Die Widersprüchlichkeit des Tiergartens

Unser großer Park in der Mitte Berlins strahlt in diesen Mona­ten wieder in vielen Grün­tö­nen, über­all liegen Besu­cher in knap­per Klei­dung in der Sonne, die schwu­len Männer auf der Tunten­wiese haben sogar meist gar nichts an. Dazwi­schen spazie­ren Berli­ner und Touris­ten, am Neuen See trinkt die Bundes­kanz­le­rin ihren Milch­kaf­fee, Kinder toben auf dem Spiel­platz auf der ande­ren Seite des Parks, Rent­ner, Verliebte und Einsame schlen­dern durch den Rosen­gar­ten. Und von vielen Orten aus hat man einen Blick auf die Sieges­säule mit dem frisch vergol­de­ten Engel oben drauf. Eine Idylle.

Doch diese Idylle täuscht. Es ist auch kein Engel, der von der Säule herun­ter leuch­tet, sondern die Sieges­göt­tin Vikto­ria, auch Nike genannt. Sie hat weni­ger mit Turn­schu­hen zu tun, als mit dem ande­ren Gesicht des Tier­gar­tens. Dem häss­li­chen Gesicht. Dem von Mili­ta­ris­mus, Krieg, Faschis­mus und Verfol­gung.
Natür­lich: In Berlin findet man über­all Über­bleib­sel aus dunk­len Jahren, schließ­lich war hier das Zentrum des Kaiser­reichs, den Nazi-Staats und des Kalten Kriegs. Hier im Tier­gar­ten aber konzen­triert es sich, auch wenn es kaum jemand wahr­nimmt. Es ist eben das typi­sche Berli­ner “Is halt so”. Und die Steine sind ja nicht schuld am Elend der Geschichte. Also nimmt man es hin, so wie die Kinder 1945 die ausge­brann­ten Sowjet­pan­zer als Spiel­ge­räte genutzt haben, so wie ich in jungen Jahren auf brach­lie­gen­den Grund­stü­cken nach Knochen von Bomben­op­fern gebud­delt habe.

Dabei ist der Tier­gar­ten wahr­lich ein Geschichts­park. Man muss ihn nur zu lesen wissen. Zum Beispiel die Sieges­säule. Man kennt sie als Aussichts­turm, als Mittel­punkt des Parks, als Symbol der Love­pa­rade in dem 1990er Jahren. Dabei erin­nert sie an viel Leid, an die Kriege gegen unsere Nach­barn Däne­mark, Öster­reich und Frank­reich im 19. Jahr­hun­dert. Es waren die letz­ten Kriege, die Deutsch­land gewon­nen hat. 1873 wurden sie mit der Sieges­säule gefei­ert, noch heute sind die vergol­de­ten Kano­nen der besieg­ten Armeen an der Außen­seite des Turms zu sehen. Am Sockel sind Reli­efs ange­bracht, die die drei Eini­gungs­kriege und den sieg­rei­chen Einzug der Trup­pen in Berlin im Jahr 1871 zeigen. Über Allem steht Vikto­ria mit Eiser­nem Kreuz, Lorbeer­kranz und Adler­helm. Und trotz ihrer martia­li­schen und kriegs­ver­herr­li­chen­den Posi­tion wird sie nur respekt­los „Goldelse“ genannt.

Einge­rahmt wird die Sieges­säule von großen Denk­mä­lern, die den Reichs­kanz­ler Otto von Bismarck, seinen Gene­ral­feld­mar­schall Albrecht von Roon sowie den Chef des Gene­ral­sta­bes Helmuth von Moltke zeigen. Alle­samt preu­ßi­sche Kriegs­trei­ber, die hier für hundert­tau­send­fa­chen Tod gefei­ert werden.

Als es Preu­ßen noch gab, der Kaiser sich aber eben nach Holland verdrückt hatte, wurde der Tier­gar­ten zum Schau­platz zweier schreck­li­cher Verbre­chen. Im Januar 1919 ermor­de­ten rechts­extreme Frei­korps-Offi­ziere Rosa Luxem­burg und Karl Lieb­knecht, die eine Repu­blik grün­den woll­ten, in der nicht Adel, Mili­tär und Groß­ka­pi­ta­lis­ten das Sagen haben, sondern die Arbei­ter und soge­nann­ten “klei­nen Leute”. Dafür wurden ihre Körper in den Land­wehr­ka­nal gewor­fen, heute erin­nern im Tier­gar­ten kleine Gedenk­ta­feln an sie. Doch anders als Bismarck oder Moltke kann man diese hier leicht über­se­hen.

Bald war dann auch der Tier­gar­ten selbst ein Schlacht­feld. Am Rande wurde der Groß­bun­ker bombar­diert, ein Groß­teil der Tiere im nahen Zoo star­ben, so wie auch die meis­ten Bäume im Park. 1945 sah der Park aus wie eine Steppe, und im folgen­den Hunger­win­ter wurden auch die rest­li­chen Bäume abge­holzt. Nur einige wenige über­leb­ten, viel­leicht wurden sie respek­tiert, aufgrund ihres Alters, ihrer Größe und Schön­heit. Viel­leicht hat man in ihnen ein Symbol gese­hen, dass das kalte und zerbombte Berlin wieder aufer­ste­hen könnte. Bis dahin aber zogen erst­mal Trecker lange Furchen in den Boden, der Tier­gar­ten diente mehrere Jahre als Feld zum Anbau von Kartof­feln.

Die Spuren des Faschis­mus’ und des Kriegs begeg­nen uns noch heute. In Form des (für Spazier­gän­ger unsicht­ba­ren) Stum­mels des Auto­bahn­tun­nels, der aufgrund der größen­wahn­sin­ni­gen Stadt­pla­nung von Hitler und Albert Speer schon mal ange­legt wurde und noch heute unge­nutzt in der Erde liegt. Oder des nur halb wieder aufge­bau­ten Rosen­gar­tens. Die Pergola weist bis heute Lücken auf, die auch nie wieder geschlos­sen werden.

Vor allem aber erin­nern einige Mahn­male daran, was hier von Berlin aus gesche­hen ist. Das größte liegt am östli­chen Rand des Tier­gar­tens: Das Mahn­mal für die ermor­de­ten Juden Euro­pas zeigt unüber­seh­bar, wohin Rassis­mus und die Ausgren­zung von Teilen der Bevöl­ke­rung führen kann. Dafür stehen auch die Mahn­male für die ermor­de­ten Sinti und Roma nahe des Reichs­tags und für die im NS-Staat verfolg­ten Homo­se­xu­el­len. Nahe der Phil­har­mo­nie erin­nert ein Gedenk­ort an die Eutha­na­sie-Morde, denen von 1939 bis 1949 psychisch kranke und behin­derte Menschen zum Opfer fielen. Hier in der Tier­gar­ten­straße befand sich während der Nazi­zeit das Gebäude, in dem diese Verbre­chen geplant und orga­ni­siert wurde.
Neben dem Reichs­tag ein Mahn­mal für die von den Nazis verfolg­ten Parla­men­ta­rier. An der Ebert­straße finden sich weiße Kreuze, sie stehen für Flücht­linge, die bei der Flucht aus Ost-Berlin erschos­sen wurden oder in der Spree ertrun­ken sind.
Direkt an der Straße des 17. Juni bewa­chen zwei Panzer und der acht Meter hohe, bron­zene Rotar­mist seit Novem­ber 1945 den Fried­hof, auf dem 2.000 bis 2.500 getö­tete russi­sche Solda­ten begra­ben liegen. Sie gehör­ten zu den Befrei­ern Berlins, die ihr Leben riskier­ten, um das Nazi­re­gime zu zerschla­gen. Und die dabei ihr Leben verlo­ren.

All diese Mahn­male und Gedenk­orte doku­men­tie­ren den Schre­cken von Krieg und Dikta­tur. Heute stehen am Rande des Tier­gar­tens der Sitz des Bundes­prä­si­den­ten im Schloss Belle­vue, das Kanz­ler­amt sowie das deut­sche Parla­ment. Und auch dieses ist wieder ein eige­nes Mahn­mal, verschmäht erst vom Kaiser als „Schwatz­bude“, Ort von gewalt­tä­ti­gen Ausein­an­der­set­zun­gen zwischen Nazis und Kommu­nis­ten in der Weima­rer Repu­blik, 1933 ange­zün­det, nach 1945 als unge­lieb­ter Riesen­bau für eine lieb­lose Geschichts­aus­stel­lung genutzt. Und 1994 wieder aufer­stan­den, mit glän­zen­der Haut, zwei Wochen lang, und weil das nicht so blei­ben konnte mit gläser­ner Kuppel seit­dem. Auch ein Ort, der die deut­sche Geschichte von über hundert Jahren doku­men­tiert.

Auch die Wider­sprü­che der heuti­gen Zeit werden im und am Tier­gar­ten sicht­bar. Sein östli­cher Rand wird bevöl­kert von Touris­ten, rund um das Bran­den­bur­ger Tor, sie finden es einen inter­es­san­ten Ort. Tausende von Erin­ne­rungs­fo­tos werden hier jeden Tag geschos­sen. Ein Kontrast zum west­li­chen Ende: Manche Rasen­flä­chen versan­det, die Wege vermüllt, Obdach­lose haben sich in den Büschen an der Stadt­bahn einge­rich­tet. Abseits der Wege bieten Prosi­tu­ierte nachts schnelle Nummern zum güns­ti­gen Preis. Kosten­los trei­ben es die Gay-Crui­ser mitein­an­der, die sich west­lich der Sieges­säule tref­fen. Im Sommer manch­mal zu Hunder­ten. Unten am Land­wehr­ka­nal liegen Haus­boote, wieder eine eigene Welt.

Der Tier­gar­ten ist ein Ort der Wider­sprü­che und Gegen­sätze. Auf die Geschichte bezo­gen, aber auch in der heuti­gen Zeit.

(Foto: Constan­tin Schä­fer unter CC BY-SA 3.0)

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