Zu Anna Seghers

Es ist eine Art Annä­herung. Ich bin schon mehr­mals nach Adlers­hof gekom­men in der Neben-Absicht, das Haus zu besich­ti­gen, in dem Anna Seghers gewohnt hat. Immer kam etwas dazwi­schen.
Am Sonn­tag las ich, was Engels über die Berufs­ju­ris­ten schreibt und ihre beson­dere kapi­ta­lis­ti­sche Reak­ti­ons­fä­hig­keit. Das führt mich auf den 30er Jahre-Roman “Denn sie wissen, was sie tun. Ein deut­scher Justiz­ro­man” (von dem ganz verges­se­nen Ernst Ottwald). Ich studiere, was Georg Lukacs darüber geschrie­ben hat: 1932, da lebte er in Berlin und befreun­dete sich und arbei­tete ein biss­chen zusam­men mit Anna Seghers.
Da fragte ich mich wieder: Aus welcher Umwelt kommt das alles, was dann in der DDR und durch sie ein ganz ande­res Gesicht bekom­men hat?
Mit unse­rem guten Freund Turadj Rowghani, der aus Persien stammt und dessen Fami­lie von der Welt­ge­schichte über den Erdball und die Kultu­ren verstreut ist, fuhr ich im Auto nach Adlers­hof. Nach Westen ist die Anna-Seghers-Straße Einbahn­straße, also bogen wir nach Osten ab, bis zum Büch­ner­weg.

Als Anna Seghers in Adlers­hof Wohnung nahm, hieß dieser Teil ihrer heuti­gen Straße nach Feld­mar­schall Moltke, der Büch­ner­weg nach der letz­ten Kaise­rin, die Dörp­feld­straße nach Bismarck, die Mios­si­straße nach Feld­mar­schall Roon, die Weerth­straße nach dem kaiser­li­chen Innen­mi­nis­ter Posa­dowsky und die Müntzer‑, Florian-Geyer‑, Holl‑, Vogel­beer­straße nach Schlacht­plät­zen des ersten Welt­krie­ges; nach Schrift­stel­lern hießen nur die Gellert- und die Arndt­straße.
Anna Seghers zog 1950 nach Adlers­hof in die Althei­der­straße, die früher Feld­her­ren­straße hieß, ihre ameri­ka­ni­sche Biogra­fin nennt das eine “beschei­dene Gegend”. Daran denke ich, als ich noch gar nicht da bin am rich­ti­gen Ort. Wir sind an Klein­gär­ten entlang gekom­men, mein persi­scher Freund hat eine persön­li­che Bezie­hung zur Zins­gut­straße, ich erkläre den Namen so gut ich kann mit dem “Erb- und Zins­gut Adlers­hof”, aus dem im 18. Jahr­hun­dert der Orts­teil entstan­den ist.
Wir betrach­ten in der Arndt­straße die Kirche mit dem schö­nen Namen: Verklä­rungs­kir­che, drei­schif­fi­ges Lang­haus hinter spit­zem Turm, so alt wie das Jahr­hun­dert; der Kunst­his­to­ri­ker sagt: “in einem Über­gangs­stil”. Das ist ein schö­nes, passen­des Wort, ich fühle mich in einer Inte­rims­zeit an einem Übergangsort.Typisch für die Gegend ist aber ande­rer­seits auch das, auf das uns die Helbig­straße schon durch ihren Namen verweist. Louis Helbig, in dem Jahr gebo­ren, in dem Goethe starb, ein Zimmer­mann, war Mitbe­grün­der der Gemein­nüt­zi­gen Berli­ner Bauge­nos­sen­schaft, die hier, weiter hinten verdienst­voll gebaut hat. Die Genos­sen­schafts­straße, durch die wir jetzt fahren, heißt seit den 80er Jahren des [vor]vorigen Jahr­hun­derts so. Die Gemein­schafts­straße passt im Namen gut zu ihr, ist aber viel jünger: Weima­rer Repu­blik, wie der Groß­teil der Sied­lung hier.

Wir stei­gen am Ende der Genos­sen­schafts­straße aus und gehen ein Stück in die Köll­ni­sche Heide hinein über den Kattun­steig, der die Kattun­blei­chen zitiert an der Ober­spree: Da kommen wir mitten in die Berli­ner Indus­trie­ge­schichte.
Bis 1984 hieß die Anna-Seghers-Straße Volks­wohl­straße, hier in ihrem östli­chen Teil hatte sie diesen Namen aus der ersten deut­schen Repu­blik, in der es zeit­weise sogar ein Reichs­mi­nis­te­rium für Volks­wohl­fahrt gege­ben hat; da müss­ten wir heute etwa Sozi­al­staat­straße sagen und hätten auch unser Teil zu denken.
Wo die Anna-Seghers-Straße als Auto­weg in die Vimystraße über­geht und selbst als Fußgän­ger­weg zu Ende läuft, steht ein Infor­ma­ti­ons­kas­ten. Darin ein zwei­sei­ti­ger Brief an die “Leitung der Regio­nal­gruppe Adlers­hof im VMEG”, der die eigen­tums­recht­li­che Lage dieser ehema­li­gen Gagfah-Sied­lung ausein­an­der zu setzen versucht: vom Amt zur Rege­lung offe­ner Vermö­gens­fra­gen.

Das Amt erin­nert mich immer wieder, wenn ich plötz­lich mit ihm konfron­tiert werde, an Bart­leby, sein Amt für unzu­stell­bare Briefe und an seine durch Melville in die Welt­li­te­ra­tur einge­gan­gene stehende Rede­wen­dung:
“Ich würde vorzie­hen, es nicht zu tun.”
“Sie wollen nicht?”
“Ich ziehe es vor … Gegen­wär­tig würde ich es vorzie­hen, mich über­haupt nicht zu verän­dern.”
“Das ist wieder mal eine ganz neue Rechts­mei­nung”, sagt der Mann, der hinter mir steht und über meine Schul­ter liest. “Immer mal was Neues, aber passie­ren tut nichts.”
“Ach, Bart­leby, ach Menschen­los.”

“Ich sitze gerne hier”, sagte Anna Seghers, vor deren Wohn­haus Nr. 81 wir nun stehen, “ich mag die Straße gern, schon weil sie Volks­wohl­straße heißt. Volks­wohl, das klingt doch gut? Kommt aus der Arbei­ter­be­we­gung. Damit hat auch die Sied­lung dahin­ten zu tun”.
“Hier hat sie gewohnt? Ich dachte, die Frau war berühmt”, sagt Turi. Als Georgi Dimitroff hier ein paar Häuser weiter wohnte, wohnte Anna Seghers im Fisch­tal in Zehlen­dorf. Aber auch nicht mehr lange. Dann fing ihre zeiten­ty­pi­sche Flucht­fahrt an, die keine Odysse zu nennen ist, sondern viel­leicht ein Tran­sit, hin und zurück.
Hier in der alten Volks­wohl­straße ist das Ende einer Para­bel, der Wurf­bahn eines persön­li­chen Lebens, das als Lehr­stück betrach­tet werden kann. “Die deut­schen Dich­ter wuss­ten nicht, dass das, was an ihrem Land geliebt wird, ihre unauf­hör­li­chen Schläge gegen die gesell­schaft­li­che Mauer” (sind). In Anna Seghers’ Wohnung wohnt jetzt die Anna-Seghers-Gedenk­stätte. Heute am Montag hat sie geschlos­sen. Da will ich erst noch hin, ehe ich weiter schreibe.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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