Der Landwehrkanal rauscht

Demnächst mache ich einen Spazier­gang hier, zu Hause, einmal ums Karree, kleine Freu­den, Wunsch­er­fül­lung: heute mach ich’s.
Dieser Spazier­gang beginnt also dicht in der Nähe des Hoch- und Unter­grund­bahn­hofs Möckern­brü­cke, der zugleich selbst eine Brücke ist über den Land­wehr­ka­nal zwischen Möckern- und Groß­bee­ren­brü­cke: ein dich­ter Groß­stadt­ort, Stra­ßen­mu­sik, train-station-indoor-music, Penner, Drogis, in der Nähe gibts Metha­don, und der Möckern­grill: taffe Frauen an der Theke, wirk­li­cher als in der Fern­seh­se­rie. “Ein Mett und ein Rührei‑, zum Mitneh­men”, das ist oft meine Morgen­be­stel­lung, zwei halbe Bröt­chen, Salat­blatt, zwei Gurken­schei­ben, biss­chen Schnitt­lauch, drei­sech­zig und einen so freund­li­chen Gruß, dass man sich freuen muss, wenn man am ganzen Tag noch einen zwei­ten solchen kriegt. Bis zum Verlags­haus unse­rer Zeitung ist es von dort nur ein kurzes Stück das Tempel­ho­fer Ufer west­wärts.
Die Archi­tek­ten von Tempel­ho­fer Ufer 23/24 hießen Wolf­fen­stein und Cremer. Zu ihrer Zeit waren das Spit­zen­leute, einer Archi­tekt, der andere Kauf­mann: eine wirk­same Part­ner­schaft; wird heute wieder Mode. Das Haus, in dem ich diesen Text jetzt schreibe, bauten Wolfen­stein und Cremer für Oren­stein & Koppel, Berlin-Duis­burg-Lübeck; Loko­mo­ti­ven, Eisen­bahn­ma­te­rial, Löffel­bag­ger, viel­leicht auch Rüstung zu gege­be­ner Zeit; da gab es ja genug zu tun in diesem deut­schen Jahr­hun­dert. Ich mag das Haus. Es gefällt mir. Es sieht welt­läu­fig aus. Wenn man das von einem Haus über­haupt sagen kann. Häuser stehen fest, wir hoffen es jeden­falls, aber sie bewe­gen sich trotz­dem. Alles, was an der Geschichte teil­hat, an der vorüber­ge­hen­den Zeit, wandelt seine Gestalt.

Ende Novem­ber, der Tag des ersten Schnees. “Der hohe Stra­ßen­rand, auf dem wir lagen / war weiß”: eines der berühm­tes­ten Berlin-Gedichte: “weiß von Staub” nee, heute ist das Schnee. Zur Warnung fällt gleich vor mir ein Mann auf die Nase. Die Bier­dose rollt auf die Straße, die sich Ufer nennt, damit der Fremde an Strand denken soll. Das hat er dann davon.
“Uner­hört”, sagt eine ältere Frau; sie meint die multi­kul­tu­rel­len Kinder, die eben in der Schule Schluss haben, die hinter den Häusern auf dem Hof liegt. Sie grei­fen sich Schnee­bälle von den Dächern der parken­den Autos, man sieht in ihren Augen­win­keln, wen sie gleich tref­fen wollen. Uner­hört, natür­lich. Ich denke an meinen Vater; 100 Jahre alt, wenn er lebte. Nach­dem er tot ist, lebt er in der Erin­ne­rung eines 60-jähri­gen, dem er von seiner schö­nen Kind­heit erzählte. Sein Vater war Tisch­ler, hatte ihm das Blas­rohr extra geschnit­ten, mit dem man kleine Kitt­ku­geln verschie­ßen und Erwach­sene veran­las­sen konnte “Uner­hört” zu rufen. Eine dieser Erwach­se­nen hieß Frau Bayer. Sie starb in den Hunger­jah­ren nach dem ersten Welt­krieg, und nun lebt sie in Kreuzberg/Berlin in dieser Schnee­ball­ge­schichte, weil mein Vater mir in meiner schö­nen Kind­heit erzählt hat, wie er mit dem Blas­rohr Kitt auf die Fens­ter von Frau Bayer geschos­sen und Frau Bayer mit schril­ler Stimme ausge­ru­fen hat: “Uner­hört”. Wer weiß, wie wir leben, wenn wir tot sind.

Ich spaziere erst­mal ins “freßco”, durch den Mörder­gang; es ging die Geschichte, dass in diesem Durch­gang eines Morgens ein Toter gele­gen hatte und man wusste nicht, wer er war und wer es war: von der Groß­bee­ren­straße, gegen­über der ragen­den Post­bank, neben dem Groß­bee­ren­kel­ler, dem orts­be­rühm­ten Lokal, zu den man hinab­steigt, am Hebbel-Thea­ter entlang, in dem aber niemals Hebbel gespielt wird, mit Hofblick auf den anstän­di­gen rötlich-grünen Block, mit dem die GSW hier endlich die Ecke verdich­tet hat: das ist eine Abkür­zung von der Groß­bee­ren­straße zur Stre­se­mann-. Gegen­über liegt das SPD-Haupt­quar­tier, noch im Warte­stand, die Partei ist noch in Bonn. Hier in ihrem post­mo­de­men Gehäuse wird sie es nicht leicht haben. Sie steht hier zu dicht an ihrer Geschichte, Vorwärts­haus, Partei­zen­trale in den 20-er/30-er Jahren, in denen die SPD so viel falsch gemacht und unter­des­sen nicht aufge­ar­bei­tet, sondern mit falschen Helden­lie­dern nieder­ge­sun­gen hat. Nur ein kurzes Stück weiter nörd­lich hatte der Sohn eines SPD-Mitgrün­ders, Wilhelms Sohn Karl Lieb­knecht, gerade noch recht­zei­tig geru­fen: Nieder mit dem Krieg. Aber die Mehr­heits-SPD wollte lieber den Mord­krieg gegen die Genos­sen im Nach­bar­land. Ebert, Schei­de­mann und die ande­ren Arbei­ter­füh­rer damals: das waren nicht die Leute, die die Zeit gebraucht hätte. Und ihre direk­ten Nach­fol­ger erst recht nicht. Als die — wenn auch mit einem letz­ten muti­gen Wort — vor Hitler davon­lie­fen, war Willy Brandt, nach dem das neue Partei­quar­tier heißt, nicht in der SPD, sondern in der SAP, die aber auch keine ande­ren Alter­na­ti­ven hatte als Flucht und Versteck. Die Stra­ßen, zwischen denen der spitze SPD-Bau steht, heißen nach Wilhelm und Stre­se­mann: keine sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Namen.
Neben dem “freßco” liegt das Haus, in dem Bismarck zur Schule ging. Darin sind jetzt AWO-Einrich­tun­gen. Die Sozi­al­päd­ago­gen kommen gern in das kleine Lokal mit dem vege­ta­ri­schen Ange­bot. Manch­mal kann man hier noch den alten sozi­al­päd­ago­gi­schen Ton hören, in dem in den 70-er Jahren so viele Betrof­fene rede­ten. Einer Frau und ihrem schweig­sa­men Beglei­ter folge ich ein Stück­chen. Sie verab­schie­den sich unfroh.

Der Wind bläst über die Groß­bee­ren­brü­cke. Der Land­wehr­ka­nal, die Brücken über den Land­wehr­ka­nal und die Hoch­bahn: die erste deut­sche Hoch­bahn­stre­cke, unge­fähr so alt wie mein Vater, 1897 von Siemens gebaut und von der Deut­schen Bank. Die Archi­tek­ten des tollen Viadukts aus weiten Zwei­ge­lenk­bö­gen mit Spann­wei­ten von zwölf bis einund­zwan­zig Meter, hießen Hein­rich Schwie­ger, Johan­nes Bous­set, Adolf Lerche, die Baulei­tung hatte Adolf Gier. Solche Leute kennt man nicht. Die schrei­ben sich in die Geschichte nicht mit Namen ein, bloß mit Werken. Hier sind sie. Von den tollen Bahn­hö­fen an dieser Stecke bauten auch Wolf­fen­stein und Cremer, unsere Haus­ar­chi­tek­ten, einen, einen beson­ders präch­ti­gen: Nollen­dorf­platz, längst nicht mehr so byzan­ti­nisch schön, wie er zu Beginn des [vori­gen] Jahr­hun­derts war.
Ich biege in die Möck­ern­straße ein. Will nichts wissen von Möckern und dem Krieg, in dem der säch­si­sche Ort seine Geschichte hat und das Grab abgibt für 20.000 Männer. Und viele Pferde, die erst recht nichts dafür konn­ten. Die “Befrei­ungs­kriege” befrei­ten nichts, das Denk­mal hinten auf dem Kreuz­berg ist eine Lüge. Es ist umhüllt, viel­leicht schämt es sich.
Oben­traut war ein Reiter­ge­neral. Das soll man gar nicht wissen, wenn man die nach ihm benannte Straße entlang geht, auf das Museum für Verkehr und Tech­nik zu, das jenseits der Bahn an der Treb­bi­ner Straße eine Wander­tags­at­trak­tion ist. Über unse­ren Hof hier nehmen manche Kundige unzu­läs­sige Abkür­zun­gen zum Ufer. Ich bin berech­tigt.

“Diet­her! Diet­her!” ruft unsere freund­li­che Vermie­te­rin, “bist du taub?” Ich habe nur geträumt.
Spazie­ren­ge­hen ist eine gute Traum­schule, die Einzel­hei­ten setzen sich neu zusam­men, das Puzzle der Wahr­neh­mun­gen ordnet sich nach seiner eige­nen Will­kür­lich­keit. Man sieht nicht nur das, was man sehen muss, und denkt nicht nur das, was man denken darf. “Es kommt der Tisch mit den Gaben / er biegt um ein Eden … Der Land­wehr­ka­nal wird nicht rauschen. Nichts stockt”, dich­tet Paul Celan: das Stocken steht schon eine Zeile tiefer. Darüber denke ich nach, auf das gegen­über­lie­gende Fami­li­en­ge­richt blickend, das modernste Gebäude der Gegend, vom Zeit­geist­ar­chi­tek­ten Oswald Mathias Ungers, die gelben U‑Bahnen sausen vorüber; eigent­lich sausen sie nicht, bewe­gen sich aber ener­gisch, zuver­läs­sig über den Land­wehr­ka­nal, der stockt; aber manch­mal doch rauscht.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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