Zu den versunkenen Theatern

Wallner-Theater

Vor der Michael­kirche blüh­ten damals die Kasta­nien. Eine ganze Stunde saß ich ihr östlich gegen­über. “Kasta­nien sind tolle Bäume”, sagte ich tags darauf zu Turi, der mich manch­mal fährt und Träume aus dem südli­chen Persien im Herzen hat. “Wie schön, dass jemand was Gutes über die Kasta­nien sagt”, sagte er. Um die Kasta­nie herum führt der schmale Weg zum Pfarr­amt. Für Kirchen­be­su­che muss man klin­geln.
Die Michael­kirch­straße ist eine breite Roll­bahn der Unge­wiss­hei­ten. Die Häuser­blocks auf der west­li­chen Stra­ßen­seite — im Eigen­tum der Wohn­bau­ge­sell­schaft Mitte (WBM) — sind gefärbt. Die Blocks auf der östli­chen Stra­ßen­seite liegen noch im Schat­ten der DDR.
Vor mir rech­ter Hand, dem Heiz­kraft­werk der Bewag gegen­über, liegt jetzt hinter bunten Lich­ter­ket­ten der Asia Imbiss. Seine Tage werden gezählt sein. Wie die Tage der klei­nen Birke, die aus dem Balkon des Ober­ge­schos­ses von Nummer 15 hervor­wächst, als ob dort eine Wiese läge, die zu einem sanf­ten Bach abfällt. Seit ich das neue Direk­ti­ons­ge­bäude der Deut­schen Bahn im Blick habe, meine ich vorwärts und aufwärts zu gehen. 20 Milli­ar­den Mark inves­tiert die Bahn AG bis zur Jahr­tau­send­wende in Berlin und Bran­den­burg. Das Haus sieht aus, als habe der Archi­tekt während der Schwan­ger­schaft zugleich an drei Schiffe und einen Bahn­steig gedacht.

Auf der Micha­el­brü­cke, unter der die Spree aus dem Bezirk Fried­richs­hain nach Mitte wech­selt, verweile ich, am Gelän­der lehnend. Gegen­über, am südli­chen Spree­ufer, sehe ich ein gelbes Haus mit großen Fens­tern zum Fluss. Wenn mir dort drin­nen einer eine Wohnung vermie­tete, hätte ich einen städ­ti­schen Spit­zen­platz, um im Anblick der Fern­züge, Nahbah­nen und Schlepp­schiffe die Melan­cho­lien der Verwand­lung zu pfle­gen.
im Hinter­grund kann ich, da ich bescheid weiß, das Amt zur Rege­lung offe­ner Vermö­gens­fra­gen ausma­chen. Mir ist, als könnte ich direkt bis in die Abtei­lung des Para­dies blicken, in der jetzt auch Bartelby aufbe­wahrt wird und sein ganzes Amt für unzu­stell­bare Briefe. Über solchen Denk­wirr­nis­sen versinke ich bis zu den Knöcheln im 19. Jahr­hun­dert Melvil­les (oder schon im 21. Kafkas), dass es mir schwer fällt, die schwie­rige Kreu­zung Holz­markt­straße / Lich­ten­ber­ger Straße zu über­que­ren. Die Aufgabe für den Stra­ßen­bauer war: Entwerfe eine Auto­straße mitten durch die Stadt, die Hüben und Drüben trennt wie ein brei­ter Fluss, aber versu­che doch, den Menschen, die in den Häuser­blö­cken west­lich und östlich der Autos wohnen, das Gefühl zu geben, sie seien etwas ande­res als Arabes­ken des Stra­ßen­ver­kehrs. Da fiel ihm die Wiese ein. Ich verbrachte dort an einem Frei­tag zwischen halb zwei und zwei eine halbe Stunde, ehe ich in die Singer­straße einbog; in dieser Zeit traf ich drei Menschen. Ich habe sie mir einge­prägt, ich könnte sie beschrei­ben. Sie schie­nen mir kost­bar.

Das Schönste an der Singer­straße war an diesem Mittag das leuch­tende Burgun­der­rot, das Stei­cra-Gerüst­bau über einen Häuser­block gelegt hatte, am Ende noch ein biss­chen Blau und ein biss­chen Grün. Ein Kunst­werk. Halten’s die Mieter aus darun­ter? Das Häuser­block-Ensem­ble hinter der Karl-Marx-Allee ist eine Kost­bar­keit der inner­städ­ti­schen Ruhe. Ich jeden­falls empfinde nach Ende der ideo­lo­gi­schen Zwangs­neu­ro­sen viel deut­li­cher diese Ruhe als das Kaser­nen­hafte des Garni­sons-Stand­or­tes, der das hier wohl auch immer war. Man sollte die zentrale Straße wieder Stalin­al­lee nennen (oder viel­leicht “Frühere Stalin­al­lee”), denn unter diesem Namen haben die Straße und das Quar­tier ihren Ruhm und ihrem Platz in der Geschichte. Karl Marx hat mit den Örtlich­kei­ten nichts zu tun. Ihn kann ich mir hier nicht vorstel­len.

Als die Singer­straße noch Grüner Weg hieß und zur Blumen­straße führte, stand an der Ecke zur Schil­ling­s­traße das Resi­denz-Thea­ter; die Iffland-Straße, die dem großen Mimen einen Kranz windet, der noch nicht ganz verwelkt ist, führte zum Schil­ler-Thea­ter Ost (Sitz­plätze 1910: 90 Pfen­nige bis 2,70 Mark); die Straße, die beide Bühnen verband, hieß nach dem Thea­ter, das früher hier die Menschen unter­hal­ten hatte, Wall­ner-Thea­ter-Straße. In dem beschei­de­nen Wall­ner-Thea­ter in der Blumen­straße ist der “höhere Blöd­sinn” entstan­den. Es war ein poli­ti­sches Thea­ter, in dem die Reak­tion Bismarcks sati­ri­sche Hiebe bezog. Der Grün­der dieser poli­ti­schen Possen­bühne war ein Öster­rei­cher, seine Frau eine Pfle­ge­toch­ter Robert Blums, des berühm­ten Revo­lu­tio­närs von 1848, den die Reak­tion mause­tot geschos­sen hatte: “erschos­sen wie Robert Blum”. Die im Wall­ner-Thea­ter wirken­den Star­ko­mi­ker Berlins hießen Pauline Lucca, die Bismarck in Verle­gen­heit gebracht hatte, weil es ihr gelun­gen war, mit ihm zusam­men auf eine foto­gra­fi­sche Platte zu gelan­gen, und Karl Helmer­ding, ein poli­ti­scher Schau­spie­ler wie es ihn vorher, nach­her und bis heute in Berlin nicht gege­ben hat, auch bei Brecht nicht.

1864 hatte Wall­ner seinem klei­nen Thea­ter ein neues Haus fast an alter Stelle gebaut; daraus wurde später das Schil­ler-Thea­ter Ost: Die Grün­dung dieses Thea­ters war eine soziale Tat; der Tolstoi-Über­set­zer Raphael Loewen­feld wollte durch das gemein­nüt­zige Unter­neh­men “die Kreise des klei­nen und mitt­le­ren Bürger­stan­des” ins Thea­ter ziehen. Das “Schil­ler Thea­ter W” in Char­lot­ten­burg war ein Geis­tes­kind dieses Schil­ler-Thea­ters Ost. Loewen­feld hatte zu Beginn des Jahr­hun­derts in “vielen aufblü­hen­den Voror­ten Berlin” solche volks­bild­ne­ri­schen Schil­ler­thea­ter errich­ten wollen. Man hätte diese Idee nicht aus der Thea­ter­land­schaft verschwin­den lassen dürfen. Da war das benach­barte Resi­denz-Thea­ter ande­rer Natur: “Possen für den Geschmack eines blasier­ten Publi­kums aus dem Westen, die regel­mä­ßig darin kulmi­nier­ten, dass der Resi­denz­thea­ter-Star Richard Alex­an­der — bilden wir uns einfach ein, der Alex­an­der­platz sei nach ihm benannt und nicht nach einem Despo­ten — sich in Unter­hose zeigte.

Das liegt nun alles unter Kinder­ta­ges­stät­ten, Park­plät­zen und klei­nen Grün­ra­bat­ten. Und kommt nicht mehr hervor. Die Geschichte hat inzwi­schen etwas über­ra­schend Fremd­ar­ti­ges. Dafür findet jeder ein Beispiel, der im Quar­tier der verges­se­nen Thea­ter aus der Singer­straße über die Schil­ling­s­traße in die Maga­zin­straße einbiegt. in dieser Straße sind auf der rech­ten und auf der linken Seite Bauwerke übrig geblie­ben, die die Geschichte des Vier­tels zitie­ren, wenn auch in einer Spra­che, die wir nicht mehr verste­hen.
Das “Druck­haus” wird eben zurück­ge­holt in einen alten Glanz. Glanz woher? Das Haus ist 1904 gebaut. “Geschichts­träch­tig”, schrieb die “Morgen­post” vor kurzem, “sind im Hof die restau­rier­ten Glas-Mosai­ken”. Träch­tig mit welcher Geschichte? Alte Fassa­den und alte Glas­mo­sai­ken im Hof sind eben alt. Alt ist kein Synonym für Geschichte.
Hinter den Staats­ver­lag der DDR reicht auch bei der Mopo die Geschichte nicht zurück. das ist in Ordnung. Das Schönste sind eben neue alte Häuser, die sind schö­ner als neue und meist auch schö­ner als post­mo­derne. Aber was wir hier schön nennen, das hat mit Geschichte nichts zu tun. Die wirk­li­che Geschichte ist kein Gewürz des Zeit­ge­schmacks.

Die Häuser auf der Stra­ßen­seite gegen­über stehen leer. “Hier war”, sagt mir eine alte Frau, “die Poli­kli­nik der Bauar­bei­ter und ein Post­amt.” Dass die Gebäude auch eine Geschichte davor gehabt hätten, weiß sie nicht, “obwohl ich seit meiner Jugend hier wohn’ ”. Aber in ihrer Jugend war hier schon DDR.
So kurz war die Episode DDR in der deut­schen Geschichte nicht, dass sie nicht das ganze erwach­sene Leben ganzer Menschen verbraucht hätte. Wenn wir von der Geschichte Berlins reden, dann sollen wir vor allem nicht verges­sen, dass die Stadt Jahr­zehnte lang West­ber­lin war und Haupt­stadt der DDR. Die Geschichte, die die Offi­zi­el­len heute am wenigs­ten im Munde führen, ist der leben­digste Teil der Berli­ner Geschichte. Über den Fußweg, der von der Maga­zin­straße hinter den Häusern der Alex­an­der­straße wie durchs Private entlang führt, gehe ich zur Jaco­bi­straße, und während ich im Unter­grund des U‑Bahnhofes Schil­ling­s­traße verschwinde, habe ich das Gefühl, eine subver­sive Hand­lung zu bege­hen. keiner sieht mich mehr.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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