Die Stadt ist kein Museum

Mit der S4 um die halbe Stadt, mit der Tram Nummer 5 quer durch Hohen­schön­hau­sen: und doch brau­che ich nur wenig mehr als 50 Minu­ten von der Lebhaf­tig­keit des oberen Kurfürs­ten­damms hier heraus an die Gehren­see­straße, wo ich nach­dem die Stra­ßen­bahn um die Kurve in die Warten­ber­ger Straße verschwun­den ist — an diesem windi­gen April­vor­mit­tag einen Augen­blick das Gefühl habe, am äußers­ten Stadt­rand ziem­lich allein zu sein.
Diese Gegen­sätz­lich­keit der Stadt­emp­fin­dung ist mir nun längst vertraut. Dass man so schnell Zentrum und Peri­phe­rie vertau­schen kann, dass man denkt, die Zeit von Stun­den erlebt zu haben und es waren doch nur Minu­ten, das ist eine der Attrak­tio­nen, die die Metro­pole Berlin viel­fäl­tig bereit­hält.

Es sind nur ein paar Meter von der windi­gen Tram­hal­te­stelle mit ihren Verlas­sen­heits­ge­füh­len bis zur in der Stra­ßen­kurve abzwei­gen­den Paul-Koenig-Straße und im Nu erfüllt mich statt Stadt­ver­las­sen­heit ein ganz gegen­sätz­li­ches Gefühl: die Torhäu­ser, die die beiden Stra­ßen­rei­hen von Klein­häu­sern eröff­nen — im südli­chen unter freund­li­chem Schild “Ingrid’s Blumen­kunst” — verbrei­ten augen­blick­lich einen solchen Eindruck von Privat­heit, dass ich fast meine, um Erlaub­nis fragen zu müssen, indem ich eintrete in die Sied­lung.
Die Straße heißt seit 1920 — als der Ort zu Berlin kam — nach dem ersten und letz­ten bezahl­ten Gemein­de­vor­ste­her von Hohen­schön­hau­sen; die 43 Häuser rechts und links sind ein biss­chen jünger, die Gehag hat sie 1926 für Berlin bauen lassen, der Baumeis­ter war der berühmte Bruno Taut, der in Berlin so viel­fäl­tig seine Signa­tu­ren einge­zeich­net hat. Wenn man’s aber nicht wüsste, fiele es schwer, das Tauti­sche zu finden in dieser so genann­ten “Klein­haus­sied­lung”. Es sind auch wirk­lich kleine Häuser, zwei­ge­schos­sig, durch nied­rige Schup­pen und Stal­lun­gen verbun­den; die Platz­fron­ten hatte Taut vor nun bald einem Drei­vier­tel­jahr­hun­dert dunkel­rot, die Giebel blau und gelb strei­chen lassen, Fens­ter und Türen weiß und hatte so gewiss die berühmte taut­sche Einheit­lich­keit in der Verschie­den­heit erzeugt, die mit ande­ren Beispie­len noch immer die Archi­tek­tur­bü­cher begeis­tert.

Die Farben sind hier schon in der NS-Zeit verschwun­den; die Häuser sind aus einem gemein­nüt­zi­gen Gesamt­ei­gen­tum in indi­vi­du­el­les Einzel­ei­gen­tum gelangt, es ist also das gesche­hen, was die Eigen­tums­ord­nung des Bürger­li­chen Gesetz­bu­ches eigent­lich wünschen muss. Die Menschen haben mit ihren Häusern das gemacht, was sie schön und nütz­lich fanden und wozu sie das BGB berech­tigt. Was von Bruno Taut, dem Berühm­ten, hier geblie­ben ist, ist nicht Archi­tek­tur, sondern Städ­te­bau: die fast geniale Idee, die ihn aus zwei unge­rade aufein­an­der zu laufen­den Stra­ßen einen Platz machen ließ, der dem Klei­nen und Priva­ten etwas groß­zü­gig Öffent­li­ches gibt, ist noch sicht­bar, man muss sie nicht aus den Büchern entneh­men.

Es wohnen hier freund­li­che Leute; alle natür­lich sind nicht freund­lich — wie das unter Menschen so ist -, zwei oder drei fühl­ten sich beob­ach­tet und in eine falsche Öffent­lich­keit gezerrt, als Manfred Jagusch vorges­tern hier foto­gra­fierte; aber die ande­ren sind stolz auf das, was sie hier haben und zeigen es gerne, man wird tatsäch­lich in die Wohn­zim­mer einge­la­den und kriegt was zu trin­ken ange­bo­ten und hört von der Bürger­initia­tive und dem Ärger mit dem Landes­kon­ser­va­tor. Mir ist das aus der Seele gespro­chen. Ich bin sowieso ein Gegner des Denk­mal­schut­zes. Die Leute haben sich ihre Häuser so herge­rich­tet, wie es ihren Wünschen und Möglich­kei­ten entsprach, sagt Jagusch, der Foto­graf, und jetzt tun ein paar Kunst­his­to­ri­ker so, als ob sie dem Mann mit dem Gold­helm einen Schlapp­hut über­ge­malt hätten!
Aber die Stadt ist kein Museum; die Geschichte ist unsere Geschichte und nicht nur die der Berühm­ten und des Senats! Beifall! Bravo!

Während ich durch die Tita­straße gehe und zurück durch die Meusen­ba­cher, die an der Kirche vorbei­führt, die -“Zelt Gottes unter den Menschen” — auch eine, wenn auch eine viel spätere Geschichte erzählt und in einem Garten­weg endet, der mich zur Tita- und Paul-Koenig-Straße zurück­führt, während­des­sen also entsteht eine inner­li­che Empö­rung in mir über die Gewalt­tä­tig­keit eines Denk­mals­schut­zes, der die Menschen ängs­tigt.
Ich beru­hige mich, indem ich aus der Paul-Koenig-Straße durch die anschlie­ßende Dauer­ko­lo­nie Mühlen­grund spaziere, die freund­li­cher­weise einen Lage­plan ausge­hängt hat, der den Weg durch die Parzel­len weist, zurück zur Warten­ber­ger Straße.

Gegen­über flat­tern die Fahnen des Amts­ge­richts. Ich gehe hinein, um den Kolle­gen zu besu­chen, der der Direk­tor ist, aber er ist gar nicht mehr da, pensio­niert, die Zeit geht vorbei, meine Zeit läuft auch ab, denke ich sofort, während ich melan­cho­lisch im Ostcon­tai­ner eine frühere Studen­tin suche, die auch nicht da ist. Auf dem Gang treffe ich aber eine andere junge Frau, die vor Jahren in meinen Semi­na­ren saß, freund­lich erkennt sie mich wieder, es geht ihr gut, sagt sie, sie ist zufrie­den, “Und Sie?”, ach ja, ich auch, ich muss hinaus ins Freie, weil mir beinahe die Tränen kommen, in dem plötz­li­chen Bewusst­sein, dass alles endet, weil die Zeit vergeht. Drau­ßen an der windi­gen Halte­stelle Anna-Eber­mann-Straße verge­hen die Senti­men­ta­li­tä­ten.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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