Bilder

Wann sagt man von Bildern, dass es Lieb­lings­bil­der sind? Als es mir zu einer gewis­sen Zeit meines Lebens nicht gut ging, ging ich oft sonn­tags nach Dahlem in die Gemäl­de­ga­le­rie West und sah mir Joshua Grigby an. Von Joshua Grigby wusste ich nichts, außer dass er, ein Englän­der, im 18. Jahr­hun­dert gelebt hatte und dass er ein Gegner der Skla­ve­rei war. Er hatte spre­chende braune Augen und einen sowohl zärt­li­chen wie ener­gi­schen Mund. Das ist selten. Auf Joshua Grigby kann man sich verlas­sen. Eine Zeit­lang konnte ich mir vorstel­len, dass Lady Sunderlin, eine sonst zurück­hal­tende und nur infolge der Einma­lig­keit ihrer Liebe leiden­schaft­li­che Frau, mit dem zugleich hinge­bungs­vol­len wie beherz­ten Blick ihrer eben­falls brau­nen Augen, dem Rechts­an­walt Grigby entge­gen­sieht, der ein biss­chen auf sich warten lässt.
Diese beiden Dahle­mer Lieb­lings­bil­der — Grigby gemalt vom großen Thomas Gains­bo­rough, die Lady von Joshua Reynolds — hängen jetzt, als ob man bei mir nach­ge­fragt hätte, neben­ein­an­der im eindrucks­vol­len Raum 20 der Neuen Gemäl­de­ga­le­rie an der Sigis­mund­straße. Ich kann nun hinten, hinter der Säule, sitzen, auf den elegan­ten Holz­bän­ken im Erker, im Rücken meines Jugend­paa­res, und wenn ich entwe­der hinaus­sehe auf die Sigis­mund­straße oder träu­me­risch in den Raum hinein, kann ich eine Vergan­gen­heit meines eige­nen Lebens in Gegen­wart verwan­deln, an die ich mich sonst nicht mehr erin­nere.

An diesem Janu­ar­diens­tag, gegen vier Uhr nach­mit­tags, dachte ich plötz­lich an Lady Sunderlin. Vom Tempel­ho­fer Ufer bis zur Neuen Gemäl­de­ga­le­rie ist es nicht weit. Erst gehe ich ein Stück am Land­wehr­ka­nal entlang. Ein schö­ne­res Stück Land­wehr­ka­nal gibt es nicht, als das, über das die U1 die Seiten wech­selt, gerade an der Stelle, an der auch die Eisen­bahn­brü­cke übers Wasser führte zum Anhal­ter Bahn­hof, den die Welt­ge­schichte mit sich genom­men hat, als sie hier vorüber­ging in ihrem weiten Mantel. Rechts liegt James Hobrechts Pump­werk mit der schö­nen Esse, jetzt “Lapi­da­rium”, Haus der Steine, dicht an der Grenze von Kreuz­berg zu Tier­gar­ten.
Den ganzen Weg lang sieht man jetzt das debis-Haus in seinen warmen italie­ni­schen Farben. An diesem Diens­tag hätten Sie mit mir gehen müssen! Die Sonne lag auf den Terra­kot­ten der Fassade, und sogar das debis-Grün oben, obwohl nur aus Metall, leuch­tete vor einem verblas­sen­den blauen Himmel wie… wie… es war so schön, dass man dafür keinen Vergleich braucht, unver­gleich­lich.

Mit dem 129er fuhr ich bis zur Pots­da­mer Brücke und stieg — ich könnte sagen: schritt — die brei­ten Stufen hinauf auf das Plateau der Neuen Natio­nal­ga­le­rie, durch deren gläser­nen Ober­bau man derzeit hindurch­se­hen kann; da sieht man nörd­lich die Phil­har­mo­nie, deren Gold­fas­sade nun mit dem debis-Haus rechts und den ande­ren Instal­la­tio­nen zum Pots­da­mer Platz eine Konkur­renz bekom­men hat, die ihr Gold nörd­lich ausse­hen lässt; das debis-Gold — oder sagen wir mit dem Namen des Archi­tek­ten: das Piano-Gold — ist in der Abend­sonne italie­nisch, südlich, wie die Erde der Toskana. Linker Hand liegt — wie aus der Bonbon­niere das Wissen­schafts­zen­trum; mein Freund Johann Geist, der Archi­tek­tur­his­to­ri­ker, den ich gegen­über aus dem Fens­ter sehen könnte, sagt in Rich­tung auf den engli­schen Archi­tek­ten: “Da hat Stir­ling einen Witz gemacht!” Ein wissen­schaft­li­cher Kollege von mir sagt: “Das ganze Wissen­schafts­zen­trum ist ein Witz”.
Dahin­ter liegt das Bewag-Haus. “Da musst du hin, wenn du nicht bezahlt hast, und sie haben dir den Strom abge­stellt”, sagt Paul Kein, unser Desi­gner, “jeden­falls war es in West­ber­lin so.”

Unter meinen Füßen liegt jetzt Gaugin, die Ausstel­lung im Souter­rain — Keller will ich nicht sagen, um Mies van der Rohes Entwurf nicht zu schmä­hen, dauert noch an; “und wenn man ihn einen Kinder­schän­der nennt?” sagt meine Lebens­freun­din vorsich­tig, nach­dem wir ausge­rech­net hatten, wie alt die Frauen waren, denen Gaugin Kinder machte.
Von hier aus sind es zur Neuen Gemäl­de­ga­le­rie keine zwei­hun­dert Meter. Die Straße, die man über­que­ren muss, heißt nach einem Kind; Sigis­mund war ein Kaiser­sohn, Wilhelm I., deut­scher Kaiser, König von Preu­ßen, und die Queen Victo­ria, engli­sche Köni­gin, Kaise­rin von Indien, waren seine Groß­el­tern; er selbst ist keine zwei Jahre alt gewor­den. Die Gemäl­de­ga­le­rie, die nun an seiner Kind­straße liegt, hieß in einer frühe­ren Epoche ihrer Geschichte nach seinem Vater: Kaiser-Fried­rich-Museum; das haben wir alles hinter uns; der Gemäl­de­ga­le­rie wäre es egal, wenn die Straße, an der ihre Neben­front liegt, die inhalt­lich die Haupt­front ist, irgend­ei­nen ande­ren Kinder­na­men führte; bloß keinen poli­ti­schen Namen, den man später ausstrei­chen muss: die Matthäi­kirch­straße neben Stülers Kirche, um die sich früher die geschlos­se­nen Fassa­den schlos­sen, hieß bei den Nazis Stan­dar­ten­straße, nach den Batail­lo­nen der SA und SS.
Gott­sei­dank, das haben wir auch hinter uns, die Stan­dar­ten sind wieder einge­rückt ins zivile Leben, als ob es sie nie gege­ben hätte. Die Kirche ist noch da, nach­her, wenn ich vor dem Haupt­ein­gang der Gale­rie und des ganzen “Kultur­fo­rums” stehe, steht ihr Campa­nile schlank und einsam vor dem blauen Abend­him­mel, den die schon unter­ge­gan­gene Sonne ein biss­chen rötet.

Das Eindrucks­vollste sind im Augen­blick die Krähen. Früher saßen sie an der Grenze zwischen Tag und Nacht auf dem First von Hans Scharouns alumi­ni­um­gel­ber Staats­bi­blio­thek, die von hier aus mit Renzo Pianos debis-Turm zu einer phan­tas­ti­schen Einheit verschmilzt. Sie genos­sen die warme Abluft, die von den Büchern und den Lesern herauf­zog.
Jetzt sind die schlauen Vögel über­ge­sie­delt zur Gemäl­de­ga­le­rie, sie drän­gen sich um die Lunette über der Rotunde, mit der die Gale­rie am west­li­chen Ende der etwas bahn­hofs­haf­ten Eingangs­halle zugleich beschei­den und selbst­be­wusst beginnt. Was sie da unter sich sähen, das ganz in sich aufzu­neh­men, dafür fehlt den Krähen gewis­ser Sinn. Selbst wenn der Laven­del blüht, auf dem die Archi­tek­ten zwischen Straße und blass­gel­ber Terra­kot­ten­wand bestan­den, selbst dann wirken die Außen­fron­ten der Gale­rie, die ich jetzt ganz umrunde, auf mich nicht italie­nisch und — im Gegen­satz zu den Buch­be­schrei­bun­gen — erin­nern sie mich auch nicht an Schin­kel. Mich erin­nern sie mehr an Speer und an die Stan­dar­ten von vorhin. Aber innen, wenn man durch die Rotunde hindurch ist und der große Eingangs­saal kommt, den die Krähen nicht würdi­gen wollen, erwärmt sich das Herz: die Reprä­sen­ta­tion ist nicht nur zum Bewun­dern, worauf man beschränkt wäre, wenn sie außen läge, sondern zum Genie­ßen, weil sie nun innen ist und man auf den Holz­bän­ken sitzen kann, die an den weißen Wänden rundum laufen.

Unter­des­sen ist es zu spät gewor­den für Grigby und seine Lady; die Gale­rie schließt um 6. Der Abend hat begon­nen. Ich verweile am Haupt­ein­gang und blicke hinüber in die Pots­da­mer Straße, die die beiden entste­hen­den Büro­türme an ihrem Ende, an denen die Lich­ter auf und ab laufen, mit dem Nacht­him­mel verbin­den: “See you tomor­row!” Ich versu­che mich an gestern zu erin­nern, als hier nichts war, keine Gemäl­de­ga­le­rie, kein debis, nicht Sony, Hyatt, Cine­maxx, das Dunkel, die Mauer, die Vergan­gen­heit, jetzt ist alles Zukunft.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)
Foto: A. Savin, Wiki­Com­mons

print

Zufallstreffer

Moabiter Orte

Paech-Brot

Dort wo sich heute das Einkaufs-Center Moa-Bogen befin­det, stand seit 1927 die Groß­bä­cke­rei von Eber­hard Paech. Ursprüng­lich war sie von außen gar nicht zu sehen, da an der Stra­ßen Wohn­häu­ser stan­den, die aber im Krieg […]

Internet

Yolocaust

Vor eini­gen Tagen hat der AfD-Rechts­ex­tre­­mist Björn Höcke das Holo­­caust-Mahn­­mal in Mitte als Schande bezeich­net und gefor­dert, die Erin­ne­rung umzu­keh­ren. Die Nazis wollen das Geden­ken an dieses größte Verbre­chen der Mensch­heit auslö­schen. Deshalb hetzen sie […]

Kein Paradies

Freiheit?

Was ist Frei­heit? Das Gefühl „der Berli­ner“, die doch nur die West-Berli­­ner waren? Und im Osten die armen Brüder und Schwes­tern? Unfrei. Hatten die West-Berli­­ner Frei­heit? Die Frauen, die erst 12 Jahre vor der Mauer­öff­nung […]

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*