Drei Mal Ehren

Es ist ein kalter, unfreund­li­cher Mitt­woch, Ende April. Ich friere ein biss­chen. Der S‑Bahnhof Trep­tower Park ist frie­sen­blau erneu­ert. Unten links liegen Schiffe der Weißen Flotte, sie schei­nen auch zu frie­ren. “Gehweg­schä­den” sind sogar für Park­wege viel­schild­rig ausge­wie­sen. Im Ehren­mal lässt ein Mann seinen Hund laufen, sonst ist hier vorne anfangs niemand. Ich habe verspro­chen, der Frau aus Granit einen Text von Wolf­gang Borchert vorzu­le­sen. Wem verspro­chen? Nur mir selbst. An Ort und Stelle möchte ich das Verspre­chen am liebs­ten zurück­neh­men. Über­all steht: Die grani­tene Frau in der Allee zwischen den Triumph­bö­gen, durch die man ins sowje­ti­sche Ehren­mal gelangt, sei “Mutter Heimat”, eine Lese­rin schrieb: “Mutter Russ­land”. Das stei­nerne Mal selbst zeigt keine Inschrift. Ich betrachte es lange. Eine Frau, von über­mensch­li­chen Maßen, viel­leicht 50 Jahre, mit gesenk­tem Kopf, die Augen geschlos­sen, den rech­ten Arm nach hinten gestreckt, sich aufstüt­zend, der linke hält das Gewand vor der Brust, die Haltung ist ange­spannt, es ist undeut­lich, welche Bewe­gung der darge­stell­ten Pose voraus­ge­gan­gen ist und welche viel­leicht folgen wird. Dass die Frau eine Mutter ist, ist aus keinem beson­de­ren Kenn­zei­chen zu erse­hen. Dass die Heimat eine Mutter ist, in irgend­ei­ner Weise vergleich­bar mit einer wirk­li­chen Frau, der eige­nen Mutter eines jeden, der vorüber kommt, ist Über­lie­fe­rung. Man kann sie teilen oder auch nicht, da mag sich jeder Betrach­ter selbst fragen. Ich habe keine Heimat; mit meiner Mutter, die 89 Jahre alt ist, verbin­den mich ganz andere Gefühle als mit Orten und Ortschaf­ten, an denen ich früher gelebt habe. Ich habe den Text mitge­bracht. Ich blicke mich vorsich­tig um; der Mann mit Hund ist fort, es ist niemand in der Nähe. Ich lese, flüs­tere eher, weil ich nicht ertappt werden will:
“Du, Mutter in der Norman­die und Mutter in der Ukraine, du, Mutter in Frisko und London, du, am Hoangho und am Missis­sippi, du, Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo — Mütter in allen Erdtei­len, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befeh­len, ihr sollt Kinder gebä­ren, Kran­ken­schwes­tern für Kriegs­la­za­rette und neue Solda­ten für neue Schlach­ten, Mütter in der Welt dann gibt es nur eins:
Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN”.

Diesen Text habe ich mehrere Male vorle­sen hören. Zuletzt, ich weiß nicht mehr genau wann, von der grei­sen Ida Ehre in Hamburg bei einer Frie­dens­demo, ich glaube im Mill­ern­tor­sta­dion, wo St. Pauli spielt. Der Text ist aus dem Jahre 1947; da war sein Autor 26 Jahre alt und hatte nur noch wenige Wochen zu leben. Später ist darin an die Adresse derer, die nicht NEIN sagen, zu lesen:
“der letzte Mensch, mit zerfetz­ten Gedär­men und verpes­te­ter Lunge, antwort­los und einsam … zwischen den unüber­seh­ba­ren Massen­grä­bern und den kalten Götzen der gigan­ti­schen beton­klot­zi­gen veröde­ten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahn­sin­nig, lästernd, klagend — und seine furcht­bare Klage: WARUM? wird unge­hört in der Steppe verrin­nen”.

Das Ehren­mal, in dessen stili­sier­ten Garten­recht­eck ich jetzt durch die über glatte Steine aufstei­gende Haupt­straße gehe, ist haupt­säch­lich ein Massen­grab. Ich gehe an den Grab­qua­dra­ten vorüber und an den Stalin­wor­ten, golden auf weißem Kalk­stein, steige auf zu dem bron­ze­nen Schwert­trä­ger, sehe das zerschla­gene Haken­kreuz über meinem Kopf. Rinnende Patina färbt den Stein. Die Pappeln stehen aufrecht, die Birken in frischem Grün, außen die Plata­nen, die so schutz­los ausse­hen unter der gebro­che­nen Borke. Die Anlage ist schön, der Blick geht über die Baum­spit­zen. Hinten kommen die Trep­towers hervor, sonst sieht man auch hier nichts von der Stadt, man hört sie. Die Bundes­re­pu­blik hat sich staats­ver­träg­lich verpflich­tet, diese Anlage immer gut zu pfle­gen; das geschieht; ein Arbei­ter mäht mit hoch­sum­men­der Maschine die Rabat­ten neben den Grab­fel­dern.
Das Wort, das hier am häufigs­ten zu lesen ist, ist das Wort Ruhm. Was ist Ruhm für die, die tot sind? Ich gehe zwei­mal um die Anlage herum, erst auf der inne­ren, dann auf der äuße­ren Seite des stern­ge­schmück­ten Gitter­zauns, über stili­sier­tes Blatt­werk aus Stein und über schwarze feuchte Erde.
Die 16 weißen Fahnen­mas­ten am Ausgang zur Pusch­kin­al­lee (und auch die auf der ande­ren Seite) sind unbe­flaggt. 2 mal 8 Kenota­phe drin­nen, 16 Fahnen­mas­ten drau­ßen, Baede­cker sagt: weil es vor einem halben Jahr­hun­dert 16 Sowjet­re­pu­bli­ken gab.
Das zählt jetzt niemand mehr nach, die Sowjet­union ist in die Geschichte verschwun­den. Ein blauer Last­zug von Alba fährt donnernd vor, der Fahrer springt heraus und geht pfei­fend über die Straße, um einen Kolle­gen zu tref­fen.

Ich über­quere die Pusch­kin­al­lee, in den Blumen­gar­ten, zum Hafen der weißen Schiffe, die nach Bundes­län­dern und nach Bezir­ken heißen, das Hafen­büro ist zu, die Verkäu­fe­rin an der Kasse von Stern und Kreis wartet vergeb­lich auf Kunden. Für die Jahres­zeit zu kalt, hieß es im Wetter­be­richt.
Ich wärme mich im “Ambi­ente” unter dem S‑Bahnbogen, Bock­wurst und Wiener Kaffee, Toilette nur für Gäste. Wenn es Sommer und warm ist, komme ich wieder, um auf den Stufen über dem Kurgan unter den Stie­feln des Bron­ze­sol­da­ten zu sitzen und mich wieder zu fragen, was ich tun kann, damit kein Staat irgend­wem befeh­len kann, für irgend­was zu ster­ben.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Georg Slickers (CC BY-SA 2.0)

print

Zufallstreffer

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*