Leben und Liebe haben keine Zukunft

Einen schö­ne­ren Namen kann eine Stra­ßen­kreu­zung nicht haben: Rosen­eck. Da braucht sie den Anmu­tun­gen, die das Wort versen­det, nur ganz flüch­tig zu entspre­chen, um eine gesät­tigte Gegend zu erge­ben. Der Hohen­zol­lern­damm geht breit in die Clay­al­lee über. Der kreu­zende Stra­ßen­zug heißt nach Teplitz und nach einem kaiser­li­chen Minis­ter. Nahe der Kreu­zung liegt das Wiener Café­haus, wo ich jetzt gerade einen Eisbe­cher Nuss­ge­nuss genieße, dane­ben ein Gemüse- und Frucht­ge­schäft, bei dessen Prei­sen (sagt Mehdi) in Kreuz­berg die Messer aufgin­gen, aber es ist ein sehr gut sortier­tes und besuch­tes Geschäft. Ich gehe auch gerne hin. Sogar ein Sushi-Laden ist da, und der berühm­teste Friseur der Metro­pole, Udo Walz, hat hier eine Depen­dance; hier wohnen Leute, die auch sagen wollen: Udo hat gesagt … Udo ist Welt­meis­ter. Es ist über­haupt eine Gegend der Meis­ter, und von solchen, die es waren, weni­ger von solchen, die es werden wollen. Viel­leicht über­treibe ich. Eigent­lich kenne ich von den Bewoh­nern des Quar­tiers nur drei. Einen Sena­tor, einen Profes­sor, eine Geschäfts­frau. Die Geschäfts­frau nehme ich für typisch: Ohne Illu­sio­nen, aber nicht zynisch; wissend, aber nicht ohne Erwar­tun­gen; aufbau­end, ohne unkri­tisch zu sein; sie kann zusam­men­zäh­len, ohne zu rech­nen … man merkt schon: so könnte ich weiter­re­den, bis die Sache ganz persön­lich wird und nichts mehr mit dem Rosen­eck zu tun hat. Worum es hier aber doch geht. Denn gerade hier, in der Eger­straße, ist für heute der Anfangs­ort der Geschichte, die unter, an, auf den Örtlich­kei­ten meines heuti­gen Stadt­gan­ges liegt. Es ist gar keine rosige Geschichte. Oder viel­leicht doch. Sie hat ein Happy End. Oder doch nicht.

Eger­straße Nr. 1: Von 1921 bis 1923 war hier die Wohnung der Eltern von Vladi­mir Nabo­kov, dem Hundert­jäh­ri­gen, der als US-Ameri­ka­ner einer der Haupt­schrift­stel­ler unse­rer Epoche gewor­den ist. Justiz­mi­nis­ter des Zaren war sein Groß­va­ter; der Vater Minis­ter der ersten demo­kra­ti­schen, sagen wir: halb- oder beinah-demo­kra­ti­schen, russi­schen Regie­rung von 1917, gegen die sich der bolsche­wis­ti­sche Aufstand rich­tete, wirk­lich eher ein Staats­streich als eine Revo­lu­tion. Olga Knip­per, Tschechows Witwe, die Schau­spie­le­rin, Alexej Tolstoi, der Schrift­stel­ler, Stanis­law­skij, der Thea­ter­mann, der Ex-Außen­mi­nis­ter Pawel Milju­kow, Vorsit­zen­der der alten russi­schen Partei der konsti­tu­tio­nel­len Demo­kra­ten u.a., sie gingen ein und aus in der Eger­straße. Am 28. März 1923 fuhr Nabo­kov, der Exmi­nis­ter, in den Kammer­mu­sik­saal der Phil­har­mo­nie nach Kreuz­berg, um ein Opfer seines Mutes zu werden: Rechts­extre­mis­ten schos­sen auf jenen Milju­kow, die ande­ren warfen sich zu Boden, Nabo­kov vertei­digte den Freund und teilte den Tod mit ihm.

Ich muss durch­at­men in einem Gefühl von plötz­li­cher Kälte gegen­über einer Geschichte, die fast so verges­sen ist, als hätte es sie gar nicht gege­ben. Ich gehe jetzt durch die Pauls­bor­ner Straße, die die Grune­wald­haf­tig­keit der Gegend noch so lange fort­setzt, bis sie von Auto­werk­stät­ten und ‑geschäf­ten umstan­den wird, deren Grune­wald­haf­tig­keit sich aus den Auto­mar­ken ergibt. Der Nabo­kov-Weg, den ich also inner­lich hier wandere, ergibt sich ja keines­wegs aus Lolita und aus dem US-ameri­ka­ni­schen Welt­ruhm des Autors — und Schrift­stel­ler-Ruhm wäre ja über­haupt gleich­gül­tig, wenn es nicht um Texte ginge, in denen die Zeit aufge­ho­ben wird. Ich versu­che auf einen Vergleich, ein Bild zu kommen. Von manchen mäch­ti­gen Erden­tie­ren sind nur kleine Abdrü­cke im Stein, von Bäumen, die sich im tropi­schen Winde wieg­ten, nur gestalt­lose Stoffe übrig­ge­blie­ben: Musea­lien, aber auch Ener­gien, die aus der Verwand­lung hervor­ge­gan­gen sind. Das Bild ist zu natur­wis­sen­schaft­lich, auch zu groß. Berlin war in den Jahren 1919 bis 1921 die Hoch­burg der russi­schen Emigra­tion, Paris hat später niemals den Glanz des “russi­schen Berlin” erreicht (schreibt der Kompo­nist Nico­las Nabo­kov, ein Vetter des Schrift­stel­lers). Es gab in Berlin: russi­sche Thea­ter, russi­sche Kirchen, Schu­len, Biblio­the­ken, russi­sche Valuta-Schie­ber, russi­sche Buch­lä­den, Verlags­an­stal­ten, Zeitun­gen, russi­sche Kunst­ga­le­rien, Deli­ka­tes­sen­ge­schäfte, Konfi­se­rien, Anti­qui­tä­ten­hand­lun­gen, in denen es Tausende von Ikonen und echten wie zwei­fel­haf­ten Schmuck zu kaufen gab. Die Berli­ner gingen, eini­ger­ma­ßen verwun­dert, keines­wegs unfreund­lich und recht hilfs­be­reit, über die östli­che Inva­sion zur Tages­ord­nung über. 1923 lebten 360.000 russi­sche Emigran­ten in Berlin, schät­zen die Behör­den. Je mehr ich darüber nach­denke, sagt Andrej Bely, womit ich die Berli­ner über­ra­schen könnte, desto deut­li­cher begriff ich: alle Verrückt­hei­ten werden über­trof­fen von dem nüch­ter­nen Alltags­ber­lin. Der scharfe Wind / bläst durch die Löcher / Berlins, der Riese­no­ka­rina.

Nach­dem ich nun von der Pauls­bor­ner Straße in die Nestor­straße einge­bo­gen bin, müsste ich, ohne mich umzu­se­hen, erst bis zur West­fä­li­schen Straße weiter­ge­hen, um in der Zeit­folge zu blei­ben. In Nr. 29 wohnte Nobo­kov 1932 ein paar Monate in einem Miet­zim­mer, fünf Jahre dann in der Nestor­straße 22, der Agamem­non­straße seines Romans “Die Gabe”, den er für seinen besten russi­schen Roman hielt. In dem weißen Haus, dessen Loggien viel­be­blumt sind, hat heute “Die kleine Welt­la­terne” einen nicht über das 3. SFB-Programm hinaus­rei­chen­den und bestimmt nicht welt­li­te­ra­ri­schen Ort. Auch die Bedürf­nis­an­stalt, die unter Lebens­bäu­men Ecke West­fä­li­sche-/ Johann-Georg-Straße noch heute steht, kommt in dem Roman vor. Das Pissoir ist heute zuguns­ten einer Privat­firma, die für die Gele­gen­heit zur Bedürf­nis­be­frie­di­gung Geld nimmt, geschlos­sen. Gegen­über liegt wie damals die Hoch­meis­ter­kir­che, die etwas merk­wür­dig Deutsch­rit­ter­li­ches hat und zu selt­sam unzu­sam­men­hän­gen­den Erin­ne­run­gen auffor­dert, aber natür­lich nicht an Nabo­kov. Am 18. Januar 1937 emigrierte Vladi­mir Nabo­kov von hier nach 15 Berli­ner Jahren; Frau und Sohn folg­ten bald. Der Sohn hat fast genau mein eige­nes Alter, wie Nabo­kov das meines Vaters: das könn­ten also wir sein, unsere Fami­lie. Nach Brüs­sel, nach Paris, Tsche­cho­slo­wa­kei, schließ­lich USA, am Ende Schweiz, nie wieder Deutsch­land. Wenn die Geschichte aber ein Irrtum gewe­sen wäre: Hätte Lolita (oder eine ähnli­che Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur) auch aus der Nestor­straße stam­men können? Die Kraft zur Erin­ne­rung fehlt, “Russen in Berlin”: das ist ein 20er-Jahre-Ereig­nis. Verges­sen. Aber Nabo­kov, der eine, erhält sich: das ist der stei­nerne Abdruck. Nur in den USA konnte Nabo­kov der Jahr­hun­dert­mann werden, der er ist: von unse­rer Zeit ein klei­nes Stück erhal­tend “an den furcht­ba­ren Fall­gru­ben der Ewig­keit, dem Uner­kenn­ba­ren hinter dem Unbe­kann­ten, der Hilf­lo­sig­keit, der Übel­keit verbrei­ten­den Durch­drin­gun­gen von Zeit und Raum.”

Gestor­ben ist Nabo­kov aber in Europa, in Montreux. In der Nähe hatte er seiner alten Vermie­te­rin aus der Nestor­straße, die den Berli­nern, den Deut­schen auch hat entge­hen können, in einem luxu­riö­sen Alters­heim einen Platz gekauft. So zieht sich die Nestor­straße durch die Welt und Europa. Auch das Schloss seiner Väter bei Peters­burg hat Nobo­kov am Ende wieder­be­kom­men. Nein, nicht er, aber immer­hin sein Sohn, der so alt ist wie ich; Geburts­ort: Berlin, nahe Bayri­scher Platz.
“Sein” heißt wissen (heißt es in Ada oder Das Verlan­gen), man “ist gewe­sen”. “Nicht sein” enthält die einzige neue Art von (Schein-)Zeit: Zukunft. Ich lehne sie ab. Leben, Liebe, Libri haben keine Zukunft.

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Mit dem Axel-Sprin­­ger-Verlag verbin­det mich eine mehr als 30-jährige Feind­schaft. Seine Zeitun­gen haben mich oft als Chaot und Terro­ris­ten­freund diffa­miert und ich fand auch schon immer die popu­lis­ti­sche Hetze gegen Flücht­linge und Unan­ge­passte wider­lich. Bild […]

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