Das Gute an den vielen besetzten Häusern war, dass es massig Platz gab. Nicht überall wohnten Leute, es lief auch viel anderes. neben Kneipen und Werkstätten gab es auch genug Platz für Konzerte. Die besetzte Brauerei in Zehlendorf war ja leider wieder geräumt, von dort waren die Besetzer aber weitergezogen in den Wedding. In der Nähe vom Humboldthain, Hussitenstraße, standen zwei fünfstöckige Nachkriegsbauten leer. Sie waren nach dem Prinzip “Licht, Luft und Sonne” errichtet worden, anstelle der düsteren Mietskasernen, die es vorher hier gab. Meyers Hof stand nur etwa zwei Minuten entfernt: Ein 35 Meter breites Doppelgebäude mit sechs Hinterhöfen. Ende der 20er Jahre lebten in diesem Komplex 2000 Menschen, mit je zwei Toiletten und Küchen pro Etage. Es war das Elend pur, aber die englischen Bomber legten das meiste davon flach. Was der Krieg nicht zerstört hatte, wurde unter Willy Brandts Bürgermeisterzeit gesprengt. Dem Wedding riss man sein eh schon vernarbtes Gesicht endgültig vom Körper. Schon in den 50er und 60er Jahren entstanden rund um die Hussiten- und Ackerstraße neue Häuser nach der Schuhkartonmethode. Die beiden höchsten sollten nun abgerissen werden, dann aber wurden sie besetzt und damit gerettet. Nur wohnen wollte dort niemand. Also bekamen die Wohnungen eine andere Nutzung, vor allem als Proberäume für Musik- und Theatergruppen.
Ab und zu ging ich mit Tobi auf Streifzug, “Berlin kucken” nannten wir das. Dabei entdeckten wir auch die beiden Häuser.
“Hörst du das?”
“Das Katzengejaule? Ja, schrecklich.”
“Quatsch ey, das ist Musik.”
“Na ja. Es könnte aber auch sein, dass da gerade eine Katze getötet wird, oder?”
“Lass uns mal reingehen!”
Die Haustür hatte mal Glasscheiben, die mittlerweile aber rausgebrochen und durch Holzplatten ersetzt worden waren. Komischerweise war sie nicht abgeschlossen. Das war ungewöhnlich für ein besetztes Haus, schließlich musste man sich doch vor Angriffen schützen. Aber hier wurde das wohl recht locker gesehen.
Die Musik kam aus dem zweiten Stock, auch hier war die Tür offen. Der Wohnungsflur sah aus, als wenn da noch jemand wohnt, ein gerahmtes Bild mit ’ner Berglandschaft hatten die einstigen Mieter im Korridor hängen lassen. Die Mucke kam aus dem früheren Wohnzimmer.
Vorsichtig öffneten wir die Tür. Ich hatte vorher schon einige Proberäume von Rockbands gesehen, meist waren sie vollgestopft mit Boxen, Mischpulten, Instrumenten und natürlich mit jeder Menge Bier. Vor allem aber waren sie eng, düster und verqualmt.
Hier aber war es überhaupt nicht stickig und dunkel. Das ehemalige Wohnzimmer hatte eine breite Fensterfront, die Tür zum Balkon stand offen. Nur die vielen Verstärker und Instrumente erinnerten an einen Übungsraum.
Und mittendrin standen zwei Männer, die ihre Gitarren quälten. Der eine sah echt aus wie ein Bilderbuchrocker: Kräftiger Körper, lange fettige Haare, schwarze Lederjacke, 5‑Tage-Bart und eine Kippe im Mund. Zwar war der andere auch nicht gerade im Frack, aber doch wesentlich gepflegter und vor allem hatte er etwas völlig Verbotenes an: Einen hellbraunen Pullunder. Seine Haare waren voll Gel. Während der Rocker seinen Bass spielte, bearbeitete er die Gitarre.
“Watt wollt’n Ihr hier?” pflaumte uns der Rocker an.
Tobi reagierte in seiner typisch liebenswürdigen Art: “Nur mal kucken. Wir dachten gerade, hier wird jemand auf ’ner Streckbank gefoltert. Hat sich jedenfalls so angehört.”
“Na du bist ja ’n janz Feiner. Aber wennde’s besser kannst, machs doch”, antwortete der Gegelte und reicht ihm die Gitarre.
“Und du kannsta gleich ma an’s Schlachzeuch setz’n. Woll’n doch mal kiek’n, watta so druff habt, Ihr Schlaumeier.”
Schlagzeuge haben mich schon immer fasziniert, allerdings kannte ich sie bisher nur vom Zuschauen. Aber kaum saß ich auf dem Hocker, wuchs der Respekt vor dem Teil. Ich nahm die Trommelstöcke in die Hand und tippte damit erstmal leicht auf die Felle der einzelnen Trommeln. Die Basstrommel musste mit dem Pedal gespielt werden, dann war da aber noch so ein anderes Gestell mit einem Pedal, da waren Becken dran. Jedenfalls ließ ich mich nicht einschüchtern und fing wie wild an loszutrommeln. Mal mit dem rechten Fuß, mal quer über die Trommeln vor mir, mal traf ich auch die Becken, meistens aber den Rand der einzelnen Trommeln. Parallel dazu hatte Tobi ebenfalls zu “spielen” angefangen, allerdings hatte das etwa die gleiche Qualität wie mein Krach. Er konnte zwar Akustikgitarre spielen, aber eine Elektrische inklusive Verzerrer war doch was anders. Nach ungefähr einer halben Minute lagen die beiden Musiker vor Lachen förmlich auf dem Boden.
“Jetzt hätt’ ick wirklich gerne ’ne Streckbank, aber ratet mal, wer dann jefoltert würde.” Und wieder konnten sie vor Lachen kaum Luft holen. Es war schon etwas frustrierend, sich selbst so vorzuführen. Aber wir blieben standhaft.
“War nicht schlecht, oder?” fragte Tobi. Natürlich konnte ich ihn in seiner Coolness nicht hängen lassen.
“Nö, für’s erste Mal schon fast perfekt. Besser jedenfalls als das Gejaule vorher.”
Viel dicker konnten wir kaum noch auftragen, aber die beiden nahmen es gelassen.
“Schon klar, Ihr Profis, Wann ist denn Euer nächster Gig?”
“Hä?”
“Ach so, alles klar!”
Wieder lachten sie uns aus.
Nun gab es für uns nur noch zwei Möglichkeiten: Offensive oder Rückzug. Aber uns mit einem einfachen “Wir gehen dann mal” zu verabschieden, wäre dann doch zu schmachvoll gewesen. Also mussten wir tapfer weiter machen. Tobi verstand darunter aber anscheinend was anderes als ich: “Wenn Ihr wollt, können wir Euch gern was beibringen.”
Langsam wurde es doch peinlich.
“Aber was haltet Ihr davon, wenn Ihr uns was beibringt?”, fragte ich vorsichtig. Der Pullunder wehrte gleich ab. “Ne, lass mal gut sein, das ist nicht unser Ding, weil…”
“Ick fänds jut”, unterbrach ihn der Rocker. “Dann seh’n se mal, wie’s looft. Und wir können uns wat dazu verdienen.”
“Vergiss es”, rief Tobi dazwischen. Wir haben keine Kohle für so’n bekloppten Unterricht. Außerdem haben wir auch keine Instrumente. Und Lust dazu haben wir auch nicht!”
“Haben, haben, haben”, äffte der Rocker ihn nach. “Ein großes Maul, das habt Ihr. Mehr nicht!”
Die Stimmung wurde langsam aggressiv. “Ihr kommt hier rin, reißt Eure Fressen uff, aber habt nüscht auf’m Kasten. So sieht’s ma aus!”
“Stimmt”. Ich musste ihm zustimmen. “Also wie regeln wir das jetzt? Zeigt Ihr uns jetzt was, oder wie?”
Während der Rocker verächtlich abwinkte, schien der Gegelte jetzt doch interessiert zu sein.
“Hast Du überhaupt schon mal ein Instrument gespielt?” Er wandte sich zwar an mich, aber Tobi antwortete. “Klar. Ich spiele Gitarre. Aber keine Elektrische.”
“Dich hab ich gar nicht gefragt”, pflaumte der Mann ihn an.
Was sollte ich schon antworten? Nach Rumprollen war mir nicht mehr zumute. Und außer mal auf ein paar Bongos rumgetrommelt zu haben, hatte ich keinerlei Erfahrung.
“Ne, bis jetzt noch nicht. Aber Lust hab ich schon. Zum Trommeln.”
Das kann ich Dir leider nicht beibringen, aber das kannst Du auch alleine lernen. Setz Dich einfach jeden Tag eine Stunde ans Schlagzeug, dann merkst Du bald, ob das was bringt.”
“Aber ich hab doch gar keins.”
“Wirklich nicht? Da wär ich jetzt nicht drauf gekommen. Aber sperr mal Deine Glubscher auf, was hier rumsteht. Du hast doch eben schon dran gesessen.”
“Du meinst, ich könnte hier…”
Der Rocker fand die Idee offenbar nicht so gut. “Biste bekloppt man? Die soll’n hier unsere Instrumente zerdeppern? Dit kannste gleich wieda verjessen.”
Dies war einer der Momente, in denen eine Situation kaum noch zu retten ist. Außer mit hohem diplomatischen Geschick. Wer wäre dazu ungeeigneter, als Tobi…
“Ist doch egal, ob Ihr einverstanden seid. Dann holen wir uns die Sachen eben heute Nacht raus. Hier ins Haus kommt doch jedes Kind rein.”
Jetzt knallt’s, dachte ich. Aber bevor der Rocker was sagen konnte, antwortete der Gegelte. “Ok, an mangelndem Selbstbewusstsein leidet Ihr ja nicht. Das ist schon mal ’ne gute Voraussetzung zum Musik machen. Jetzt müsst Ihr nur üben, üben, üben.”
“Nein! Die kommen mir hier nicht mehr rein!” Der Rocker war doch ziemlich sauer. “Und an die Drums lasse ich erst recht keinen mehr von denen. Ende der Durchsage!”
Als Tobi und ich wieder vor’s Haus traten, war ich noch hin- und hergerissen. Ich hätte die Gelegenheit schon gerne genutzt, einfach um auszuprobieren, ob ich es kann. Vielleicht würde es mit dem Trommeln doch klappen. Aber die Chance war vertan.
“Schade.”
“Was?”
“Vielleicht wär’s ja was geworden.”
“Ach. Mit diesem Idioten? Und der andere mit seinem albernen Pullunder, schrecklich. Was soll so einer uns schon beibringen?”
“Der Rocker kann aber anscheinend ganz gut mit ihm. Und dass er besser spielt als Du, ist wohl schon mal amtlich.”
Ohne weiter was zu sagen gingen wir an den riesigen, alten AEG-Werkshallen entlang zur Brunnenstraße. Ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl einer verpassten Chance. Selbst als wir im U‑Bahnhof auf den Zug warteten, malte ich mir in Gedanken aus, wie es hätte werden können.
“Voltastraße. Letzter Bahnhof in Berlin West. Letzter Bahnhof in Berlin West!”
Für uns war diese Ansage nichts Ungewöhnliches. Die Mauer gehörte zu unserem Alltag dazu, ebenso die Bahnhöfe unter Ost-Berlin, durch die die U‑Bahn ohne Halt durchfuhr. Die Presse nannte sie “Geisterbahnhöfe”. Aber statt Gespenstern sah man nur manchmal einen DDR-Soldaten. Als Kinder fanden wir es immer spannend. Vor allem wollten wir die umgehängten Maschinenpistolen sehen.
Mittlerweile aber war die Strecke Normalität. Sie verstärkte höchstens unser Gefühl, in einer fremdere Gegend zu fahren. Kreuzberg war die Heimat, alles was hinter “dem Osten” kam, gehörte schon nicht mehr so richtig zu unserem Umfeld. So wie zum Beispiel der Wedding.
“Hey, kommste mal? Letzter Bahnhof in Berlin West! Gleich kommt der Russe und Du pennst hier auf der Bank.”
Während unserer Fahrt nach Kreuzberg hing ich noch immer meinen Gedanken nach.
“Eigentlich hätte ich schon Lust, mal ein bisschen Unterricht zu nehmen. Vielleicht bringt es ja was.” Ich hatte Blut geleckt.
“Aber nicht bei diesen Spacken, oder?
“Warum nicht? Der eine war doch ganz ok.”
“Ne, lass mal.”
Trotzdem nahm ich mir vor, das nicht ganz aus den Augen zu verlieren.
Mir ist beim Lesen was aufgefallen. Text: »Ihr kommt hier rin, reißt Eure Fressen uff, aber habt nüscht auf’m Kasten. Sie sieht’s ma aus!« soll bestimmt heißen: »…So sieht’s ma aus!«. Ansonsten wie immer gut zu lesen.
@Icke
Danke für den Hinweis!
Und das Lob!
@Phips (unsichtbar)
Dir auch :-)