004 – Keine Musik

Das Gute an den vielen besetz­ten Häusern war, dass es massig Platz gab. Nicht über­all wohn­ten Leute, es lief auch viel ande­res. neben Knei­pen und Werk­stät­ten gab es auch genug Platz für Konzerte. Die besetzte Braue­rei in Zehlen­dorf war ja leider wieder geräumt, von dort waren die Beset­zer aber weiter­ge­zo­gen in den Wedding. In der Nähe vom Humboldt­hain, Hussi­ten­straße, stan­den zwei fünf­stö­ckige Nach­kriegs­bau­ten leer. Sie waren nach dem Prin­zip “Licht, Luft und Sonne” errich­tet worden, anstelle der düste­ren Miets­ka­ser­nen, die es vorher hier gab. Meyers Hof stand nur etwa zwei Minu­ten entfernt: Ein 35 Meter brei­tes Doppel­ge­bäude mit sechs Hinter­hö­fen. Ende der 20er Jahre lebten in diesem Komplex 2000 Menschen, mit je zwei Toilet­ten und Küchen pro Etage. Es war das Elend pur, aber die engli­schen Bomber legten das meiste davon flach. Was der Krieg nicht zerstört hatte, wurde unter Willy Brandts Bürger­meis­ter­zeit gesprengt. Dem Wedding riss man sein eh schon vernarb­tes Gesicht endgül­tig vom Körper. Schon in den 50er und 60er Jahren entstan­den rund um die Hussi­ten- und Acker­straße neue Häuser nach der Schuh­kar­ton­me­thode. Die beiden höchs­ten soll­ten nun abge­ris­sen werden, dann aber wurden sie besetzt und damit geret­tet. Nur wohnen wollte dort niemand. Also beka­men die Wohnun­gen eine andere Nutzung, vor allem als Probe­räume für Musik- und Thea­ter­grup­pen.
Ab und zu ging ich mit Tobi auf Streif­zug, “Berlin kucken” nann­ten wir das. Dabei entdeck­ten wir auch die beiden Häuser.
“Hörst du das?”
“Das Katzen­ge­jaule? Ja, schreck­lich.”
“Quatsch ey, das ist Musik.”
“Na ja. Es könnte aber auch sein, dass da gerade eine Katze getö­tet wird, oder?”
“Lass uns mal rein­ge­hen!”
Die Haus­tür hatte mal Glas­schei­ben, die mitt­ler­weile aber raus­ge­bro­chen und durch Holz­plat­ten ersetzt worden waren. Komi­scher­weise war sie nicht abge­schlos­sen. Das war unge­wöhn­lich für ein besetz­tes Haus, schließ­lich musste man sich doch vor Angrif­fen schüt­zen. Aber hier wurde das wohl recht locker gese­hen.
Die Musik kam aus dem zwei­ten Stock, auch hier war die Tür offen. Der Wohnungs­flur sah aus, als wenn da noch jemand wohnt, ein gerahm­tes Bild mit ’ner Berg­land­schaft hatten die eins­ti­gen Mieter im Korri­dor hängen lassen. Die Mucke kam aus dem frühe­ren Wohn­zim­mer.
Vorsich­tig öffne­ten wir die Tür. Ich hatte vorher schon einige Probe­räume von Rock­bands gese­hen, meist waren sie voll­ge­stopft mit Boxen, Misch­pul­ten, Instru­men­ten und natür­lich mit jeder Menge Bier. Vor allem aber waren sie eng, düster und verqualmt.
Hier aber war es über­haupt nicht stickig und dunkel. Das ehema­lige Wohn­zim­mer hatte eine breite Fens­ter­front, die Tür zum Balkon stand offen. Nur die vielen Verstär­ker und Instru­mente erin­ner­ten an einen Übungs­raum.
Und mitten­drin stan­den zwei Männer, die ihre Gitar­ren quäl­ten. Der eine sah echt aus wie ein Bilder­buchro­cker: Kräf­ti­ger Körper, lange fettige Haare, schwarze Leder­ja­cke, 5‑Tage-Bart und eine Kippe im Mund. Zwar war der andere auch nicht gerade im Frack, aber doch wesent­lich gepfleg­ter und vor allem hatte er etwas völlig Verbo­te­nes an: Einen hell­brau­nen Pullun­der. Seine Haare waren voll Gel. Während der Rocker seinen Bass spielte, bear­bei­tete er die Gitarre.
“Watt wollt’n Ihr hier?” pflaumte uns der Rocker an.
Tobi reagierte in seiner typisch liebens­wür­di­gen Art: “Nur mal kucken. Wir dach­ten gerade, hier wird jemand auf ’ner Streck­bank gefol­tert. Hat sich jeden­falls so ange­hört.”
“Na du bist ja ’n janz Feiner. Aber wennde’s besser kannst, machs doch”, antwor­tete der Gegelte und reicht ihm die Gitarre.
“Und du kannsta gleich ma an’s Schlach­zeuch setz’n. Woll’n doch mal kiek’n, watta so druff habt, Ihr Schlau­meier.”
Schlag­zeuge haben mich schon immer faszi­niert, aller­dings kannte ich sie bisher nur vom Zuschauen. Aber kaum saß ich auf dem Hocker, wuchs der Respekt vor dem Teil. Ich nahm die Trom­mel­stö­cke in die Hand und tippte damit erst­mal leicht auf die Felle der einzel­nen Trom­meln. Die Bass­trom­mel musste mit dem Pedal gespielt werden, dann war da aber noch so ein ande­res Gestell mit einem Pedal, da waren Becken dran. Jeden­falls ließ ich mich nicht einschüch­tern und fing wie wild an loszu­trom­meln. Mal mit dem rech­ten Fuß, mal quer über die Trom­meln vor mir, mal traf ich auch die Becken, meis­tens aber den Rand der einzel­nen Trom­meln. Paral­lel dazu hatte Tobi eben­falls zu “spie­len” ange­fan­gen, aller­dings hatte das etwa die glei­che Quali­tät wie mein Krach. Er konnte zwar Akus­tik­gi­tarre spie­len, aber eine Elek­tri­sche inklu­sive Verzer­rer war doch was anders. Nach unge­fähr einer halben Minute lagen die beiden Musi­ker vor Lachen förm­lich auf dem Boden.
“Jetzt hätt’ ick wirk­lich gerne ’ne Streck­bank, aber ratet mal, wer dann jefol­tert würde.” Und wieder konn­ten sie vor Lachen kaum Luft holen. Es war schon etwas frus­trie­rend, sich selbst so vorzu­füh­ren. Aber wir blie­ben stand­haft.
“War nicht schlecht, oder?” fragte Tobi. Natür­lich konnte ich ihn in seiner Cool­ness nicht hängen lassen.
“Nö, für’s erste Mal schon fast perfekt. Besser jeden­falls als das Gejaule vorher.”
Viel dicker konn­ten wir kaum noch auftra­gen, aber die beiden nahmen es gelas­sen.
“Schon klar, Ihr Profis, Wann ist denn Euer nächs­ter Gig?”
“Hä?”
“Ach so, alles klar!”
Wieder lach­ten sie uns aus.
Nun gab es für uns nur noch zwei Möglich­kei­ten: Offen­sive oder Rück­zug. Aber uns mit einem einfa­chen “Wir gehen dann mal” zu verab­schie­den, wäre dann doch zu schmach­voll gewe­sen. Also muss­ten wir tapfer weiter machen. Tobi verstand darun­ter aber anschei­nend was ande­res als ich: “Wenn Ihr wollt, können wir Euch gern was beibrin­gen.”
Lang­sam wurde es doch pein­lich.
“Aber was haltet Ihr davon, wenn Ihr uns was beibringt?”, fragte ich vorsich­tig. Der Pullun­der wehrte gleich ab. “Ne, lass mal gut sein, das ist nicht unser Ding, weil…”
“Ick fänds jut”, unter­brach ihn der Rocker. “Dann seh’n se mal, wie’s looft. Und wir können uns wat dazu verdie­nen.”
“Vergiss es”, rief Tobi dazwi­schen. Wir haben keine Kohle für so’n beklopp­ten Unter­richt. Außer­dem haben wir auch keine Instru­mente. Und Lust dazu haben wir auch nicht!”
“Haben, haben, haben”, äffte der Rocker ihn nach. “Ein großes Maul, das habt Ihr. Mehr nicht!”
Die Stim­mung wurde lang­sam aggres­siv. “Ihr kommt hier rin, reißt Eure Fres­sen uff, aber habt nüscht auf’m Kasten. So sieht’s ma aus!”
“Stimmt”. Ich musste ihm zustim­men. “Also wie regeln wir das jetzt? Zeigt Ihr uns jetzt was, oder wie?”
Während der Rocker verächt­lich abwinkte, schien der Gegelte jetzt doch inter­es­siert zu sein.
“Hast Du über­haupt schon mal ein Instru­ment gespielt?” Er wandte sich zwar an mich, aber Tobi antwor­tete. “Klar. Ich spiele Gitarre. Aber keine Elek­tri­sche.”
“Dich hab ich gar nicht gefragt”, pflaumte der Mann ihn an.
Was sollte ich schon antwor­ten? Nach Rumprol­len war mir nicht mehr zumute. Und außer mal auf ein paar Bongos rumge­trom­melt zu haben, hatte ich keiner­lei Erfah­rung.
“Ne, bis jetzt noch nicht. Aber Lust hab ich schon. Zum Trom­meln.”
Das kann ich Dir leider nicht beibrin­gen, aber das kannst Du auch alleine lernen. Setz Dich einfach jeden Tag eine Stunde ans Schlag­zeug, dann merkst Du bald, ob das was bringt.”
“Aber ich hab doch gar keins.”
“Wirk­lich nicht? Da wär ich jetzt nicht drauf gekom­men. Aber sperr mal Deine Glub­scher auf, was hier rumsteht. Du hast doch eben schon dran geses­sen.”
“Du meinst, ich könnte hier…”
Der Rocker fand die Idee offen­bar nicht so gut. “Biste bekloppt man? Die soll’n hier unsere Instru­mente zerdep­pern? Dit kannste gleich wieda verjes­sen.”
Dies war einer der Momente, in denen eine Situa­tion kaum noch zu retten ist.  Außer mit hohem diplo­ma­ti­schen Geschick. Wer wäre dazu unge­eig­ne­ter, als Tobi…
“Ist doch egal, ob Ihr einver­stan­den seid. Dann holen wir uns die Sachen eben heute Nacht raus. Hier ins Haus kommt doch jedes Kind rein.”
Jetzt knallt’s, dachte ich. Aber bevor der Rocker was sagen konnte, antwor­tete der Gegelte. “Ok, an mangeln­dem Selbst­be­wusst­sein leidet Ihr ja nicht. Das ist schon mal ’ne gute Voraus­set­zung zum Musik machen. Jetzt müsst Ihr nur üben, üben, üben.”
“Nein! Die kommen mir hier nicht mehr rein!” Der Rocker war doch ziem­lich sauer. “Und an die Drums lasse ich erst recht keinen mehr von denen. Ende der Durch­sage!”

Als Tobi und ich wieder vor’s Haus traten, war ich noch hin- und herge­ris­sen. Ich hätte die Gele­gen­heit schon gerne genutzt, einfach um auszu­pro­bie­ren, ob ich es kann. Viel­leicht würde es mit dem Trom­meln doch klap­pen. Aber die Chance war vertan.
“Schade.”
“Was?”
“Viel­leicht wär’s ja was gewor­den.”
“Ach. Mit diesem Idio­ten? Und der andere mit seinem alber­nen Pullun­der, schreck­lich. Was soll so einer uns schon beibrin­gen?”
“Der Rocker kann aber anschei­nend ganz gut mit ihm. Und dass er besser spielt als Du, ist wohl schon mal amtlich.”
Ohne weiter was zu sagen gingen wir an den riesi­gen, alten AEG-Werks­hal­len entlang zur Brun­nen­straße. Ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl einer verpass­ten Chance. Selbst als wir im U‑Bahnhof auf den Zug warte­ten, malte ich mir in Gedan­ken aus, wie es hätte werden können.
“Volta­straße. Letz­ter Bahn­hof in Berlin West. Letz­ter Bahn­hof in Berlin West!”
Für uns war diese Ansage nichts Unge­wöhn­li­ches. Die Mauer gehörte zu unse­rem Alltag dazu, ebenso die Bahn­höfe unter Ost-Berlin, durch die die U‑Bahn ohne Halt durch­fuhr. Die Presse nannte sie “Geis­ter­bahn­höfe”. Aber statt Gespens­tern sah man nur manch­mal einen DDR-Solda­ten. Als Kinder fanden wir es immer span­nend. Vor allem woll­ten wir die umge­häng­ten Maschi­nen­pis­to­len sehen.
Mitt­ler­weile aber war die Stre­cke Norma­li­tät. Sie verstärkte höchs­tens unser Gefühl, in einer frem­dere Gegend zu fahren. Kreuz­berg war die Heimat, alles was hinter “dem Osten” kam, gehörte schon nicht mehr so rich­tig zu unse­rem Umfeld.  So wie zum Beispiel der Wedding.
“Hey, kommste mal? Letz­ter Bahn­hof in Berlin West! Gleich kommt der Russe und Du pennst hier auf der Bank.”
Während unse­rer Fahrt nach Kreuz­berg hing ich noch immer meinen Gedan­ken nach.
“Eigent­lich hätte ich schon Lust, mal ein biss­chen Unter­richt zu nehmen. Viel­leicht bringt es ja was.” Ich hatte Blut geleckt.
“Aber nicht bei diesen Spacken, oder?
“Warum nicht? Der eine war doch ganz ok.”
“Ne, lass mal.”
Trotz­dem nahm ich mir vor, das nicht ganz aus den Augen zu verlie­ren.

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2 Kommentare

  1. Mir ist beim Lesen was aufge­fal­len. Text: »Ihr kommt hier rin, reißt Eure Fres­sen uff, aber habt nüscht auf’m Kasten. Sie sieht’s ma aus!« soll bestimmt heißen: »…So sieht’s ma aus!«. Ansons­ten wie immer gut zu lesen.

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