Schwere Kindheit und die Erfüllung eines Traums

Meine Kind­heit und frühe Jugend waren nicht gerade heiter oder glück­lich. Meine Eltern hatten mit 30 Jahren gehei­ra­tet, mein Vater war Geschäfts­füh­rer in der Berufs-Genos­sen­schaft der Papier­ma­cher. Am Ende des ersten Ehejah­res hatte meine Mutter eine Totge­burt. Danach muss­ten die Eltern neun Jahre warten, bis ich dann endlich kam — zu ihrer großen Freude. Inzwi­schen waren sie nach Frankfurt/Oder über­sie­delt, wohin Vater versetzt worden war. Er wurde in Berlin eines Tages von seinem Chef gefragt, ob er sich zutraute, in Frank­furt eine Sektion der Berufs­ge­nos­sen­schaft aufzu­bauen und er meinte, wenn Sie mir das zutrauen, traue ich es mir auch zu. Er nahm einige Herren aus Berlin mit. Die Arbeit tat er gern und die Eltern sollen sich in Frank­furt wohl gefühlt haben.
Ich wurde im April 1907 getauft. Berli­ner Verwandte kamen herüber, und es wurde später in der Fami­lie erzählt, dass mein Vater an diesem Tage noch heiter und gesel­lig gewe­sen war und eine eindrucks­volle Tisch­rede gehal­ten habe.
Im glei­chen Jahre, 1907, war er dann zwei­mal wegen völli­ger Nerven­zer­rüt­tung im städ­ti­schen Kran­ken­haus in Frank­furt. Nach der zwei­ten Behand­lung wurde meiner Mutter gesagt, dass er ein unheil­ba­res Gehirn­lei­den hätte und in eine Nerven­heil­an­stalt über­führt werden müsse. Das war ein unvor­stell­ba­rer Schreck für meine Mutter. Zuerst die Freude über das Kind und die geho­bene Stel­lung, über­haupt eine glück­li­che Ehe — und dann das. Es war auch wirt­schaft­lich eine Kata­stro­phe: Vater wurde mit 41 Jahren pensio­niert und starb später mit 49 Jahren, also da kann man sich vorstel­len, wie klein die Pension war, von der Mutter und ich leben muss­ten. Vater hatte eine mitt­lere Beam­ten­stel­lung, er hatte kein Abitur.
Mein Vater kam also in die Nerven­heil­an­stalt in Ebers­walde, die für unse­ren dama­li­gen Wohn­ort Frank­furt zustän­dig war. Ich habe über­haupt keine Erin­ne­rung mehr an ihn, da mich meine Mutter, als ich drei Jahre alt war, nicht mehr auf ihren Besu­chen zu ihm mitnahm. Ich sollte seinen Verfall nicht miter­le­ben. Zur wirt­schaft­li­chen Situa­tion vergaß ich noch zu sagen, dass 2/3 seiner Pension nach Ebers­walde zu seinem Unter­halt gingen, von dem 3. Drit­tel durf­ten Mutter und ich leben. Wie sie das geschafft hat, weiß ich nicht. Sie war sehr ruhig und ernst, aber liebe­voll im Umgang mit mir und klagte und jammerte nie. Sie zog sehr bald mit mir nach Berlin zurück, wo wir Verwandte hatten, zunächst in eine angeb­lich hübsche Wohnung nach Steglitz, nach einem Jahr zog sie aber mit einer Schwes­ter zusam­men in eine 3‑Zi.-Wohnung in die Bayreu­ther Straße. Diese Tante, unver­hei­ra­tet, habe ich sehr geliebt, es ging harmo­nisch bei uns zu. Mutter schickte mich dann in die Aug. Vikto­ria Schule in die Nürn­ber­ger Straße, ein 10-klas­si­ges Lyzeum. Vom 4. Schul­jahr an hatte ich eine Frei­stelle. In den ersten sieben Jahren ging ich weder ungern noch sehr gern zur Schule. Dann aber, in den letz­ten drei Jahren, lebte ich auf, schwärmte für unse­ren derzei­ti­gen Ordi­na­rius, bei dem wir Deutsch, Reli­gion und Geschichte hatten und war rich­tig glück­lich. Es ist sehr schwer, über diesen Mann, er war damals Mitte 30 und verhei­ra­tet, im ersten Welt­krieg gewe­sen, in weni­ges Sätzen Umfas­sen­des zu sagen. Dass er von uns unbe­dingte Aufmerk­sam­keit, Diszi­plin und Fleiß erwar­tete, merk­ten wir vor lauter Eifer kaum. Jeden Stoff brachte er leben­dig, einge­bet­tet in seine Geschichts­phase, jede Epoche wurde nach Entwick­lung und Stör­fak­to­ren etc. behan­delt. Er fragte Einzelne von uns plötz­lich mitten im Unter­richt, ob sie das gerade Behan­delte verstan­den haben und wenn nicht, warum sie denn nicht frage. Bei Aufsät­zen gab er uns 2 oder 3 Themen zur Wahl (für uns z.Zt. ganz neu!). Bei Gedich­ten eines Autoren konn­ten wir unter mehre­ren einen auswäh­len, das wir lern­ten.
In Reli­gion, damals haupt­säch­lich Kirchen­ge­schichte, brachte er den Stoff nicht nur so leben­dig und mitrei­ßend wie alles andere, sondern man merkte allmäh­lich, dass er ein ganz bewuss­ter, gläu­bi­ger Christ war. Er gehörte in seiner Wohn­ge­meinde nicht nur zum Gemeinde-Kirchen­rat, sondern auch zum Kreis­kir­chen­rat und schließ­lich zur ev. Gene­ral­syn­ode. Wenn die tagte, einmal im Jahr, durfte er zwei Tage in der Schule fehlen. Ohne dass er uns im Reli­gi­ons­un­ter­richt irgend­wie bedrän­gen oder “bekeh­ren” wollte, bezeugte er ganz sachte und fast insge­heim, dass es sich besser leben lässt, wenn man sich in der Kirche oder im Glau­ben gebor­gen fühlt. Er hatte, als er unsere Klasse über­nahm, allen — wir hatten viele Jüdin­nen bei uns — gesagt, dass er uns gern, wenn wir uns mal in Nöten oder Proble­men, welcher Art auch immer, glaub­ten, in Einzel­ge­sprä­chen zur Verfü­gung stünde. Davon habe ich im Laufe der drei Jahre öfter Gebrauch gemacht. Er wurde, auch nach der Schul­zeit, so eine Art Vater­fi­gur für mich, die ich ja sehr brauchte. Er hat als Pädago­gen eine steile Aufwärts­kar­riere gemacht — vom Studi­en­rat zum Ober­stu­dien-Direk­tor und schließ­lich zum Ober­schul­rat. Das Provin­zial-Schul­kol­le­gium, seine Dienst­stelle, löste Hitler später auf, er wurde wie alle heraus geschmis­sen (ohne jede poli­ti­sche Tätig­keit) und durfte dann bei Beibe­hal­tung von Titel und Gehalt als Studi­en­rat (!) weiter­ar­bei­ten. Dort — in Dahlem — war er in einer Lehrer­kon­fe­renz ausschlag­ge­bend betei­ligt, dass die Toch­ter vom Kultus­mi­nis­ter Rust nicht versetzt werden konnte. Er konnte ihr in Deutsch keine 3 mehr geben. Einige Wochen danach wurde er — ohne Angabe von Grün­den — nach Königs­berg versetzt, es war schon Anfang des Krie­ges. Dort kam er in den Volks­sturm und wurde als die Russen anrück­ten, gefan­gen genom­men und nach Sibi­rien verschleppt. Von seiner Frau konnte er sich nicht einmal verab­schie­den.
Er wurde 1947 oder 48 entlas­sen und lebte in Pots­dam. Seine Frau hat er verzwei­felt gesucht. Nach vielen Mona­ten schrieb ihm eine Königs­ber­ger Lehre­rin, dass sie seine Frau nach mehre­ren Mona­ten Russen­be­sat­zung tot und offen­sicht­lich verhun­gert in einem Haus­flur in Königs­berg gefun­den hatte. Sie hatte wohl Fabrik­ar­beit leis­ten müssen. Da hatte er nun Gewiss­heit, wenn auch eine Schreck­li­che. In Pots­dam hatten sie ihn zum Regie­rungs­di­rek­tor in der Sparte Lehrer­aus­bil­dung gemacht, schöne Arbeit, aber er war doch körper­lich und seelisch so rampo­niert von seinem leid­vol­len Schick­sal, dass er bereits 1958 starb. Er hatte mich gefun­den und besuchte mich öfter, manche andere frühere Schü­le­rin auch. Nach Pots­dam konn­ten wir ja nicht vom Westen aus.

Doch nun wieder zu mir. Ich verließ die Schule 1923. Meine Mutter war zu der Zeit schon sehr krank, sie starb im Sommer 1925. Das hatte natür­lich großen, nega­ti­ven Einfluss auf meine Berufs­wahl. Ich wollte zunächst Kran­ken­schwes­ter werden. Da rannte ich aber bei Mutter gegen eine Mauer: Aufgrund unse­rer ganz knap­pen wirt­schaft­li­chen Lage und des baldi­gen Ster­bens, das Mutter voraus­sah, war ihr klar, dass sie keine lange Ausbil­dung für mich, bei der ich voll von ihr hätte versorgt werden müssen, wählen könnte. Ich ging also als Lehr­ling — 2 1/2 Jahre Ausbil­dung — in die Darm­städ­ter- und Natio­nal­bank, wo ich gleich eine kleine Lehr­ver­gü­tung bekam. Man höre aber und staune: Im ersten Jahre, also 1923, Infla­ti­ons­jahr, bekam ich monat­lich Tausende von Mark, bald Millio­nen, Milli­ar­den bis Billio­nen. Im Dezem­ber, als die neue Währung kam, waren es 19,35 Reichs­mark pro Monat!!!
Im 2. Jahr waren es 50,- RM, im drit­ten etwa 75,-.
Zum 1. Okto­ber 25 wurde ich fest einge­stellt, am 21. Septem­ber war Mutter gerade gestor­ben. Nun stand ich mit ca. 110,- oder 120,- p.M. mutter­see­len­al­lein da, aber es ging. In der Bank war ich todun­glück­lich! Mich inter­es­sierte doch der ganze Kram nicht. Ob die Aktien so oder so stan­den, ob Herr Müller 5.000,- oder 500.000,- Mark Kredit bekam, war mir doch so schnuppe! Es gab auch damals noch keine Berufs­fach­schu­len, wo ich etwa einen Gesamt­über­blick über das Bank­we­sen hätte bekom­men können. Es war trost­los! Wie oft hatte ich auf dem Klo geses­sen und geheult. Dort hatte ich übri­gens Frau Jahr, damals Hilde Herlitz, kennen­ge­lernt, die aber leider schon Ende 1923 als Nicht-Fach­kraft abge­baut wurde. In den nächs­ten Jahren, als ich es bezah­len konnte, fing ich dann an, mein Englisch zu vervoll­komm­nen, nahm Einzel-Unter­richt, ging in einen engli­schen Club und fing an, engli­sche Romane zu lesen. “Gone with the wind”, vom Winde verweht und die fünf Bände “Fore­syte Saga” habe ich im Origi­nal gele­sen! D.h. ich suchte mich auf verschie­de­nen Gebie­ten güns­tig zu ernäh­ren, nur nicht zu verkom­men. Die Kame­rad­schaft in der Bank von den Jungen war nett, und schließ­lich war die Bank­fi­liale noch der Ort, von dem aus ich in die Jugend­be­we­gung kam durch eine etwas ältere Kolle­gin, die als einzige von uns Wander­vo­gel war. Sie nahm mich zunächst mit in einen klei­nen Kreis in Schmar­gen­dorf, der mich gleich sehr anzog, den ich jetzt aber nicht erst schil­dern will. Von dort aus kam ich in Bezie­hung zum Berli­ner Neuwerk-Kreis. Diese Gruppe war ein Teil des gesam­ten “Neuwerk-Krei­ses”, einer evan­ge­li­schen Wander­vo­gel-Verei­ni­gung, die am stärks­ten im Südwes­ten des damals unge­teil­ten Deut­schen Reiches verbrei­tet war. Ihr Ziel und Idea­lis­mus war es, die der Kirche bzw. dem Chris­ten­tum in den letz­ten Jahr­zehn­ten entfrem­dete Arbei­ter­schaft zurück­zu­ge­win­nen, das — rück­bli­ckend — ja nicht erreicht wurde. Unsere Berli­ner Gruppe wurde von einem ev. Pfar­rer, der an einer Moabi­ter Kirche ordi­niert war, gelei­tet. Wir waren einmal in der Woche zusam­men, ca. 25 Perso­nen, etwa im Alter von 18–30 Jahren, alles Wander­vö­gel.
Unsere Jungen waren über­wie­gend Studen­ten — Theo­lo­gen, Germa­nis­ten, Psycho­lo­gen — kaum Tech­ni­ker. Unter den Mädchen waren weni­ger Studen­tin­nen, haupt­säch­lich Kinder­gärt­ne­rin­nen, Lehre­rin­nen, Fürsor­ge­rin­nen, Kunst­ge­wer­be­rin­nen etc. und wenige kauf­män­ni­sche Ange­stellte. Wir hatten alle 14 Tage bibli­sche Themen — unser Pfar­rer Günter Dehm war ein ausge­zeich­ne­ter leben­di­ger Theo­loge, später Uni-Profes­sor in Bonn, und wir alles fragende, kriti­sie­rende, auf Lebens- und Glau­bens­fra­gen ausge­rich­tete Jugend­li­che. Der Kreis war jugend­be­wegt, theo­lo­gisch und mit einem Hauch von Sozia­lis­mus ausge­rich­tet. An den übri­gen 14 Tagen beschäf­tig­ten wir uns mit den damals aktu­el­len Dingen wie z.B. Psycho­ana­lyse, Zionis­mus, sozi­al­po­li­ti­sche Fragen und natür­lich mit Lite­ra­tur, übri­gens auch mit Philo­so­phie, wie mit Jaspers und Heid­eg­ger. Letz­te­rer war mir damals zu schwie­rig. Jaspers besagte mit viel. Wenn nötig, wurde zunächst ein Fach­mann heran­ge­holt zur Einfüh­rung, und wir arbei­te­ten dann selbst weiter.
Unter­ein­an­der stan­den wir und recht nahe. An den Wochen­en­den wurde gewan­dert, gesun­gen und proble­ma­ti­siert. Einmal waren wir 14 Tage zusam­men in Gral-Müritz an der meck­len­bur­gi­schen Küste, 1927. Günter hatte für uns ein Pensi­ons­haus gemie­tet, wo wir in Doppel­zim­mern wohn­ten, immer je zwei Mädchen und zwei Jungen, und einem schö­nen Aufent­halts­raum für alle hatten. Die roman­ti­schere Zeit mit Schla­fen in Zelten und Abko­chen habe ich nicht mehr miter­lebt. Die Jugend­be­we­gung war zu meiner Zeit schon leise im Abklin­gen. Es waren herr­li­che zwei Wochen, in denen ich mich übri­gens auch verlobt hatte. Eine blöd­sin­nige Wahl — wir pass­ten über­haupt nicht zuein­an­der, nach rund einem Jahr gingen wir wieder ausein­an­der.
Dieser Kreis, in dem ich mit unvor­stell­ba­rer Begeis­te­rung war, hat für mich meine Lebens­aus­rich­tung geprägt. Ich war übri­gens auch trotz meiner etwas mick­ri­gen Exis­tenz ohne Abitur und ohne einen anstän­di­gen — oder sagen wir inter­es­san­ten — Beruf sehr selbst­ver­ständ­lich und herz­lich aufge­nom­men worden. Dort lernte ich übri­gens den Fürsor­ge­rin­nen-Beruf, der ja auch ziem­lich neu war, kennen. Er impo­nierte mir außer­or­dent­lich und ich über­legte sehr und versuchte, mich irgend­wie ohne Ausbil­dung in ihn hinein zu mogeln, aber das war unmög­lich, die Ausbil­dung war lang und anspruchs­voll.

Der 2. Welt­krieg trieb uns dann ausein­an­der. Die Jungen, die je nach Been­di­gung ihres Studi­ums sowieso nach einer Zeit­spanne Berlin verlas­sen hatten und durch neue, jüngere laufend ersetzt wurden, wurden nun auch noch einge­zo­gen, und wir alle stan­den bald laufend in Bomben­ge­fahr. Ich verlor meine mütter­li­che Wohnung 1943 und die Notbleibe dann noch­mals 1945. Nach der 2. Ausbom­bung nahm mich der Vater einer jünge­ren Freun­din, der allein von seiner Fami­lie in seiner 5‑Zi.-Wohnung mit einem Dienst­mäd­chen zurück­ge­blie­ben war. Seine Frau war verstor­ben, seine zwei Söhne im Feld und seine Toch­ter, meine Freun­din, war auswärts als Dozen­tin einer Lehre­rin­nen-Bildungs­an­stalt. Er selbst fiel ganz zu Ende des Krie­ges im Volks­sturm. Dann war ich kurze Zeit ganz allein in der großen Wohnung und wurde in der Russen­zeit fünf­mal verge­wal­tigt — mit Anste­ckung.
Anfang Mai kam meine Freun­din dann zurück, ohne alles, mit durch­ge­lau­fe­nen Füßen, die Schuhe in der Hand. Sie fiel mir weinend in die Arme mit der Frage: “Wo ist Vati?”
Sie fand, als sich alles notdürf­tig norma­li­sierte, Arbeit als Lehre­rin, hielt die große Wohnung durch vermie­ten, heira­tete 1954, hat süße Töch­ter, die jetzt auch verhei­ra­tet sind und Kinder haben. Ich wohnte dort bis 1960, als ich mir eine Eigen­tums­woh­nung, 2 Zimmer, in Wilmers­dorf kaufte. In dieser Fami­lie, deren Entste­hung ich miter­lebte, bin ich voll­kom­men verwur­zelt. Mit dem Mann meiner Freun­din verstand ich mich bestens. Er ist vor 1 1/2 Jahren bei einem fürch­ter­li­chen Verkehrs­un­glück ums Leben gekom­men.

Doch zurück zu 1945. Als Bank­an­ge­stellte stand ich ja nun völlig im Freien. Die Banken in Berlin hatten ja sehr viel länger geschlos­sen, als die in der späte­ren Bundes­re­pu­blik. Ich war im Mai einmal zu Fuß — zwei Stun­den lang — durch das grau­sig zerstörte Berlin in rest­li­chen Teile der Ruine der Dresd­ner Bank­zen­trale gegan­gen und traf dort einen Rest des frühe­ren Perso­nal­bü­ros an. Natür­lich konnte niemand uns etwas Verbind­li­ches sagen. Wir beka­men nur eine Beschei­ni­gung, dass wir auf unbe­stimmte Zeit gehalt­los beur­laubt wurden. Was nun? Die großen Firmen und Betriebe waren ja alle zerstört oder still­ge­legt im Laufe des Krie­ges und kamen ganz, ganz lang­sam wieder, die meis­ten erst nach der Währungs­re­form, also drei Jahre nach dem Krieg. Und dann kam noch hinzu, ich war ja nur im Bank­fach ausge­bil­det. Zum Glück hatte ich während meiner Lehr­zeit Maschi­ne­schrei­ben und Steno­gra­phie gelernt, verlangt wurde das nicht in der Bank. Und im tiefs­ten Grunde wollte ich ja auch gern ganz aus dem kauf­män­ni­schen Bereich heraus. Sehr bald fiel mir die Kirche ein. Ich ging zu einem der Dahle­mer Pfar­rer in Wohn­nähe, und siehe da, der brauchte gerade eine Gemein­de­hel­fe­rin. Die brauch­ten ja norma­ler­weise auch eine Ausbil­dung, aber dieser Pfar­rer merkte im laufen­den Gespräch, dass ich im kirch­li­chen Leben ziem­lich zuhause war und stellte mich ein. Das Gehalt, das er mit nach Verstän­di­gung mit seinem Vorge­setz­ten bot, entsprach meinem bishe­ri­gen Gehalt bei der Bank. Also fing ich sehr bald an, froh und etwas ängst­lich. Ich hatte da vormit­tags Büro­ar­bei­ten, auch aller­lei Publi­kums­ver­kehr mit Gemein­de­glie­dern, die z.B. Amts­hand­lun­gen anmel­den wie Taufen, Trau­un­gen, Beer­di­gun­gen, Auskünfte woll­ten und um Hilfe aller Art baten, für die natür­lich der Pfar­rer selbst zustän­dig war. Es gab auch einige Kassen zu führen, die sonn­täg­li­chen Kollek­ten zu verbu­chen und weiter­zu­lei­ten etc. Also Büro­ar­bei­ten, die mir sehr viel mehr Spaß mach­ten, als die in der Bank. Nach­mit­tags machte ich dann Gemein­de­be­su­che, ein weites Feld in dieser Notzeit, in der über­all gelit­ten, gehun­gert und gestor­ben wurde. Auch zwei Alters­heime lagen in unse­rer Gemeinde, in denen ich bald auch kleine Andach­ten hielt. Das war nun eine Aufgabe, die außer guter Vorar­beit innere Bereit­schaft, Einfüh­lungs­ver­mö­gen und seel­sor­ge­ri­schen Takt erfor­derte und die niemand, ob ausge­bil­det oder nicht, so neben­her hinlegte. Ohne meine Exis­tenz im Neuwerk-Kreis hätte ich das nicht gekonnt.
Und nun kommt der Clou. Eines Tages sagte mir der Pfar­rer, ich sollte doch mal zu einer Frau Friese, eine Sech­zi­ge­rin, die noch niemand nach 1945 wieder in der Gemeinde gese­hen hätte und die vorher sehr rege am Gemein­de­le­ben teil­ge­nom­men hätte. Ich traf auf eine sehr lebhafte, liebens­wür­dige Dame, die sich herz­lich freute, dass jemand aus der Gemeinde nach ihr sah und versprach auch, zu kommen. Wir kamen in ein langes, gutes Gespräch. Sie seien eine Juris­ten­fa­mi­lie. Ihr verstor­be­ner Mann sei Rechts­an­walt gewe­sen, ihre Toch­ter und ihr Schwie­ger­sohn, die zwei Kinder hätten, seien eben­falls Juris­ten. Das große Leid sei, dass ihr Schwie­ger­sohn vor weni­gen Wochen von den Russen abge­holt worden und dem Verneh­men nach nach Sibi­rien verschleppt worden sei. Er war wohl Nazi, ich fragte nicht. Es sei, diese Worte habe ich behal­ten, “eine so maßlos glück­li­che Ehe” gewe­sen. Sie, die Toch­ter, habe erfreu­li­cher Weise Arbeit gefun­den, eben als Juris­tin, die große Ansprü­che an sie stelle, ihr aber auch helfe, ihr Schick­sal zu tragen.
Sie kamen bald abends mal zur Bibel­stunde, wir sahen uns an, die Toch­ter und ich, und schrien: “Käthe!” — “Gerda!” Sie war eine Mitschü­le­rin von mir, sprang nach der 4. Klasse aller­dings ab und besuchte die Studi­en­an­stalt, um das Abitur zu machen. Nach meinem Schul­ab­gang von der 10. Klasse hatten wir uns dann nicht mehr gese­hen. Nun — nach der Veran­stal­tung — plau­der­ten wir noch eine Weile zusam­men. Sie erzählte, dass sie Dozen­tin an der Frau­en­schule Alice Salo­mon, der staat­li­chen, sei und dort Rechts­kunde in allen Vari­an­ten unter­rich­tete. Ich erzählte ihr von meiner Situa­tion und schließ­lich platzte sie heraus: “Hast du nicht Lust, Fürsor­ge­rin zu werden?” Ich muss wohl sehr blöd geguckt haben, jeden­falls fassungs­los. Sie erklärte mir, dass Fürsor­ge­rin­nen drin­gend gebraucht würden, also Mangel­ware seien. Einzige Voraus­set­zung für die Aufnahme zur Ausbil­dung seien Mitt­lere Reife und eine abge­schlos­sene Berufs­aus­bil­dung. Der Unter­richt erfolgte abends, tags­über wurde man gleich in die prak­ti­sche Arbeit geschleust, sozu­sa­gen als Lehr­ling in einem Bezirks­amt, Fami­li­en­für­sorge.
Sie versprach mir, mich bei der Direk­to­rin Frau Dr. Runkel anzu­mel­den, und ich ging wie in einem Taumel nach Haus und besprach alles mit meiner Freun­din. Das Gespräch bei Frau Dr. Runkel verlief sehr posi­tiv. Es impo­nierte ihr, dass ich diesen Beruf wirk­lich mit heißem Herzen ersehnt hatte. Im Novem­ber begann ein neuer Lehr­gang — es war Spät­som­mer, als ich dort war. Ich kündigte in meiner Dienst­stelle, erle­digte die weni­gen Forma­li­tä­ten und erfuhr, dass ich in die Fafü Steglitz kommen würde. Finan­zi­ell war ich gesi­chert, weil ich gleich Gehalt bekam, im ersten Halb­jahr aller­dings nach Gruppe 9 der Ange­stell­ten-Besol­dung, aber das machte inso­fern nichts, da wir im Jahre 1947 ja noch in der ersten Nach­kriegs­zeit waren und außer den kümmer­li­chen paar Lebens­mit­teln auf unsere Karten nichts zu kaufen beka­men. Das ging erst Mitte 1848 los, und da war ich dann immer­hin in Gruppe 8. Die Ausbil­dungs­zeit war hoch­in­ter­es­san­tes Neuland für mich, aber hart, ganz hart. In der Frau­en­schule ging mir alles glatt ein: unsere Fächer waren Jugend­wohl­fahrt, Rechts­kunde, also Fami­li­en­recht, Jugend­recht, Jugend­straf­frei­heit, Staats­recht, Pädago­gik, Psycho­lo­gie und Sozi­al­me­di­zin. Die Dozen­ten waren über­wie­gend ausge­zeich­net klar und leben­dig, wir schrie­ben dann und wann Klas­sen­ar­bei­ten und zu Haus hatten wir Gesetze zu pauken und Refe­rate auszu­ar­bei­ten.
Nach 2 1/2 Jahren schloss unsere Frau­en­schul­zeit mit einer Prüfung ab, die ich mit gut machte, und die Zeit als Hilfs­für­sor­ge­rin im Amt endete. Wir wurden “aner­kannt” und als Fürsor­ge­rin­nen in der Gehalts­gruppe 7, später 6, einge­stellt. Ich blieb ca. zehn Jahre in der Fafü Steglitz und ging dann in das Landes­ju­gend­amt in die Sparte Heim­erzie­hung. Mein großer Wunsch nach Arbeit, die mich als Menschen, als Frau geis­tig und von der mütter­li­chen Seite her forderte und mich erfüllt, war tatsäch­lich noch erfüllt worden. Inzwi­schen waren die fünf­zi­ger und sech­zi­ger Jahre vorüber­ge­gan­gen und hatten für uns alle und jeden Einzel­nen manche Wende gebracht. Ich war 1960 in eine eigene Wohnung, eine schöne 2‑Zi.-Eigentums-Wohnung gezo­gen, die Freund­schaft mit Schulz und ihrer Fami­lie festigte sich immer mehr, Günter Dehm, der Mittel­punkt unse­res Neuwerk-Krei­ses, hatte in der Zeit des Kirchen­kamp­fes in der Nazi­zeit 1 1/4 Jahre im Gefäng­nis geses­sen, die Fami­lie verlor ihre Wohnung durch Bomben und einer seiner drei Söhne blieb in Russ­land verschol­len. Er selbst wurde 1948 Univer­si­täts-Profes­sor für prak­ti­sche Theo­lo­gie in Bonn. Als er 1970 mit 88 Jahren, fast erblin­det, seine Frau verlor, ging ich, leider nur für zwei Monate, nach Bonn und betreute ihn in seiner Wohnung bis zu seinem Tode. Unser Kreis war in der Kriegs- und Nach­kriegs­zeit lang­sam zerbrö­selt. Wir in Berlin Verblie­be­nen hatten Kontakt bis Einer nach dem Ande­ren verstarb. Ich als die Jüngste bin die letzte Übrig­ge­blie­bene.

Käthe T.

print

Zufallstreffer

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*