Westend im Osten

Die Verwand­lun­gen — es ist das Tempo der Verwand­lun­gen, das Berlin so faszi­nie­rend macht. In weni­gen Minu­ten ist man ganz woan­ders. Das ist nicht in jeder großen Stadt so. Nicht jede große Stadt ist vergleich­bar schnell. “Woan­ders” heißt hier natür­lich nicht nur: an ganz anders beschaf­fe­nem Ort, sondern: in einer ganz ande­ren Stadt­stim­mung. Wovon man viel­leicht nur zwei Vier­tel­stünd­chen getrennt ist, davon fühlt man sich Jahre fort — weit entfernt.
Als ich in Hirsch­gar­ten schließ­lich vom Wiesen­rain nach rechts in die Stil­ler­zeile einbog, dachte ich: Bad Schwar­tau — die Gegend hat etwas von Bad Schwar­tau (das sage ich, weil ich Bad Schwar­tau kenne, meine Leute wohnen dort), aber sowie ich das denke, denke ich auch: falsch gedacht; es sieht zwar ganz unver­gleich­lich anders aus als an der Warschauer Brücke, von der ich hier­her 20 S3-Minu­ten brauchte, aber trotz­dem haben das Dort und das Hier Wesent­li­ches gemein­sam.

Was? Woran merkt man drau­ßen unter dem blühen­den Flie­der und den grünen Pappeln, dass das Berlin ist (und eben nicht Bad Schwar­tau)? Viel­leicht merkt man es gar nicht. Man denkt es nur, weil man weiß, dass es Berlin ist (das heißt: weil man ganz selbst­ver­ständ­lich von den poli­ti­schen Zuord­nun­gen auf die Exis­tenz — oder auf die Essenz? — schließt). Nicht die Häuser und die Gärten, sondern die Menschen machen die Wirk­lich­keit.

Ich gehe von der Stil­ler­zeile das Stück­chen durch den Gilgen­bur­ger Pfad zum Erpe­f­ließ hin und zurück, durch den Mari­en­wer­der Weg, vom Fürs­ten­wal­der Damm durch den nied­ri­gen, back­stein­um­mau­er­ten Durch­gang in den Lieb­stad­ter Gang; “Gang” heißt die Straße, als ob das hier Alt-Lübeck wäre, aber es ist Berlin-Hirsch­gar­ten von 1929; Hinden­burg war aller­dings schon Reichs­prä­si­dent und die Weima­rer Repu­blik neigte sich zu ihrem Ende. Das muss man nicht wissen. Man muss Geschichte über­haupt nicht wissen; es ist ein Vorur­teil, dass wir von der Geschichte viel hätten, als ob es aus ihr etwas zu lernen gäbe. Wir lernen ja nicht; die Geschichts­leh­rer sagen selten die Wahr­heit … Warum bin ich so aufge­regt, warum zittern mir die Kate­go­rien?

Der Lieb­stad­ter Gang biegt sich elegant zur Gilgen­bur­ger Straße, die sich ihrer­seits nach der ande­ren Himmels­rich­tung zwischen den stol­zen Pappeln hindurch schwingt.
Die “West­end-Sied­lung” ist vor allem eine sehr schöne städ­te­bau­li­che Anlage; das Grün der Innen- und Außen­höfe verbin­det Innen und Außen, Öffent­lich­keit und Privat­heit in einer unauf­ge­reg­ten, versam­mel­ten Weise.
“Wenn man dein’ grün’ Rock sieht, weeß man doch gleich, dat der Früh­ling ausge­bro­chen iss!”, ruft der Mann, der sein Auto repa­riert, der jungen Frau zu, die mit kari­kie­ren­den Hüft­schwün­gen die Straße herauf­kommt und den Arbeits­tag hinter sich, den lusti­gen Feier­abend vor sich hat. Die Leute lassen keinen Zwei­fel daran, dass hier gut wohnen ist. Nach­her, wenn ich mich an der West­end-Sied­lung satt­ge­se­hen habe (die im Archi­tek­tur-Buch “Sied­lung Hirsch­gar­ten” heißt) und mit der Tram Nr. 60 und der S45 (oder 46) in einer knap­pen Stunde rundum Berlin, durch Peri­phe­rien und Zentren, nach Hause gefah­ren bin an den oberen Kurfürs­ten­damm, dann werde ich in der leben­di­gen Früh­lings­sonne noch das kleine Weges­stück zum Bismarck­platz gehen, um das große Gebäude lang­sam zu betrach­ten, mit dem dieser Platz nach Westen abge­schlos­sen wird.
“Da hab ich Deutsch gelernt; da war damals das Goethe-Insti­tut drin”, sagt Mehdi, mein guter persi­scher Freund, der mir ein Stünd­chen später die Papiere bringt, die er unter­des­sen in der TU aus einer Bauzeit­schrift der 40er Jahre über das große Haus am Bismarck­platz in Wilmers­dorf und die klei­nen Häuser hier in Hirsch­gar­ten abge­lich­tet hat.
Soll man sagen: Diese Häuser sind aus demsel­ben Geist? Sie sind jeden­falls von demsel­ben Archi­tek­ten. Er hieß Kurt Hein­rich Tischer.
1928 bis 1930 hat er — wie gesagt — die schöne Sied­lung in Hirsch­gar­ten gebaut, die die KöWoGe gewiss demnächst so reno­vie­ren wird, dass auch alle ande­ren sehen, was für ein Schmuck­stück sie ist.
1936 hat Tischer für den Reichs­ar­beits­dienst der Nazis — aber es sind Hundert­tau­sende junger Deut­scher mitmar­schiert — das Haus der “Reichs­lei­tung” gebaut, den Dienst­sitz des “Reichs­ar­beits­füh­rers”: Das ist das große Haus am Bismarck­platz. 1942 ist er gefal­len. In dem mit zahl­rei­chen Bildern, aber auffäl­lig weni­gen Worten ausge­stat­te­ten Bauwelt-Arti­kel von 1942 steht, Tischers Bauten ” sind Ausdruck der zwar nie völlig unter­drück­ten, aber doch vor der Macht­er­grei­fung durch den Natio­nal­so­zia­lis­mus in den Schat­ten gedräng­ten geis­ti­gen Haltung jenes Teils unsers Volks, der sich als der tragende erwie­sen hat.“
Wirk­lich? Kann man das sehen in Hirsch­gar­ten? Ach nein, wirk­lich nicht. Was habe ich nun von Mehdis Bauwelt-Arti­kel von 1942?

Es ist besser, dass man von der Geschichte nichts weiß. “Geschichte” heißt schnell, die Opfer zu Tätern zu machen. War Major Claude Eatherly, der die Bombe auf Hiro­shima warf — aber wer weiß von diesem Ereig­nis heute noch was? — ein Held oder ein Verbre­cher? Weder das eine noch das andere, vermut­lich. Aber damit, dass er Hundert­tau­sende getö­tet hat, musste er fertig werden.
Sind die NATO-Pilo­ten, die gerade Jugo­sla­wien bombar­die­ren, Helden oder Verbre­cher? Weder das eine noch das andere. Damit, dass sie u.a. auch Kinder töten, müssen sie fertig werden. Wer war Kurt Hein­rich Tischer? Von ihm weiß ich fast gar nichts. Auch die Nazis gaben ihm große Aufträge und lobten ihn. Viel­leicht war er selbst ein Nazi. Er schrieb mit gesto­che­ner Sütter­lin­schrift und zeich­nete gut. Ich kenne Bauten von ihm. In seinen Häusern wohnen immer noch Menschen; die müssen sich um ihr Glück alleine sorgen. Berlin ist schnell. Das Leben ist schnell vorbei. Wir haben keine Zeit, uns um die Schick­sale von gestern zu kümmern. Ehe wir wissen, was etwas ist, ist es schon was ganz ande­res.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Angela M. Arnold (=44penguins) / CC BY-SA 2.5

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1 Kommentar

  1. Es war mein Kind­heits-Biotop ab 1952 — ein klei­nes Para­dies.
    Die Stra­ßen und grünen Höfe voller Kinder. Die Erpe­wie­sen — im Sommer mit manns­ho­hem Gras, im Winter unsere Natur­eis­bahn (die Erpe war noch nicht regu­liert und “beheizt”).
    Der Strand an der Spree, Kame­run, nur 5 Minu­ten durch den Wald. Der Wald hinter dem S‑Bahnhof ein großer Aben­teu­er­spiel­platz (mit gespreng­tem Bunker). Zum Rodeln gab es die “Koks­berge” hinter dem S‑Bahnhof. Die vielen Klein­gär­ten rings­herum spen­de­ten etwas ille­gal ihre Früchte, der winzige Gemü­se­la­den im Mari­en­wer­der Weg die grüne oder rote Limo­nade für 15 Pfen­nige, der kleine Krims­kram-Laden am Fürs­ten­wal­der Damm das Mate­rial zum Drachen bauen, die abge­mäh­ten Wiesen im Herbst den Platz zum Stei­gen lassen.
    Viel hat sich nicht verän­dert seit damals — nur die vielen Kinder fehlen heute gänz­lich.

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