Kurfürst, abso­lu­ter Herr­scher über das Land seines Vaters.
Wundert es, dass er unbe­dingt auch noch König werden wollte, notfalls jwd in Ostpreu­ßen? Dass er alles tat, um sich bewun­dern zu lassen? Dass er über­all prot­zige Schlös­ser baute, die zu nichts Nutze waren als zu seinem Ruhm?
Merk­wür­di­ger­weise hat er Altlands­berg nicht gehasst. Sobald er König war, ließ er dort ein Schloss bauen. Sein Sohn Fried­rich Wilhelm I., dem sowieso nur Königs Wuster­hau­sen gefiel, hatte das dann schnells­tens vermie­tet, der Enkel Fried­rich II. verkaufte es gar. Beide verach­te­ten Fried­rich I. ja. Nirgendwo fühlt man das deut­li­cher als hier, denn nach dem Verkauf dieses Erbstü­ckes ließ ein eitler Amtmann das Schloss reno­vie­ren, weil er dort gern seine Hoch­zeit feiern wollte, und dabei brannte es ab. Seit­her kann man die Grund­mau­ern bewun­dern.
Doch ist Altlands­berg heute attrak­ti­ver als Kossen­blatt. Man kann von Berlin zum Beispiel mit der S‑Bahn nach Straus­berg Nord fahren und dann mit dem Rad genau nach Westen nach Altlands­berg. Die ersten Kilo­me­ter geben einen Eindruck von den endlo­sen Bran­den­bur­ger Wäldern. Die letz­ten paar hundert Meter sind offen und zeigen, wie schön das Land sein kann. Und außer der Eisdiele gibt es im Ort auch noch ein gutes Wild­ge­schäft, auch wenn das nur stun­den­weise geöff­net hat. Radelt man dann nach Süden, erreicht man nach eini­gen Kilo­me­tern und einer absur­den Stra­ßen­füh­rung in Neuen­ha­gen wieder die S‑Bahn.
Drei Gene­ra­tio­nen Prin­zen­er­zie­hung in der Ferne: Holland, Altlands­berg, Wuster­hau­sen. Fried­rich Wilhelm I. durch­brach diese Linie und kümmerte sich höchst­per­sön­lich um die Erzie­hung seines Kron­prin­zen. Das war die schlimmste pädago­gi­sche Kata­stro­phe von allen.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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