Engel und Michael

In seiner Jugend, sagt Detlef Prinz, hat er mit den Gold­fi­schen im Engel­be­cken gespielt. Etwas Brack­was­ser steht in diesem Rest des alten Luisen­städ­ti­schen Kanals noch; der weite Ort, in den der Hein­rich-Heine-Platz über­geht, ist ein charak­te­ris­ti­scher Teil der Berli­ner Innen­stadt-Wüste, aus der sich die neue Stadt in post­mo­der­ner Unent­schlos­sen­heit erhebt. Am nörd­li­chen Plat­zende — man kann nicht sagen: erhebt sich — die Michael­kir­che; das am meis­ten passende Verbum ist: sie ruht. Sie zitiert eine Stadt­epo­che, die vorüber ist. Wenn man sich die Zeit lässt, ahnt man, wie die Stadt viel­leicht war, als Meis­ter Fontane diese Kirche die schönste Kirche Berlins nannte.

Die Weit­räu­mig­keit des Plat­zes, den man eigent­lich kaum einen Platz nennen möchte (viel­leicht wie in Paris das Mars­feld — ein Feld?), verbin­det Endgül­ti­ges und Vorläu­fi­ges. Ecke Leusch­ner-/Engel­damm steht ein Haus, das den post­mo­der­nen Versu­chen gegen­über zeigt, was die Moderne war. Auf dem Dach flat­tert eine Fahne, deren Rot im Buch­sta­ben­em­blem verblasst: ÖTV; das ist jetzt der Berli­ner Sitz der konser­va­ti­ven Gewerk­schaft der Staats­an­ge­stell­ten. Das Haus steht in den Werk­ka­ta­lo­gen von Bruno Taut, seine charak­te­ris­ti­schen Insi­gnien, die Eckrun­dung und die brei­ten Bänder unter den Fens­ter­rei­hen, sind von Max Taut, der den Bau 1927 für den Deut­schen Trans­port­ar­bei­ter-Verband als ein brüder­li­ches Werk voll­endet hat. Fünf Jahre zuvor hatte nebenan, im alten Gewerk­schafts­haus Engel­ufer 24, vor dem damals noch das Wasser des Luisen­städ­ti­schen Kanals floss, Ernst Thäl­mann ausge­ru­fen: “Eine kapi­ta­lis­ti­sche Regie­rung wird sich niemals gegen den Kapi­ta­lis­mus aufbäu­men, weil sie ja selbst kapi­ta­lis­tisch ist”. Damit meinte er eine Regie­rung der Weima­rer Koali­tion, der für die SPD der größte deut­sche Jurist dieses Jahr­hun­derts, Gustav Radbruch ange­hörte; Walt­her Rathenau war Mitglied dieser Regie­rung gewe­sen, vor zehn Wochen war er von rassis­ti­schen Natio­na­lis­ten ermor­det worden: zwei­fel­los ein Kapi­ta­list, aber schmerzt es nicht, ihn ange­sichts des Hasses von Rechts geschmäht zu sehen von einem, den diesel­ben Feinde auch bereits auf den Proskrip­ti­ons­lis­ten führ­ten?

Wer von hier aus über das weite Feld blickt, empfin­det die Vergeb­lich­kei­ten der deut­schen Demo­kra­tie-Geschichte. Nach Legien und Leusch­ner heißen die beiden Stra­ßen, die das Engel­be­cken begren­zen. Carl Legien, gelern­ter Drechs­ler wie Bebel, Vorsit­zen­der der Gene­ral­kom­mis­sion der Gewerk­schaf­ten Deutsch­lands, hatte gerade noch recht­zei­tig zu dem Gene­ral­streik aufge­ru­fen, der 1920 die Regie­rung der Demo­kra­tie vor dem Kapp-Putsch rettete. Als die geret­tete Demo­kra­tie Legien die Kanz­ler­schaft antrug, sagte er nein. Die Gewerk­schaf­ten vor einem “Links­ruck” zu bewah­ren, schien ihm wich­ti­ger. Wenige Wochen später starb er. Vor dem Putsch Hitlers — aber der musste gar nicht putschen, ihm ergab sich die Repu­blik regel­recht — rettete die Demo­kra­tie auch Wilhelm Leusch­ner nicht, der Gewerk­schafts­füh­rer, der nun der Straße an der West­seite des Feldes den Namen gibt. 1944 ermor­dete ihn der Volks­ge­richts­hof. Der Legien-Nach­fol­ger Theo­dor Leipart über­lebte, er hatte versucht, die Gewerk­schaf­ten gegen Hitler durch eine Poli­tik der Anpas­sung zu retten; nach ihm heißt hier keine Straße; er endete in der SED.

Man hätte der Straße, die hier die Stra­ßen der beiden Gewerk­schafts­füh­rer mitein­an­der verbin­det und jetzt Engel­damm heißt, weil — wie gesagt — kein Wasser mehr da ist, dass sie Engel­ufer heißen könnte wie früher, den Namen lassen können, den die DDR ihr gege­ben hatte. Dieser Staat hatte die Straße nach Fritz Heckert benannt. Das war auch ein Gewerk­schafts­füh­rer, Anti­fa­schist, ein Spanien-Kämp­fer, Tod 1936. Mehr Fehler sind ihm nicht anzu­las­ten als denen, die von Norden nach Süden hier den Gewerk­schafts­stra­ßen die Namen geben. “Die refor­mis­ti­sche Poli­tik führt dazu (…), dass die Gewerk­schafts-Bewe­gung letz­ten Endes zertrüm­mert wird und der Faschis­mus siegt”, sagte er 1927; ich zitiere es als Beweis dafür, dass die, die jetzt aus der Berli­ner Stra­ßen­ge­schichte gelöscht werden, gera­deso in sie hinein gehör­ten, wie andere, deren Fehler mit den Stra­ßen­schil­dern zuge­deckt werden. “Dort wo die Palmen wach­sen, bin ich ein ehrli­cher Mann.”
Wer gegen­über Heckert der Engel war, der hier an der Michael­kir­che und dem Mari­en­stift nun wieder figu­riert und eine “Engel-Sauna” hervor bringt, welche himm­li­sche Gefühls­auf­schwünge verspricht, das weiß ich nicht, weil ich’s gerade nicht wissen will, um wählen zu können zwischen einem Statis­ti­ker, einem Archi­tek­ten, einem Prin­zen­er­zie­her, einem Thea­ter-Unter­neh­mer und dem Engel Michael selbst.

Nun stehe ich auf der obers­ten Stufe vor dem verschlos­se­nen Eingang in die Michael­kir­che. Die Kirche hat etwas von einer italie­ni­schen Burg; der weiße Erzengel auf dem Fassa­den­gie­bel sieht aus wie ein Gondo­liere bei der Arbeit. Der Archi­tekt — er hieß Johann Soller und ist von Schin­kel selbst zum Baumeis­ter geprüft worden — hat da die Wünsche des könig­li­chen Bauher­ren sehr wört­lich genom­men: Fried­rich Wilhelm IV., der die katho­li­sche staat­lich-preu­ßi­scher Welt­an­schau­ungs-Tole­ranz in Auftrag gab, träumte von Vene­dig (der Luisen­städ­ti­sche Kanal war damals in einer Art Arbeits­be­schaf­fungs-Maßnahme gerade ausge­ho­ben worden, wie er 1926 in einer ande­ren Arbeits­be­schaf­fungs-Maßnahme wieder zuge­schüt­tet wurde).

Die Kirche ist im Krieg zerstört. Eigent­lich gibt es sie nicht mehr. Durch geschickte Siche­rungs­maß­nah­men hat man aber ihre Zerstört­heit oder: ihre wieder­ge­won­nene Unvoll­kom­men­heit für eine Art Endzu­stand erklärt. Sie ist ein besse­res Symbol für Berlin als die Gedächt­nis­kir­che am Kudamm den Kauf­tem­peln gegen­über. Der Michael­kir­che hat man bisher nicht versucht, Zeit­geist hinzu­zu­fü­gen. Sie schläft. Sie träumt. Sie ist nicht eifer­süch­tig auf ihre eigene Vergan­gen­heit. Wenn Sie jetzt hinkom­men, sehen Sie mich auf einer Bank im Osten der Kirche, mit dem Rücken zu den Gewerk­schaf­ten, im Schat­ten eines mäch­ti­gen Kasta­ni­en­bau­mes diesen Text schrei­ben.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Wiki­me­dia Commons

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11 Kommentare

  1. Ich lese ja immer wieder gerne hier. Die Spazier­gänge zeigen mir manch­mal auch, dass es eine Zeit gibt, die ich in Berlin wohl komm­plett verpennt habe. So zum Beispiel, dass der Engel­damm mal Fritz-Heckert-Str. hieß. Hieß er wohl noch bis 1991. Laut Luise.
    Und wie hieß die “andere Stra­ßen­seite”?

  2. Das war damals auch schon der Betha­ni­en­damm. Die Straße selber gehörte aller­dings noch zu Ost-Berlin, der Bürger­steig lag aber auf der West-Seite, auch wenn er offi­zi­ell zur DDR gehörte.
    Ein Foto von dieser Stelle findest Du hier:
    http://www.berlinstreet.de/961
    Ab der Hälfte des Arti­kel “spielt” die Geschichte auch genau an dieser Stelle.

  3. Ich habe mir gerade das Foto ange­schaut. Irgend­wie kann ich das nicht glau­ben, dass das erst 20 Jahre her ist. Kommt mir vor wie ein Bild aus einem ande­ren Jahr­hun­dert.

  4. Schö­ner Arti­kel. Beson­ders der letzte Absatz ist wunder­bar und sehr tref­fend geschrie­ben. Ich finde es auch gut, dass die Kirche weder abge­ris­sen noch wieder aufge­baut wurde. In ihrem heuti­gen Zustand lässt sie hier die Kreu­zung verschie­de­ner Zeiten und Welten spür­bar werden.

  5. Bei meinem ersten allei­ni­gen Besuch in “West­ber­lin” 1983 kam ich bei einem “Kreuz­berg­tag” (bei der Suche nach dem aus dem Fern­se­hen bekann­ten alter­na­ti­ven und Haus­be­set­zer-Kreuz­berg) auch an dieser Ecke vorbei. Als ich die Gegend vor 5 Jahren zum ersten Mal nach der Wende wieder erlau­fen habe, kam ein ganz lang­sa­mes Deja vu mit leich­ter Gänse­haut bei der dunk­len Erin­ne­rung an die Zeit vor 27 Jahren. Heute ist es einer meiner Lieb­lings­plätze in der gros­sen Stadt.
    Aber inter­es­sant, dass auch ihr, du und Klaus, das heute als irgend­wie unwirk­lich seht. Spricht dafür, wie sich der Mensch doch an Neues gewöh­nen kann.

  6. Es gibt hier in Berlin so krass viele Plätze, die nicht mehr wieder­zu­er­ken­nen sind, wenn man sie von vor der Mauer­öff­nung vergleicht. Zum Teil ist Berlin heute wirk­lich eine andere Stadt. Auch vom Gefühl her natür­lich.

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