Palisaden

Vom U‑Bahnhof Weber­wiese zum U‑Bahnhof Straus­ber­ger Platz: mit der U‑Bahn kann man sich so schnell vom einen ins andere Stadt­quar­tier verset­zen, dass man geis­tig gar nicht mitkommt und, herauf­ge­stie­gen, das Erleb­nis genie­ßen kann, in der eige­nen Stadt und doch ganz woan­ders, fremd und zu Hause zu sein. In der Schule dieser Gefühle ist Berlin derzeit über­haupt Spitze.
Für die Lehre der Verfrem­dung des Bekann­ten, der Bezweif­lung des Siche­ren, der Umge­wöh­nung des Gewohn­ten ist das Berlin der 90er Jahre eine Schule der höhe­ren Grade, Gymna­sium der Verän­de­run­gen des Gleich­blei­ben­den.

Ich komme aus Pankow. Mein alter Berufs­ge­nosse C.W. Müller hat dort zur Einwei­hung, Weihung?, der Sucht­be­ra­tungs­Stelle des SPI einen anrüh­ren­den Vortrag über die Kulti­vie­rung der Gefühle gehal­ten, weil er nicht Erzie­hung der Gefühle, educa­tion senti­men­tale, sagen wollte. “Dass wir hier ange­kom­men sind, die wir doch wenigs­tens Halb­so­zia­lis­ten sind, in der Groß­bür­ger­lich­keit des Amali­en­parks!”, habe ich geru­fen und war fast von mir selbst gerührt.
Und bin es, als hätte ich für das bessere Leben schon selbst den Kopf hinge­hal­ten, noch immer, als ich von der Straße der Pari­ser Kommune nach links abbiege. Zur Rech­ten schiebt sich in den 50er-Jahre-Stil der Stalin-Marx-Allee ein im kühlen Sonnen­licht glän­zen­der Zeit­geist­turm vor, hält sich am Ende einer leicht anstei­gen­den Pflas­ter­flä­che hinter der Flucht­li­nie zurück, aber ist doch unüber­seh­bar Produkt eines ande­ren — soll man sagen: moder­ne­ren — Archi­tek­tur-Denkens, um die sanfte Wider­sprüch­lich­keit zu genie­ßen, die unten in der gläser­nen Recht­wink­lig­keit das sich gotisch schrei­bende Alpen­län­di­sche Gast­haus weiß-blau illus­triert.
Von oben, aus den höhe­ren Etagen dieser KM-Allee Nr. 91, 90a muss man einen senti­men­ta­len Blick haben auf den Fried­hof an der Frie­den­straße, der sich anhebt über die ehema­li­gen Braue­rei­kel­ler bis zur Lands­ber­ger Allee, wo ihm der Eingang zum Kran­ken­haus gegen­über­liegt, als sei es ein Ausgang.

Dem Fried­hof gegen­über beginnt die Pali­sa­den­straße, hell und erneu­ert auf der Südseite, vom sach­ten Grün ins gedämpfte Rosa-Braun verlau­fend, bald Nr. 48, alt und schwarz-grau, neben den erneu­er­ten Nach­bar­häu­sern, vom östli­chen sich gute zehn Meter zurück­zie­hend: eines der beiden Häuser, die ich aus dieser Straße kannte, ehe ich das erste Mal hier war:
Eines der ältes­ten Elek­tri­zi­täts-Werke Berlins, 1899 bis 1900, von den Brüs­tungs­fel­dern der Stra­ßen­fas­sade blicken die drei Elemente herab: drei Köpfe ohne Körper, ist Strom denn ein Element?
Mein Groß­va­ter war schon ein erwach­se­ner Mann, als die Elek­tri­zi­tät hier­her kam. Das rechne ich mir aus, damit mir klar wird, wie nahe ich selbst der Zeit stehe, in der Beleuch­tung schwie­rig war. Wenn ich das Fort­schritt nennen wollte, müsste ich an diesen anfangs ganz unbe­leuch­te­ten Groß­va­ter denken, den anti­mi­li­ta­ris­ti­schen Glaser­meis­ter, über den keiner der Lehr­meis­ter hinaus­ging in meinem 60jährigen Leben.
Vorhin habe ich ihn zitiert, in Pankow, als ich einen Lehr­satz brauchte. Wenn ich diesen Satz aufschriebe, wäre es ein Satz von mir, denn mein Groß­va­ter sprach nicht viel und wenn er es tat, nannte er nicht die Lehr­sätze, sondern ihre Anwen­dung auf prak­ti­sche Lebens­fälle.

Mit solchen Privat­ge­dan­ken bin ich an den erneu­er­ten Häusern der Pali­sa­den-Süd-Seite und den zu erneu­ern­den der Nord­seite entlang fast bis zur Ecke Koppen­straße gekom­men. Das ist eine der ältes­ten Stra­ßen der Gegend. Als sie ange­legt wurde, lebte Goethe noch nicht. Und war gerade ein Jahr tot, als die Pali­sa­den­straße in ihrer festungs­haf­ten Vorstäd­tisch­keit ihren Namen erhielt, der nun länger gehal­ten hat als die Erin­ne­rung, die er benennt.
Die spätere Fried­richs­ber­ger Straße hieß nach der klei­nen Ansied­lung, die hier bis in die Mitte des 19. Jahr­hun­derts in einer Länd­lich­keit bestand, die schnell einge­holt wurde von dem unge­stüm wach­sen­den Berlin: Berlin der Knechte und Skla­ven, kann man sagen, denn das Vier­tel, das die Bomben des zwei­ten Welt­kriegs hier nieder­leg­ten, bestand aus den Wohn­stät­ten der Opfer der Geschichte, die sich frei­lich so schnell zu Mittä­tern machen ließen, dass jedes Arbei­ter­klas­sen-Selbst­be­wusst­sein zuschan­den wird.
Aus der Pali­sa­den­straße blicke ich in die Höfe hinter der KM-Allee, deren Pracht­stra­ßen­haf­tig­keit immer noch Zeug­nis gibt für ganz andere städ­te­bau­li­che Gedan­ken­gänge. Die Pali­sa­den­straße bekommt von diesem neuen Stadt­den­ken der entste­hen­den DDR, jeden­falls von der Koppen­straße an, wo sie sich platz­ar­tig erwei­tert, ihren Teil ab. Die schma­len Wohn­blö­cke versu­chen die Stra­ßen­flucht­li­nie zu brechen, die die Vorgän­ger­fas­sa­den hier in stren­ger Vorgeb­lich­keit errich­te­ten.
Da bin ich bei der St.-Pius-Kirche, einer katho­li­schen Pfarr­kir­che; ener­gisch ummau­ert und umzäunt, steht sie hier wie ein himm­li­sches Raum­schiff auf einer Erden­in­sel. Sie sieht übrig­ge­blie­ben und redu­ziert aus. Aber es wird manche geben, die die Aktua­li­tät dieser Kirche für einen Sieg über die Geschichte halten.
Die katho­li­sche Pfarr­ge­meinde, die hier zu Ende des 19. Jahr­hun­derts ihre Kirche baute, ging vorsich­tig zu Werke. Erst zwei Miets­häu­ser, aus den Miet­ein­nah­men: die Kirche, die mit ihrem Turm fast 90 Meter hinauf­ragte in die Nähe dessen, von dem Hilfe kommt.

Die Miets­häu­ser sind wegge­bombt, von wem? Wer ist für die Bomben zur Verant­wor­tung gezo­gen worden? Ach, das muss ich nicht gerade hier fragen. Das kann ich in Berlin an vielen Stel­len fragen; ein Pazi­fist findet schwer eine Erklä­rung für Totschlag; auch den gerech­ten Totschlag, den Totschlag zu guten Zwecken möchte er nicht vertei­di­gen und verwi­ckelt sich in seine Wider­sprü­che ohne den ernst­haf­ten Willen, sich daraus zu befreien. Mit solchen Geis­tes-Abschwei­fun­gen verwirre ich mir die kriti­schen Gedan­ken gegen Hermann Hensel­mann und die ande­ren Autoren der Stalin­al­lee, die der Pius-Kirche den hohen Turm verbo­ten, weil er das Stalin-Denk­mal über­ragte und der neuen Reli­gion wider­sprach, zu der die neue Allee hinfüh­ren sollte.
Die Geschichte des Pius-Turms ist ein Lehr­stück. In seiner Kurz­fas­sung ist er immer­hin noch da, Stalin ist weg und seine Allee dürfte nach mancher Polit-Meinung kaum nach Karl Marx heißen, der nieman­den umge­bracht hat.
Der Schul­weg neben der Kirche trennt das stille verschlos­sene Gottes­haus von der zur lauten Baustelle verdich­te­ten Schule, die hier eine “Doppel­sport­halle” erhal­ten soll. “Sport­be­zo­gen” nennt sie sich. Während ich sie betrachte, weht mir der Wind den Staub zwischen die Zähne. Es knirscht. Hinter der Fried­richs­ber­ger Straße öffnet sich die Pali­sade zu huma­ner Hofhaf­tig­keit, Tages­stät­ten, Schu­len: Kinder in der Mitte: ein pädago­gi­sches Quadrat, rechts hinten das Erich-Fried-Gymna­sium, das seinem Namens-Patron Ehre macht.

Im Clas­sic-Cafe am Straus­ber­ger Platz, wo ich jetzt diesen Text schreibe, balan­cie­ren drei junge Damen (möchte ich fast sagen) aus dieser Schule die Ziga­ret­ten elegant zwischen den langen Fingern, in zurück­hal­ten­der Konkur­renz mit einem jungen Mann spre­chend, der wie Paris das Wohl­wol­len seiner Rede sorg­fäl­tig verteilt. “Ick würde sagen”, sagt er schließ­lich, “Ami go home!” Que sera, sera, singt Doris Day im Hinter­grund und die schönste der jungen Frauen wiegt ihren hohen Ober­kör­per zu der Melo­die, die aus der Jugend eine Verhei­ßung von Liebe und Treue macht.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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