Die Ver-U-Bahnisierung Berlins

In Berlin bauen sie eine neue U‑Bahn. Laut Reklame im Info­cen­ter wird sie “die U‑Bahnlinie mit den meisen Sehens­wür­dig­kei­ten der Haupt­stadt an der Stre­cke sein”. Rührend! Wenn man mit seinem Kind durch den Tunnel führt, kann man sagen: “Hier oben steht der Fern­seh­turm.” – “Wo?” – “Den sieht man nicht. Und hier steht jetzt das Rathaus.” – “Wo denn?” – “Das sieht man auch nicht. Aber jetzt kommt die Mari­en­kir­che.” Das Kind spielt inzwi­schen gelang­weilt mit seinem Smart­phone.

Die BVG rät übri­gens, dass man mit dem Lini­en­bus 100 fahren soll, statt eine teure kommer­zi­elle Stadt­rund­fahrt zu buchen. Zuge­ge­ben: der Bus fährt ober­ir­disch und hat viele Fens­ter. Manch­mal ist es sogar ein Doppel­de­cker. Nur hat die BVG die meis­ten Fens­ter mit Reklame zuge­klebt. Von innen sieht man fast nichts mehr, als blickte man durch eine geschlos­sene Gardine.

Berlin hat eine der schöns­ten Eisen­bahn­stre­cken der Welt. Vom West­kreuz bis Ostkreuz führt die S‑Bahn und die Fern­bahn auf einem Viadukt quer durch die Innen­stadt mit Aussicht auf unwahr­schein­lich viele Sehens­wür­dig­kei­ten: Gedächt­nis­kir­che, Zoo, Spree­schleuse, Tier­gar­ten, Sieges­säule, Schloss Belle­vue, Garten des Bundes­kanz­ler­am­tes, Bundes­kanz­ler­amt, Bran­den­bur­ger Tor, Reichs­tag, Bundes­tags­ge­bäude, Thea­ter am Schiff­bau­er­damm, Monbi­jou­park, Hacke­sche Höfe, Dom, Mari­en­kir­che, Fern­seh­turm, Alex­an­der­platz, ehema­lige ORWO-Glüh­lam­pen­fa­brik und noch viel mehr.

Man hätte diese Stre­cke vor drei Jahren als Welt­kul­tur­erbe anmel­den sollen. Jetzt ist es zu spät. Wo immer es geht, hat man ange­fan­gen, links und rechts lang­wei­lige Büro­häu­ser zu errich­ten. Unge­fähr die Hälfte der Aussicht ist schon verschwun­den, und es wird weiter gebaut. In einem Jahr wird man nur noch dann und wann eine Zehn­tel­se­kunde einen Blick aufs Kanz­ler­amt oder den Reichs­tag erha­schen. Auch auf dem Alex­an­der­platz und weiter östlich wird gebaut.

Wenn alles fertig ist, wird die Fahrt auf dieser Stre­cke einer U‑Bahn-Fahrt ähneln: links und rechts vor den Fens­tern Wände. “Hier, ganz nah, liegt der Kanz­ler­gar­ten; aber den sieht man nicht.” Dabei werden die Wände auf der Muse­ums­in­sel noch zu den schöns­ten gehö­ren.

Diese Eisen­bahn­stre­cke ist kultur­ge­schicht­lich für immer verlo­ren. Sie dient bald nur noch dem Trans­port von Menschen, nicht mehr der Erfah­rung der Metro­pole mit ihrer Archi­tek­tur, genau wie die paral­lel dazu unter­ir­disch verlau­fende neue U5.

Der öffent­li­che Berli­ner Nahver­kehr umfasst auch etli­che Fähren. Mit seiner norma­len Zeit­karte oder einem Einzel­fahr­schein kann man eine halbe Stunde lang quer über Wann­see und Havel fahren: vom S‑Bahnhof Wann­see nach Kladow. Bis 2013 gehörte diese Schiff­fahrt zu den schöns­ten Erleb­nis­sen der Stadt. Das Schiff war in der Mitte über­dacht, am Bug und Heck konnte man aber unter freiem Himmel sitzen. Vor allem am Bug hatte man rundum eine herr­li­che Aussicht, man saß in Wind und Sonne und dann und wann in den Sprit­zern einer Welle. Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön. So schön, dass viele Menschen allein deswe­gen nach Kladow fuhren, denn was will man sonst schon in Kladow? Höchs­tens ein wenig radeln, wenn man schon dort ist. Am Ufer wartete man danach in einem der vier, fünf Garten­lo­kale auf die Rück­fahrt. Manche würden am liebs­ten den ganzen Tag auf der Fähre hin- und herfah­ren; aber das ist verbo­ten. Man muss das Schiff bei Ankunft verlas­sen und sich hinten an der Schlange der Warten­den neu anstel­len. Bei gutem Wetter wurde es manch­mal sehr voll. Nicht immer reich­ten die 25 Stell­plätze für Fahr­rä­der.

Auch das ist Vergan­gen­heit. Seit 2014 gibt es ein neues Schiff. Eigent­lich kein Schiff, sondern eine Art schwim­men­der Butter­dose aus Rauch­glas. Es gibt keine offe­nen Decks mehr. Es gibt nur einen herme­tisch schlie­ßen­den Behäl­ter. In den müssen alle rein. Drin­nen gibt es unwahr­schein­lich viele Stell­plätze für Fahr­rä­der. Wenn schon, denn schon!

In diesem Behäl­ter fühlt man sich wie in einem U‑Bahn-Waggon. Es riecht nur anders. Nicht nach metro­po­li­ta­ner U‑Bahn, sondern stickig nach muffi­gem Kunst­stoff. Man kann kein Fens­ter öffnen, und es ist meist viel zu warm. Es wird einem schon schlecht von dieser Luft, bevor das Schiff abge­legt hat.

Die Fens­ter aus Rauch­glas schüt­zen vor Sonne und Wind und vor der Aussicht. Es sieht drau­ßen dunkel aus, und die Aussicht von hinter einem spie­gelt sich auch noch im Fens­ter vor einem. Zwei halbe Aussich­ten über­ein­an­der statt einer ganzen: im Bild die Insel Imchen und in Spie­gel­schrift der Anle­ger. Die Über­fahrt wird zur Qual. Man hat die Nach­teile einer U‑Bahn-Fahrt ohne deren Vorteile kombi­niert mit einem neuen Nach­teil: der sticki­gen Luft.

Seit 1911 gibt es auch noch eine Ruder­fähre zwischen Rahns­dorf Krug­gasse und Spree­wie­sen. Als 2014 die Abschaf­fung der Ruder­boot-Fähre geplant war, stand in der Wiki­pe­dia: “Die ehema­lige Fähr­li­nie 24 (Spree­wie­sen ↔ Rahns­dorf) über die Müggel­spree, war bis zur Saison 2013 die kleinste der da noch sechs BVG-Fähren, sie war Deutsch­lands einzige Ruder­fähre im Lini­en­be­trieb und wurde mit einem Ruder­boot (Paule III) betrie­ben. Das Boot war drei Meter lang und bot Platz für acht Perso­nen, auch Fahr­rä­der werden beför­dert. Etwa 40 Mal am Tag setzte der Fähr­mann Ronald Kebel­mann die 36 Meter über. Es exis­tierte zwar ein Fahr­plan, aller­dings wurde auch zu ande­ren Zeiten über­ge­setzt, sobald Perso­nen an der Anle­ge­stelle stehen. Das hatte sich seit 1911, als der Rahns­dor­fer Fischer Richard Hilli­ges mit dem Fähr­be­trieb begann, nicht geän­dert.”

Das ist die schönste von allen Fähren. Sie erschließt ein wunder­schö­nes Wald­ge­biet um die Krumme Laake, das man sonst nur noch auf Umwe­gen errei­chen kann. Dass die Metro­pole Berlin sich bald viel­leicht kein Ruder­boot mehr leis­ten kann, in dem jeder Passa­gier und jedes Fahr­rad den Nahver­kehrs­ta­rif bezahlt, ist schwer vorstell­bar. Da kommen ein paar hundert Euro pro Tag rein, das Boot ist aus Kunst­stoff und braucht keine jähr­li­che Lackie­rung, also geht es nur um den Rude­rer. Und ums Prin­zip: ein Ruder­boot kann man einfach nicht zu einer Butter­dose umbauen.

Die Krumme Laake ist dann von Rahns­dorf aus nicht mehr erreich­bar. Wahr­schein­lich wird Herr Mehdorn demnächst einen Tunnel bauen, der die Ruder­fähre ersetzt. Es sind ja nur 36 Meter. Aber mit der Planung kann er natür­lich erst anfan­gen, wenn der Flug­ha­fen in Betrieb ist. First things first.

So einen Tunnel gibt es wirk­lich am ande­ren Ende des Müggel­sees, bei Fried­richs­ha­gen. Er sieht genau aus wie ein U‑Bahnhof, nur, dass man alles zu Fuß machen muss. Das ZDF hat dort mal einen Grusel­film gedreht.
Solch einen Tunnel gab es auch am Ende der Tunnel­straße auf der Halb­in­sel Stra­lau. Den hat man irgend­wann geschlos­sen.

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3 Kommentare

  1. Wie wahr, wie wahr.

    1. Eine histo­ri­sche Stras­sen­bahn “Unter den Linden” wäre mit Sicher­heit wert­vol­ler und sehr viel güns­ti­ger gewe­sen als ein Tunnel. Als Betrei­ber hätte ich die netten Kolle­gen und Dich mit ins Boot geholt und wir hätten lachend und bimmelnd die Touris­ten zum Tor und zurück gebracht. Einfa­che Fahrt 6,50 €, Return­ti­cket 9,90 €. Vor dem neuen “Schloss” als eini­zes Verkehrs­mit­tel zu fahren wäre ein beson­de­res High­light gewe­sen.

    2. Ws ist wirk­lich eine Schande wie der Ausblick aus der Stadt­bahn zuge­baut wird.

    3. Und JA!!! Die neue Fähre Wann­see — Kladow ist echt so rich­tig Scheisse.

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