Englische Soße

Die Warschauer Brücke ist west­lich eine Baustelle, auf der ande­ren Seite ist sie der Verbin­dungs­weg zwischen U- und S‑Bahn; wer hier eine Weile die Augen offen­hält, sieht viel von Berlin, aber was? Inter­pre­ta­tion ist Pädago­gik. Man braucht sich Berlin nicht lehren zu lassen, wenn man es lebt. Wer nicht U- und S‑Bahn fährt, weiß nicht, wie das Leben ist.
“Komm’ wir hier rüber?” fragt die eine Alte die andere am Brücken­ende.
“Ick gloobe nich!”
“Von Gloo­ben ist dett keene Frage! Probi­ern!”
“Der Bolsche­wis­mus siegt!”, ist dem Ärzte­haus ange­sprayt, in dem die beiden Alten verschwin­den, die in lenin­scher Weise die Praxis der Theo­rie vorge­zo­gen haben. Leicht anstei­gend verei­nigt sich hier die Helsing­for­ser Straße mit der March­lew­ski­straße wie seiner­zeit die SPD mit der KPD, aber war das auch ein leich­tes Anstei­gen? Neben ihrem klei­nen Stra­ßen­kran unter­hal­ten sich laut­stark die Arbei­ter.
“Wo warst du? Wat, du warst bei de Ameri­ka­ner, bei die Hirn­lo­sen?”
“Du hast aber dein Hirn heut morjen ooch ze Hause jelas­sen!”
Über die Pillauer Straße gehe ich zur March­lew­ski zurück. Am wild­be­grün­ten Schul­grund­stück stehen zwei Frauen, die ihre Hunde ausfüh­ren und Erzie­hungs­pro­bleme bespre­chen.
“Zum Beispiel bei Nicole. Hat so und so gerech­net, kam fünf­unn­vier­zig raus. War falsch. Un gloobste, ick weeß warum?”
“Ick sach ja” Die rechn ganz komisch. Das un das, un dann ziehn se wieder was ab.”
Die Schule weiter hinten ist mit kind­li­chen Palmen bemalt. Sofort stel­len sich südli­che Gefühle ein. Die südli­che Seite des Come­nius-Plat­zes, auf dem ich nun ange­langt bin, ist in post­mo­der­nem Bunt erneu­ert. “40 Prozent vermie­tet” oder “Nur noch 40 Prozent nicht vermie­tet”: Der Berli­ner “Nur noch”-Stil ist doch eher ein Noch-nicht-Stil. Im Garten­teil des Plat­zes sitze ich auf einer natur­schwar­zen Bank. Ich höre der Melo­die der Bäume im Sommer­wind zu, die Rufe der Kinder markie­ren den Rhyth­mus. Drei Knaben veran­stal­ten über die rot-grauen Wege ein Fahr­rad­ren­nen, sie können so brem­sen, dass der Kies hinter ihnen hoch aufstaubt.
“Muss dett sein?” ruft die Oma von der Bank neben mir.
“Ja! Dett muss!” ruft es zurück; lächelnd sagt die Oma für sich: “Dett hätt ich mir nun denken könn!” Ener­gisch schiebt eine junge Mutter den klei­nen Wagen mit Kind vorüber. Sie weiß, was sie zu tun hat. Schnell ist sie um die Ecke, während ich ihr nach der March­lew­ski­straße nord­wärts gehe. Die Straße zeigt hier, dass es auf die Stalin­al­lee zugeht.

Hinter Nr. 45/47 öffnet sich die Wiesen­land­schaft der Höfe. Das Haus ist übrig­ge­blie­ben, man sieht noch Einschuss­lö­cher vergan­ge­ner Schlach­ten. “Wasser­pflan­zen­zucht”: ein Schild aus einem Früher, das längst nicht so roman­tisch war, wie es seine anti­qua­ri­schen Reste für manchen jetzt sind. Dann rechts herum. Hinter Nr. 25a setze ich mich auf die Stufen der Säulen­ko­lon­nade und höre den sprin­gen­den Wassern zu, vor mir auf der Weber­wiese, wieder ein Lied fast aus Natur. Nr. 25 ist das erste Nach­kriegs­hoch­haus im Berli­ner Osten, von Hermann Hensel­mann, jetzt ein Denk­mal, die Schmuck­plat­ten lösen sich, die Zier­ge­simse brechen ab, der Putz blät­tert, die Füße des Hauses sind besprayt, aber die Anlage hat noch immer jene intime Öffent­lich­keit, die man als Städ­te­pla­ner erst­mal hinkrie­gen muss, ehe man sich über andere erhebt.

Wo die March­lew­ski­straße endet, bildet sie mit der Hilde­gard-Jada­mo­witz-Straße einen klei­nen Platz, auf dem das aus dem Kaiser­reich herüber­rei­chende Sprit­zen­haus gerade von einer Firma aus Reck­ling­hau­sen erneu­ert wird, damit die Bewoh­ner des neuen weiß-gelb glän­zen­den Pari­ser Hofes es von ihren Balko­nen, Glas­wand an Glas­wand, betrach­ten können. Auf der abge­schla­ge­nen Fassade des Feuer­wehr­häus­chens ist von vergan­ge­nen Paro­len nur noch ein einzi­ges Wort undeut­lich zu lesen: Jugend. Jugend — wie in der Erzäh­lung von Josef Conrad, in der es nach Bang­kok geht. Ich komme in die Straße der Pari­ser Kommune; das Hoch­haus rechts, Nr. 23, ist in sach­ten Blau­tö­nen reno­viert mit leich­tem taut­schen Gelb um die Fens­ter; gegen­über das sich in die Runde biegende Eckhaus in lich­tem Braun, das stel­len­weise fast violett wirkt. Andere Fassa­den warten noch auf die Farbe der Erneue­rung.
Im Café Plaza, das einen Namen wach­hält, der hier eine Stätte volks­tüm­li­cher Vergnü­gung benannte, sitzen sechs Leute an den Plas­tik­ti­schen. Die Bedie­nung ist freund­lich und präzise. Was man etwa über die Geschichte der Gegend, die jetzt Franz-Mehring-Platz heißt, weiß, das wäre das eine. Aber wie ist die Gegend, wenn man sich ganz an die Gegen­wart hält? “Neues Deutsch­land”: Die Über­schrift über dem leeren Gebäude ist das Auffäl­ligste; sie erzeugt natür­lich einige Gedan­ken, aber vor allem doch de Gedan­ken an das allge­gen­wär­tige: Es war einmal. Alle ande­ren Gedan­ken haben hier keine histo­ri­sche Färbung. Die Straße der Pari­ser Kommune und die Rüder­sor­fer Straße, die sich hier kreu­zen, sind Auto­stra­ßen, nicht gerade über­voll, aber doch Auto an Auto. Die Wohn­häu­ser stehen ordent­lich im Grün, es sind Über­all­häu­ser, der Stra­ßen­na­men mit seinem geschicht­li­chem Ehrgeiz wirkt aufge­bla­sen. Das ist hier keine Gegend für Kommu­nen, und dass der Platz, der von hier aus kaum als Platz wahr­zu­neh­men ist, nach einem intel­lek­tu­el­len Sozia­lis­ten heißt, das löst nun auch keine tief erin­nern­den Asso­zia­tio­nen mehr aus. Die Geschichte dieser Gegend ist gestri­chen. Die Gegend hat keine Geschichte. Da kann sie sich freuen. Früher habe ich anders gedacht. Jetzt geht’s mir wie dem Alten am Neben­tisch:
“Mensch”, sagt er mit klas­si­scher Anrede zu seiner Frau, “in der Sonne sitzen, ein Budwei­ser trin­ken, und es nicht weit haben nach Hause … jetzt trin­ken wir noch ’n Bier, dann mach ich ’n … Was macht man gegen Müdig­keit?” fragt er leut­se­lig die Servie­re­rin.
“Schla­fen!”
“Danke! Danke für den Tipp!” und schlägt sich auf die Schen­kel vor Wohl­sein.
Ein Wind kommt auf. Heftig greift er in die Marki­sen.
Der Wind der Verän­de­rung ist es wohl nicht. Oder?
“Engli­sche Soße!” sagt die Frau, als sie sich den Ananas-Toast würzt.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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