Der eine schneller, der andere langsamer

Ich kam am 1. April 1933 nach Berlin, um eine Stelle als Arzt in der Charité anzu­tre­ten. Ich hatte in München mein Examen gemacht. Die Berli­ner Charité suchte Ärzte, weil jüdi­sche Kolle­gen gekün­digt worden waren. In meinem Freun­des­kreis hatte man mir schwere Vorwürfe gemacht: “Du über­nimmst diese Stel­lung?” Aber es war noch die Zeit der Arbeits­lo­sig­keit, und ich musste mich schnell entschei­den. Man hätte die Stelle auf jeden Fall sofort besetzt.
Ich bin nicht weiter­ge­gan­gen. Viele andere haben noch einen Schritt und noch einen Schritt weiter getan. Dann waren sie plötz­lich bei den Nazis. Ich wusste, dass man jeden Schritt, den man riskiert, prüfen muss. Aber immer muss man etwas riskie­ren.
In Berlin merkte ich sofort, dieser “Umbruch” machte tatsäch­lich einen kras­sen Unter­schied. Nicht nur am Thea­ter, wo man plötz­lich immer Karten bekam, weil die Zuschauer fehl­ten. Das Niveau war, bei dem Exodus so zahl­rei­cher jüdi­scher Wissen­schaft­ler und Künst­ler, allge­mein viel schlech­ter gewor­den. Aber vor allem hat die Angst … die Angst regiert.

Oder auch: das “Blut- und Boden”-Gerede war nicht echt. Manches in dieser Rich­tung konnte sicher als ein Zeichen von Gesun­dung verstan­den werden. Aber “Die deut­sche Frau schminkt sich nicht!” zum Beispiel passte einfach nicht zur Menta­li­tät unse­res Volks. Auf gewisse morbide Tenden­zen hatte “Blut und Boden” eine Antwort vorge­gau­kelt und deswe­gen auch eine gewisse Anzie­hungs­kraft gehabt. Aber es stellte sich heraus, dass das Echte daran nur eine unwe­sent­li­che Kompo­nente, keine Bewe­gung “Zurück zum guten Alten und Gedie­ge­nen”, sondern zur Verblen­dung war. So wurde viel echter Idea­lis­mus, zum Beispiel bei der Bündi­schen Bewe­gung, miss­braucht. Einige Kolle­gen sind so zu den Nazis gelangt. Sie waren neo-konser­va­tiv, nicht stur-konser­va­tiv. Sie woll­ten nicht etwa das 3‑Klas­sen-Wahl­sys­tem wieder einfüh­ren, sie verlang­ten, ethi­sche Prin­zi­pien soll­ten über­all eine höhere Rolle spie­len, als das in der Spät­zeit der Weima­rer Repu­blik der Fall war. Nach eini­gen Jahren waren sie völlig enttäuscht!

Die Weima­rer Repu­blik war dabei gar nicht so korrupt, wie das heute über­all der Fall ist — aber der gesunde Teil des deut­schen Volkes hat damals tatsäch­lich viel mehr an Erschei­nun­gen von Korrup­tion gelit­ten als heute, wo man sich daran gewöhnt hat. Ja, man kann das Aufkom­men der Nazis und ihre Attrak­ti­vi­tät während der ersten Jahre nicht nur erklä­ren mit der furcht­ba­ren Not der Arbeits­lo­sen! Wenn man über­haupt bereit ist, wohl­wol­lend zu unter­su­chen, warum so viele anstän­dige Leute damals frei­wil­lig zu den Nazis gegan­gen sind, dann muss man so etwas wie diese “Blut und Boden”-Phrasen mit anfüh­ren. Natür­lich kommt noch der idio­ti­sche Versailler Vertrag hinzu, diese Deklas­sie­rung der Deut­schen. Und dann eben diese Korrup­ti­ons­fälle im Inne­ren, die die Öffent­lich­keit um 1930 heftig bewegt haben. Böss, der Bürger­meis­ter von Berlin: für irgend­ein Schein­ge­schäft hat er einmal einen Pelz­man­tel geschenkt bekom­men. Die Empö­rung darüber ist nicht von den Nazis aufge­bracht worden. Er war Sozi­al­de­mo­krat, übri­gens kein Jude. Der Prozess in dieser Sache — als “Skla­rek-Prozess” bekannt gewor­den — war den Nazis nur ein will­kom­me­ner Anlass, die Empö­rung anti­se­mi­tisch zu steu­ern! Es gab in Berlin, Frank­furt und Bres­lau eine rela­tiv große jüdi­sche Ober­schicht. In der Zeit nach dem ersten Welt­krieg kamen viele jüdi­sche Polen, Ungarn, Ukrai­ner hier­her, die unge­bil­de­ter, ärmer waren. Heute würde man das als “Auslän­der­pro­blem” bezeich­nen. Damals waren es die “Ostju­den”. Sie wirk­ten auch viel jüdi­scher. Sie waren die Demons­tra­ti­ons­ob­jekte für Anti­se­mi­tis­mus — sehr viel mehr als die altein­ge­ses­se­nen jüdi­schen Schich­ten. So kam eines zum andern. Histo­ri­sche Wenden sind immer viel­fäl­tig bedingt. Man darf nicht nur eine Ursa­che sehen, wenn man sich zurecht­fin­den will.

Ich befreun­dete mich nur mit Leuten, die gleich dach­ten. Ich wurde aus Wut Anti-Nazi. Ich war nicht allein damit. Wenn beispiels­weise im Thea­ter “Don Carlos” gespielt wurde: die Schau­spie­ler haben die Stelle “Sire, geben Sie Gedan­ken­frei­heit!” so gespro­chen, dass es jedes Mal zu donnern­dem Applaus, zu Beifall mitten in der Szene kam. Das war eine öffent­li­che Schu­lung, mit dem Ergeb­nis, dass jeder heller wurde, dass sofort erfasst wurde, was Doppel­sinn, was Hinter­sinn ist. Die Witze, die der Kaba­ret­tist Werner Finck in seinen Vorstel­lun­gen machte, wurden sofort weiter­erzählt, das war auch ein Teil dieser Schu­lung. Karl Valen­tin war einmal in Berlin. Plötz­lich ließ er es in seiner Auffüh­rung voll­kom­men dunkel werden. Dann sagte er leise in die Dunkel­heit hinein: “Das muss an der Leitung liegen!” Jeder lachte, und trotz­dem war diese Doppel­deu­tig­keit für den Gegner nicht zu fassen. In solche Auffüh­run­gen gingen sogar SS-Leute. Sie haben sich eben­falls amüsiert. Sie durf­ten es, so wie ja auch Pfar­rer gele­gent­lich anti-kleri­kale Witze erzäh­len dürfen.
Noch im April sagten mir Freunde, ich sollte unbe­dingt in einen SA-Sturm gehen in der und der Kneipe am Nollen­dorf­platz. Ich ging hin. Dort versam­mel­ten sich Kommu­nis­ten und Sozi­al­de­mo­kra­ten, um gegen die Nazis schimp­fen zu können. Zur Tarnung taten sie Bier saufen. Zuerst dachte ich, es könnte einen Sinn haben, wenn man dabei­bliebe, unter­schrieb aber nichts. Aber natür­lich, stellte sich heraus, war unter diesen etwa 100 Leuten ein Spit­zel. Es dauerte nur ein paar Monate. Von vorne­her­ein war diese Sache poli­tisch zum Tode verur­teilt. Man konnte sich eben nicht inner­halb dieses Systems eingra­ben. Sie dach­ten dort, wenn man nach außen zum Schein mitbrüllt, könnte man neue Anti-Nazis sammeln. Der SA-Sturm flog auf.
Eigent­lich kam jeder einmal in die Versu­chung, mit gutem Vorwand zum Schein mitzu­ma­chen. Obwohl Hitler doch ziem­lich schnell gehan­delt hat, geschah dieser Über­ra­schungs­an­griff auf das deut­sche Volk im ganzen doch noch zu lang­sam, um die Heraus­bil­dung falscher Hoff­nun­gen zu verhin­dern. Hitler würde es finan­zi­ell nicht lange durch­hal­ten, die Alli­ier­ten würden bald eingrei­fen, die Reichs­wehr würde eingrei­fen. Gerade wenn man einen Wahn­sinn anrol­len sieht, produ­ziert man viele ange­nehme Hoff­nun­gen. Inso­fern ist es im Prin­zip auch rich­tig, wenn man heute sagt, man habe alles erst so nach und nach mitbe­kom­men. Da ist natür­lich der eine schnel­ler, der andere lang­sa­mer.
Aber im Februar 33 der Reichs­tags­brand, ab April der Juden­boy­kott… die Bruta­li­tä­ten bei der Verfol­gung von Oppo­si­tio­nel­len — das hatte nicht gereicht? Es war eine Mischung von “Vor-den-Kopf-geschla­gen-sein”, Ohnmacht, Verständ­nis­lo­sig­keit und Warten auf das poli­ti­sche Wunder, auf den Staats­streich durch die Reichs­wehr! Wer hatte denn Macht? Das Offi­ziers­korps, die katho­li­sche Kirche, die ihren Mitglie­dern ja Anpas­sung empfoh­len hatte. Dann kam natür­lich noch das riesige Unglück dazu: der Kampf zwischen Sozi­al­de­mo­kra­ten und Kommu­nis­ten, die gemein­sam natür­lich den Gene­ral­streik hätten ausru­fen können! Die Feinde Hitlers, Sozi­al­de­mo­kra­ten, Kommu­nis­ten, das libe­rale Lager, beide Kirchen, die jüdi­schen Orga­ni­sa­tio­nen: über­schla­gen war das die Hälfte des deut­schen Volkes.

Ich habe also die Konse­quenz gezo­gen. Ich habe mich, das war ein bewuss­ter poli­ti­scher Akt — und auch der einzige in diesen ersten Jahren der Nazi-Dikta­tur — jedem Kontakt mit einem Nazi entzo­gen und Anti­na­zis… eigent­lich immer gesucht. Mein Motiv war zunächst Verach­tung, gegen die Schwind­ler. Außer­dem war es drin­gend ratsam für mich: Ich war gegen die Nazis, wollte aber meine Meinung immer noch frei äußern. So durfte ich nicht mehr mit Nazis verkeh­ren, so gebot es die reine Selbst­er­hal­tung, mit Anti­na­zis zu reden. Ich suchte stän­dig Leute, die meiner Meinung waren, und alle Anti­na­zis waren ja froh, wenn sie jeman­den kennen­lern­ten, der sie in ihrer Abnei­gung bestärkte. Das war wie eine geheime Genos­sen­schaft, eine geheime Verbrü­de­rung!
Grad als die Deut­schen in Öster­reich einmar­schiert waren, besuchte ich eine Tante, eine einfa­che Bäue­rin. Ich sagte zu ihr: “Die Öster­rei­cher haben sich ja nun auch frei­wil­lig mit uns vereint!” Da antwor­tete sie klar und krass: “Einmar­schiert samma halt, weil wir die Stär­kern sind!” Sie hat also ganz klar gedeu­tet, dass es nicht stimmte, was die Nazi­pro­pa­ganda verbrei­tete. Und von diesem Moment an, da man riskiert hatte, offen zu sein, kam echte Freund­schaft. Denn das Glück, Gesin­nungs­ge­nos­sen zu haben, hat ja alle Not, alle Unter­drü­ckung so erleich­tert!

1938 suchte ich eine Stelle als Arzt in Mühl­hau­sen in Thürin­gen. Ich war eines Abends bei einem Chir­ur­gen einge­la­den. Wir merk­ten, dass wir beide das Dritte Reich ablehn­ten. Er hat mich schnell ins Vertrauen gezo­gen. Er zeigte mir die chir­ur­gi­sche Abtei­lung seines Kran­ken­hau­ses. Dort lag der Rabbi­ner des Ortes. Der oberste Nazi des Ortes hat sich in jener furcht­ba­ren Nacht 1938 vor diesen Rabbi­ner hinge­stellt und ausge­ru­fen: “Im Namen Adolf Hitlers richte ich dich hin!” Er schoss einen Schuss auf ihn. Der Mann brach zusam­men. Er kam ins Kran­ken­haus, der Chir­urg versorgte ihn. Er hatte Glück gehabt. Er trug eine Taschen­uhr, eine solide, gedie­gene; die war völlig zertrüm­mert worden, aber die Kugel war nicht bis zum Herzen vorge­drun­gen. Der Rabbi­ner lag verschüch­tert in seinem Bett, sowohl von den Pfle­gern als auch von den Ärzten korrekt behan­delt. Der Chir­urg zeigte ihn mir, um seine Empö­rung mitzu­tei­len.
Wie haben Sie zum Beispiel in diesem Fall sich beide als Anti­na­zis entdeckt?
Solche Erken­nungs­zei­chen zu senden und sich dem Problem zu stel­len, sie rich­tig zu deuten, gibt es auch zwischen Mann und Frau. Die Zeichen, die das andere Geschlecht gibt, sind doch auch sehr diskre­ter Art. Im Laufe der Zeit bekommt man Übung, sie zu deuten. Übung, diskrete Auffor­de­run­gen zu verste­hen! Eine Frau sagt selten: “Bitte, kommen Sie auf mein Zimmer!” Statt­des­sen gibt sie leise doppel­deu­tige Hinweise. Und der andere erkennt den Sinn. (Oft verkennt er ihn natür­lich.) Es ist aber auch Instinkt­sa­che zu erken­nen, ob der andere schwin­delt. An vielen Beispie­len kann man sehen, dass dieser Instinkt weit verbrei­tet ist. Auf eine Hure z.B. fällt man selte­ner herein. Die Hure sagt etwas gefühls­mä­ßig Unech­tes. Sie ist ein Spit­zel der Liebe, die das diskrete Zeichen für ihre Zwecke miss­braucht. So hat auch die Poli­zei wenig Erfolg im Spio­nie­ren, weil ihr diese Intui­tion fehlt. Dem berufs­mä­ßi­gen Spit­zel fehlt das Einfüh­lungs­ver­mö­gen in die Sphäre der Diskre­tion, des Doppel­deu­ti­gen. Ohne Gefühle können Sie nicht viel heraus­krie­gen… Das ist heute bei uns über­haupt ein allge­mei­nes Problem gewor­den. Wenn heute unter den meis­ten Menschen ein Verkehr­s­ton exis­tiert, dieser korrekte, ober­fläch­lich durch­aus funk­tio­nale Ton, wird die Kunst des doppel­deu­ti­gen, diplo­ma­ti­schen Gesprächs nicht geför­dert. Manches geht dabei kaputt. Die vielen, die Sehn­sucht nach etwas haben, zu dessen Erfül­lung sie jeman­den brau­chen, der die glei­che Sehn­sucht hat, verler­nen es, sich zu finden. Natür­lich, wenn alle Menschen wirk­lich die glei­chen Voraus­set­zun­gen in ihrem Leben genies­sen könn­ten, gäbe es auch keine Notwen­dig­keit, sich doppel­deu­tig auszu­drü­cken. Das kann man heute in Ostber­lin studie­ren. Wenn in diesem Staat wirk­lich alle eins wären, dann entfiele das Zwei­deu­tige. Aber man kann doch erle­ben, wie Ostber­li­ner diplo­ma­tisch reden und sich doch verste­hen! Also, es geht beim Erken­nen des Gesin­nungs­ge­nos­sen in einer Dikta­tur, die diese Gesin­nung verbie­tet, immer darum, sich niemals eine Blöße zu geben und doch was zu sagen! Der Agita­tor muss sich ja Blößen geben, wenn er auf Massen einen Einfluss ausüben will. Sicher müssen auch Lehrer ganz offen sein. Aber wer im Unter­grund lebt, muss — wie beim Klet­tern — jeden Schritt prüfen. Wenn er also spre­chen muss, dann mit einem Instinkt für die Echt­heit von doppel­deu­ti­gen Äuße­run­gen. Menschen zu beur­tei­len ist immer eine Frage inne­rer Frei­heit und Sicher­heit.

Ein Vetter von mir — als Gegen­bei­spiel — war in die NSDAP einge­tre­ten, um besser Notar werden zu können. Aber er war ein strik­ter Anti­nazi. 1932, bei einem Gerücht, das er aufschnappte, Hitler sei ermor­det worden, ist er sofort aus der Partei ausge­tre­ten. Später hat er sich wieder gefügt und war fast sprach­los gewor­den. Von da an hat er nur noch nachts bei seiner Frau auf die Nazis geschimpft. Der hat Wider­stand geleis­tet im Bett, im Ehebett! Natür­lich, manch­mal war es eine Pflicht, sich zu tarnen. Aber aus der massen­haf­ten Tarnung heraus war es schwer für den Durch­schnitts­men­schen zu wider­ste­hen. Die intel­lek­tu­elle Fähig­keit, etwas zu durch­schauen, aber auch der Charak­ter eines Menschen waren entschei­dend.
Ich wohnte in einem klei­nen Dach­zim­mer­chen in der Charité. Ich bildete mich fach­lich aus, hielt Augen und Ohren offen, in meiner Frei­zeit trieb ich regel­mä­ßig Sport. Ich war ein begeis­ter­ter Berg­stei­ger, aber ich radelte auch, bin geschwom­men und Ski gelau­fen. Im Sommer war ich bei meinen Verwand­ten in Bayern auf dem Land und half ihnen in der Land­wirt­schaft.
1935 heira­tete ich meine erste Frau. Sie war Halb­jü­din, formal als Vier­tel­jü­din einge­stuft. Wir hatten uns 1929 als Studen­ten kennen­ge­lernt. Natür­lich war sie Anti­nazi. Man heira­tete damals aus den glei­chen Moti­ven wie heute, viel­leicht war der Anteil roman­ti­scher Liebes­emp­fin­dun­gen etwas größer. Aber als ich da im Vorfeld der Nürn­ber­ger Gesetz­ge­bung das jüdi­sche Mädchen heira­tete, war mir völlig klar, dass diese Entschei­dung mein weite­res Leben tief poli­tisch beein­flus­sen würde. Wer unter den Nazis in eine jüdi­sche Fami­lie hinein­hei­ra­tet, weiß das. Bei mir war es deshalb auch nicht nur die Roman­tik der Liebe, sondern auch der Trotz gegen Hitler. Die zu erwar­ten­den beruf­li­chen Einschrän­kun­gen waren etwas wie eine Heraus­for­de­rung: wie lange hält das Dritte Reich!?

Damit zusam­men­hän­gend hatte ich nur einmal Auswan­de­rungs­pläne. Nach der Nacht, die furcht­bar war, war ich 1939 einmal für 14 Tage in London. Ich hatte die Adresse eines engli­schen Arztes:
“Ich würde gern in England blei­ben.”
“Sind Sie jüdisch?”
“Nein.”
“Sind Sie Kommu­nist?”
“Nein.”
“Sind Sie sonst verfolgt?”
“Nein.”
“Haben Sie in Deutsch­land eine Arbeits­stelle?”
“Ja.”
“Dann bitte ich Sie, nehmen Sie keinem andern Deut­schen den Platz hier weg!”
Mir war das unter diesen Umstän­den mitt­ler­weile ganz verständ­lich gewor­den. Sonst aber hatte man zu dieser Zeit im Ausland die wirk­li­che Lage unter Hitler eben­so­we­nig begrif­fen wie in den ersten Mona­ten im Inland.
Ich fuhr nach Berlin zurück. Ich war 34 Jahre alt.

Die große Auswan­de­rungs­welle kam erst nach 1938, nach dieser Nacht, die furcht­bar war. Mein Schwie­ger­va­ter kam ins KZ Orani­en­burg. Ich war schon einmal in einem Auto dort vorbei­ge­fah­ren. Ziem­lich nah am Zaun. Aber man hat nur den Draht­zaun und die Wach­türme gese­hen. Nicht so perfek­tio­niert, wie heute an der Zonen­grenze. Mehr aus Holz als heute. Für meinen Schwie­ger­va­ter, der, als er nach eini­gen Mona­ten entlas­sen wurde, nichts erzäh­len wollte, war schon das Appell­ste­hen furcht­bar. Zu allen mögli­chen Tages­zei­ten antre­ten. Ohne Möglich­keit, die Blase zu entlee­ren. Da sind ja die ersten tot zusam­men­ge­bro­chen, durch dieses furcht­bare lange Stehen-müssen. Er hat von den verschie­de­nen Typen von Gefan­ge­nen erzählt und dass die SS duldete, wenn Berufs­ver­bre­cher die ande­ren noch zusätz­lich tyran­ni­sier­ten. Aber er hat keine Einzel­hei­ten erzählt. Er war para­do­xer­weise bemüht, nur das Posi­tive zu sagen. Also zum Beispiel, dass Unter­ho­sen, die wir dort für ihn abge­ge­ben hatten, wirk­lich in seine Hände gekom­men sind.
Er war im Gegen­satz zu allen seinen Geschwis­tern nicht zu bewe­gen auszu­wan­dern. Später, 1943, hat er sogar noch einen komi­schen Prozess gewon­nen! Er klagte nämlich vor Gericht auf Zurück­zah­lung der von ihm geleis­te­ten soge­nann­ten Juden­buße. Er hatte sich über Jahre mit diesem Prozess beschäf­tigt. Komisch, denn er konnte das Gericht glau­ben machen, dass einer seiner Vorfah­ren nicht ein Jude namens Hertz, sondern der Dich­ter Chamisso war! Es gelang ihm der Nach­weis einer eheli­chen Untreue in einem Bade­ort. Vor sound­so­viel Jahr­zehn­ten, konnte er nach­wei­sen, ist da etwas passiert. Da so viele seiner vorge­tra­ge­nen Indi­zien zusam­men­pass­ten, musste das Reichs­sip­pen­amt aner­ken­nen, dass ihm die Juden­buße fälsch­li­cher­weise abge­nom­men worden war, denn er war, laut Gerichts­be­scheid, Jude zu weni­ger Bruch­tei­len, als man ange­nom­men hatte. Er bekam im preu­ßi­schen Sinne von Recht seine “Juden­buße” zurück! Sehen Sie, das ist deut­scher Konser­va­ti­vis­mus. Erst werden die Gefah­ren nicht gese­hen, dann wird auf formale Korrekt­hei­ten gepocht.

Irrsin­nige Krite­rien hatten eine furcht­bare Bedeu­tung. Das hört sich heute an wie ein Witz! Ob man ein Halb‑, Viertel‑, Achtel- oder Sech­zehn­tel­jude war, das war alles von großer, oft entschei­den­der Bedeu­tung! Ob einem Vorzüge zustan­den, die genau gere­gelt waren, wenn man im ersten Kriege das Eiserne Kreuz hatte, aber keinen Front­ein­satz, oder Front­ein­satz, aber kein Eiser­nes Kreuz: auf die pedan­tischste Weise haben diese Dinge alle ihre Bedeu­tung gehabt. Und sie muss­ten umschifft werden.
Meine erste Frau hat die Zeit über­stan­den Sie war bei meinen Eltern in Bayern auf dem Land. Goeb­bels hatte die Evaku­ie­rung aller Frauen mit Kindern ange­ord­net, da kam sie rela­tiv unge­scho­ren durch, wenn man es nicht unnö­ti­ger­weise rum erzählt hat. Wir haben uns in den folgen­den Jahren vonein­an­der getrennt. Aber es war ja klar, dass eine Schei­dung erst nach dem Krieg in Frage kam, da sie durch die “Misch­ehe” mit mir eine soge­nannte “Privi­le­gierte” war.
Die Verfol­gung der Juden ist damals aber nicht so wahr­ge­nom­men worden wie Aufrüs­tung und Kriegs­vor­be­rei­tun­gen. Es war allge­mein klar, dass Hitler nach München 1938 nicht etwa gesät­tigt war. Es kursierte der Witz: “Ein Arbei­ter hat eine neue Stel­lung, wo er Kinder­wa­gen herstellt. Einem Freund bringt er Einzel­teile aus der Fabrik mit. Nach einer Weile sagt der Freund: Vielen Dank für die Teile, aber ich bin wohl zu dumm, sie zusam­men­zu­bauen. Immer wird ein Maschi­nen­ge­wehr daraus.”
Es war das oberste Ziel, nicht einge­zo­gen zu werden bzw. nicht an die Front zu müssen. Im Früh­jahr 1939 bin ich deswe­gen von der Charité weg, um eine Stel­lung in einem “kriegs­wich­ti­gen” Unter­neh­men zu über­neh­men. Ich arbei­tete bei Sche­ring, in einer medi­zi­nisch-wissen­schaft­li­chen Abtei­lung, wo nur Anti-Nazis saßen. Sie waren alle irgendwo raus­ge­flo­gen, muss­ten sich schüt­zen, einer war früher bei der KPD, einer hatte eine jüdi­sche Groß­mutter, alle hatten sie einen “Webfeh­ler”. Es war eine Insel! Dafür sorgte der betref­fende Abtei­lungs­lei­ter. Ja, das war möglich.

Walter Seitz
Aus: Klet­tern in der Groß­stadt (1981)

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