Dönhoffplatz 1929

Gestern mittag gegen zwölf Uhr, die Sonne prallte aus allen Fens­ter­schei­ben am Dönhoff­platz, sank eine alte Frau in einem brau­nen Kleide, indes­sen einige eilende Menschen neugie­rig einhiel­ten, zu Boden und legte mit einer letz­ten vorsich­ti­gen Anstren­gung, sich nicht zu verlet­zen, den klei­nen Kopf mit spär­lich weißen Haaren sanft auf den Asphalt. Aus den Wegen rings kamen junge Männer und junge Mädchen gelau­fen und beug­ten sich über die Liegende; eine dicke Dame mit weißer Bluse und erhitz­tem Gesicht zog hastig ihr Jackett an, ein junger Bursche mit einer Hasen­scharte kniete nieder, ein langer städ­ti­scher Arbei­ter legte eine Schau­fel fort — diese drei hoben die Ohnmäch­tige unge­schickt auf, und ein Schwarm von Menschen, der wie eine Traube surren­der Bienen größer wurde, zog mit zu der nächs­ten Bank, von der lungernde Kinder erschreckt fort­lie­fen. Nahe an der Bank stie­ßen die Elek­tri­schen mit vielen Gesich­tern und grel­len Plaka­ten vorbei, knis­ter­ten die Räder der Autos vorüber, schwankte ein Omni­bus hoch über die brühende Straße. Nur in der klei­nen heißen Höhle zwischen dem Gesicht der Liegen­den und dem Gebüsch von Köpfen, das sich darüber bog, war eine große Stille.

Der alten Frau hing vom Kopfe ein kurzes, mit schwar­zer Schnur verkno­te­tes Zöpf­chen, in dem eine große Haar­na­del lose steckte, die gelbe Stirn war sehr nied­rig und sehr gewölbt, aber von glat­ter, trocke­ner Haut, die Nase klein und aufge­stülpt, der Mund einge­sun­ken zum schma­len und bläu­li­chen Strich, nur das Kinn stand kräf­tig, kantig und so scharf nach oben, dass es schien, als ob hier die großen Haut­fal­ten, die vom Halse und aus den Schul­tern kamen, zum Zerrei­ßen gespannt wurden. Ihr Kleid war abge­scheu­ert und hatte den schar­fen Geruch der Armut, ihre Hände lagen breit, gelb­lich und hart, man hatte sie gekreuzt in ihren Schoß gelegt, wie man sie Toten zu betten pflegt. Die dicke Dame kam mit einem Glas Wasser wieder, als ein Schutz­mann die Gruppe teilte, sich zu Häup­ten der Liegen­den setzte, seine Hand­schuhe abstreifte und mit einer unglaub­lich zarten und lang­sa­men Arbeit der Hände den Kopf der Grei­sin auf seine Schen­kel legte. Sie erwachte von der Berüh­rung, schlug aber die Augen nicht auf, nur das Kinn löste sich vom Munde; sie sprach leise, rasch und unver­ständ­lich in das Stück blauen Himmels hinauf, das zwischen den Hüten der Neugie­ri­gen über ihr siedete. Das Wasser, das die Dame ihr einzu­träu­feln versuchte, woll­ten die Lippen nicht aufneh­men, aber sie bebten allzu heftig. So wären die Trop­fen alle vorbei­ge­ron­nen, hätte die Dame sie nicht mit ihrem Tüch­lein abge­tupft. Die Menschen, die eng anein­an­der gelehnt auf die Bank sich beug­ten, fuhren jäh auf, als das Geplärr eines Kindes, das gefal­len war, dicht hinter ihnen die Minute zerriss, sahen sich unsi­cher lächelnd an, einige gingen, als ob ihnen etwas einfiele, eilig weiter, die andern wand­ten sich wieder der Bank zu, auf der die Ohnmäch­tige noch murmelnd im Schoße des Schutz­manns lag. Die dicke Dame begann in den Klei­dern der alten Frau zu suchen, nach Börse, Zetteln, Arbeits­kar­ten, wohin sie gehöre; aber es fielen nur Krumen von Brot und ein Stück Zeitung zur Erde. Es schien, als ob die Liegende in diesem Augen­blick fühlte, worauf es ankäme; sie hob die Lider, ihre rotge­rän­der­ten Augen blie­ben in dem Silber­stern des Tscha­kos, und es sah aus, da sie sich weiter nicht rührte und die ruhe­lo­sen Lippen augen­blick­lich schloss, als ob sie alles gut und rich­tig finde, wie es jetzt sei.

Die Umste­hen­den wurden sicht­lich unge­dul­dig über die Untä­tig­keit des Schutz­manns, der seit­her weder ein Wort gespro­chen noch sich bewegt hatte und immer noch in den großen Händen den Kopf der Frau hielt und auf sie herun­ter­blickte; es war nicht aufge­schrie­ben in seinem jungen Gesicht, was er dachte.

Einige Minu­ten später, man wusste nicht, wer ihn geru­fen hatte, hielt mit kurzer Wendung ein Rettungs­wa­gen an der Rampe des Plat­zes, zwei Männer hoben die alte Frau auf eine Bahre und scho­ben sie in den weißen Raum. Zwischen den Weiter­ge­hen­den brach der Platz lang­sam wieder ausein­an­der mit Grün, Blumen, Sonne, hohen Häusern, Bäumen Kindern und der großen Bläue des Himmels; der Schutz­mann rückte den Tschako, zog die Hand­schuhe an und ging raschen Schrit­tes auf seinen Posten, um das bunte Gewit­ter der Stra­ßen, der Wagen, der Menschen, des Lebens donnerte.

Von Fred Hilden­brandt
Aus: Hier schreibt Berlin

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