Von Wedding nach PrenzlBerg und zurück – II.

Vinetaplatz im Gesundbrunnen

Ich stehe auf der Swine­mün­der Brücke, auf der Millio­nen­brü­cke, weil sie Millio­nen gekos­tet haben soll, mitten in einem einst engen, barba­ri­schen Miets­haus­vier­tel, in dem so viele Menschen — wie Zille sich ausdrückte — mit ihren Wohnun­gen erschla­gen worden sind, nach­hal­ti­ger als mit Äxten.
Sie sind aber auch mit “Äxten” erschla­gen worden, indem man sie über die Schlacht­fel­der Euro­pas geschleppt hat für Inter­es­sen, die nicht die ihren waren. Sehr viel von diesem alten Wedding sieht man hier nicht mehr.

Auch von Sena­tor Schwedt­ler sieht man nichts mehr. West­ber­li­ner SPD-Bause­na­tor unter Willy Brandt. Er war einer der Haupt­ver­ant­wort­li­chen für die Kahl­schlag­sa­nie­rung. Sie hat Berlin fast genauso tiefe Wunden geschla­gen wie der Krieg.
Das Gebiet, auf das ich jetzt zugehe: Swine­mün­der-/Lortzing-/Graun­straße kommt in dem histo­ri­schen Gutach­ten des TU-Profes­sors Peter Koller vor von 1963, das ein Zeichen setzte gegen die Vernich­tungs­sa­nie­rung: “Wir haben nicht nur eine tech­nisch-wünschens­werte Lösung ins Auge zu fassen, sondern die gesamte sozial-ökono­mi­schen Auswir­kun­gen zu prüfen.”
Das sollte heißen: Sanie­rung für die Menschen, nicht nur für die Wohnungs­bau-Gesell­schaf­ten. Das Abge­ord­ne­ten­haus von Berlin nahm das damals nicht zur Kennt­nis: Total­ab­riss und Neube­bau­ung sei “die beste Möglich­keit, einen höchst­mög­li­chen Effekt zu erzie­len”. Willy Brandt versprach auf öffent­li­chen Druck: “Stadt­sa­nie­rung wird behut­sam erfol­gen”, aber so rich­tig ernst war das 1964 nicht gemeint.
Ich kann mich erin­nern. Ich war damals Amts­rich­ter hier. Ich habe mich gewal­tig aufge­regt. Jetzt habe ich das alles verges­sen. Während ich nun auf dem klei­nen Platz stehe, den Swine­mün­der- und Ramler­straße hier bilden, mir an dem türki­schen Obst­stand einen Apfel kaufe und mich vor der Schule nieder­setze, am an Ort und Stelle meine verges­se­nen Erin­ne­run­gen zu über­prü­fen, fällt mir ein, dass das momen­tane Buch über das Berli­ner Miets­haus meines Freun­des Johann Geist gerade hier, in dieser Gegend, endet, ein biss­chen resi­gniert, wie mir scheint, mit aufge­ho­be­nen Händen: “Die Wohnungs­frage zu lösen, ohne die Vertei­lungs­frage zu regeln, bleibt eine Utopie”.
Ich weiß nicht. Ich über­lege, wer da als Regler in Frage käme. “Bitte ab sofort keine Kunde vor dem Eingang befes­ti­gen. Denkt an die Kinder. Der Haus­meis­ter.” Die Kirchen stel­len viel­leicht Räume zur Verfü­gung, dass wir uns versam­meln können, etwa weiter oben Sankt Afra. Durch die Biegung der Ramler­straße komme ich dort hin, an Nr. 19a vorüber, wo an der Altfas­sade die Erker von einer Jung­frau ohne Unter­leib gehal­ten werden, die trotz­dem viel­leicht eine Aphro­dite ist. Das Unmög­li­che ist möglich.

Der Mittel­in­sel in der Gleim­straße, da wo sie aus Wedding zur S‑Bahn abfällt, sieht man an, dass da die Welt eine Zeit­lang zu Ende war. So sagten wir das: Die Welt zu Ende. Weil eine S‑Bahn-Unter­füh­rung vermau­ert war. Am Ende dieses Insel­ar­ran­ge­ments zwei stei­nerne Schach­ti­sche. Ob da jemals viel Schach gespielt worden ist? Und ob nun diese garten­amt­li­che Grün­idylle mitten in der Straße noch lange da sein wird? Nun ist die Welt ja längst wieder offen. Auch drüben, auf welcher Seite man auch steht, ist Welt.
Berlin, dieselbe Stadt, wenn auch anders erzo­gen, dieselbe Stadt also viel­leicht doch nicht. Sollen wir uns Berlin als Zwil­lings­ge­schwis­ter vorstel­len, aus demsel­ben Stoff, aber mit indi­vi­du­el­lem Schick­sal, ehe sie zu neuem Gemein­sam­schick­sal wieder zusam­men­ge­zo­gen sind?
“Schau auf die Sonnen­seite des Lebens” ist an die S‑Bahn-Brücke ange­sprayt: Das ist nun auch schon eine histo­ri­sche Inschrift. Mancher solcher Sprayer hat unter­des­sen Schat­ten entdeckt auf dieser Sonnen­seite.

Ich kehre nach Wedding zurück. Die Graun­straße aufwärts, an St. Afra vorbei, die inmit­ten der roten Balkon­rei­hen der DeGeWo gar nicht so sehr nach Kirche aussieht. “Hier wohnte Robert Schu­mann”, als Student, Anfang des [vori­gen] Jahr­hun­derts, der fran­zö­si­sche Poli­ti­ker, der aus den euro­päi­schen Bruder­krie­gen gelernt hatte: Wir müssen aufhö­ren, Natio­nal­staat­ler zu sein, Euro­päer werden.
Hinter der Stra­ßen­front liegt ein schö­ner Sonnen­hof, die Kirche liegt nach hinten heraus, begrünt, ein flache­res weißes Haus innen; da möchte man wohnen; das hätte man — sagen wir — 1930 nicht gedacht, dass man mal den Wunsch haben könnte, hier zu wohnen, wenn man anderswo wohnen konnte.
Der Block schließt oben an der Lortzing­straße mit einer Gedenk­ta­fel. Der Erin­nerte hieß Erwin Schlae­ger, Poli­zei­wacht­meis­ter, 1953 erschos­sen — heißt es — im Einsatz für Recht und Frei­heit. Ich kenne den Fall nicht. Die Worte sind groß. Die Helden­frage ist offen.

Über Demmi­ner und Ruppi­ner Straße nun am Vineta­platz vorbei, von dem Geist sagt, dass er voll­ge­stellt ist mit garten­amt­li­chem Zeug, das niemand rich­tig braucht. Ich habe etwas mehr Sympa­thie für den Platz. Gott will durch uns zu Wort kommen, verkün­det die Frie­den­ge­meinde links, viel klarer wird’s da aber nicht werden mit dem, was Gott meint, wenn es auf unser Reden ankommt.
Links in die Bernauer Straße, an der Bezirks­grenze entlang. Neben dem Güter­bahn­hof der soge­nannte Mauer­park, ein paar breite Stufen führen hinauf ins Nichts, früher Exer­zier­platz, der “Exer” vieler Arbei­ter­ju­gend-Erin­ne­run­gen, das Stadion hinten seit den Welt­ju­gend­fest­spie­len von 1951, aus getrenn­ten Welten also, ich bin jetzt für: Verges­sen statt Erin­nern.
Ich traue den Geschichts­schrei­bern nichts zu. Und wenn sie Juris­ten sind, schon gar nichts. Manche Mauer­pro­zesse müssen wohl trotz­dem sein. Aber sie bedeu­ten nichts. Und leis­ten nichts über das “Es muss wohl sein” hinaus.
Mein Spazier­gang zwischen Wedding und Prenz­l­Berg endet in der “Blech­trom­mel” an der Oder­ber­ger Straße. Das kann man sich fragen, in welchem Bezirk man seinen Milch­kaf­fee trinkt. Es könnte sogar Mitte sein. Da ist das Drei-Bezirke-Eck. Das habe ich hier schon bei ande­rer Gele­gen­heit beschrie­ben. Nach­den­kend über die Geschichte und wie man sie lehren könnte, gehe ich zurück durch die Bernauer Straße, in die U‑Bahn. Hinab.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Frido­lin Freun­den­fett (CC BY-SA 4.0)

print

Zufallstreffer

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*