Windsor Castle

960 km. Geschmug­gelte Zettel­chen

Um Berlin zu verste­hen, muss man auch Kaiser Wilhelm II. verste­hen, den Berli­ner, der so viel bewegt und am Ende Deutsch­land in einen Welt­krieg geführt hat. Um diesen Kaiser Wilhelm zu verste­hen, muss man seine Eltern und seine Erzie­hung verste­hen. Und dabei helfen zahl­lose Zettel­chen in Wind­sor.

Zettel­chen? Heute würden wir sagen: Mails.

Von den Eltern Kaiser Wilhelms und ihren Zettel­chen wusste ich 1971 noch nichts. Damals war ich studen­ti­sche Hilfs­kraft am Rechen­zen­trum der Ruhr-Univer­si­tät Bochum. Dort gab es einen einzi­gen Compu­ter, und über den Campus verteilt stan­den 250 Fern­schrei­ber, über die man diesen Compu­ter vom Arbeits­platz aus program­mie­ren und mit Daten füttern konnte. Compu­ter dien­ten damals wissen­schaft­li­chen Berech­nun­gen. Dass sie etwas mit Kommu­ni­ka­tion zu tun haben könn­ten, war noch unvor­stell­bar. Der Effekt der Fern­schrei­ber war, dass 250 Wissen­schaft­ler gleich­sam ihren eige­nen Compu­ter im Arbeits­zim­mer hatten. „Virtu­ell“ nannte man das.

Mir schien es sinn­voll, diesen zentra­len Compu­ter so zu program­mie­ren, dass die Menschen an den Fern­schrei­bern auch kurze Berichte an Menschen an ande­ren Fern­schrei­bern schi­cken könn­ten. Unser System­pro­gram­mie­rer hätte das an einem halben Tag geschafft, und die Belas­tung für den zentra­len Compu­ter wäre vernach­läs­sig­bar gewe­sen. Aber unser Direk­tor fand meine Idee Unsinn. Menschen kommu­ni­zie­ren, indem sie einan­der aufsu­chen oder anru­fen, alles andere wäre über­flüs­sig.

So hatte ich 1971 die E‑Mail erfun­den. Ich hätte die Erfin­dung paten­tie­ren lassen und an jeder welt­weit versand­ten Mail einen zehn­tel Pfen­nig verdie­nen können. Die Ruhr-Univer­si­tät hätte welt­be­rühmt werden können als eine der ersten Univer­si­tä­ten, die die moderne Kommu­ni­ka­ti­ons­tech­nik entwi­ckelt.

Über Kaiser Wilhelm wusste ich damals auch noch fast nichts. Der Mann, der die Wupper­ta­ler Schwe­be­bahn und die Müngs­te­ner Brücke einge­weiht hatte, wäre sicher von meiner Erfin­dung begeis­tert gewe­sen. Er konnte sich vorstel­len, was Tech­nik bewir­ken kann. Er hatte ja auch den Video­clip erfun­den: Als es die ersten Film­ka­me­ras gab, hatte er sich ausge­dacht, dass man einen seiner Auftritte mit 32 Kame­ras aus verschie­de­nen Perspek­ti­ven filmen und dann Mate­rial nach­her zusam­men­schnei­den sollte. Über Wilhelm den Zwei­ten kann man denken, was man will; aber er hat nie tech­ni­schen Fort­schritt abge­lehnt mit dem Argu­ment „das brau­che ich nicht“. Im Gegen­teil.

Damals, 1971, fehlte mir nur das Durch­set­zungs­ver­mö­gen; alles andere war da. Heute wissen wir, dass der aller­größte Teil des welt­wei­ten E‑Mail-Verkehrs, von SPAM abge­se­hen, inner­halb von Behör­den, Orga­ni­sa­tio­nen, Firmen und Fami­lien statt­fin­det, also da, wo man den Empfän­ger auch zu Fuß aufsu­chen oder kosten­los anru­fen könnte. Was mein Direk­tor damals nicht einse­hen wollte: Ein persön­li­cher Besuch, selbst im eige­nen Haus, kann unbe­quem sein, und man weiß nicht, ob man stört, wenn man hinein­platzt. Oder man kommt nicht mehr zurück an seine eigene Arbeit, weil der Besuchte sich gerade lang­weilt und einen fest­hält. Auch ein Anruf stört meis­tens, und wenn man Adres­sen oder Konto­num­mern tele­fo­nisch durch­ge­ben will, entste­hen gern Fehler. „Mit M wie Mord­pol.“ Wenn ein persön­li­ches Gespräch nicht unbe­dingt nötig ist, kann man am besten einen kurzen Text schi­cken. Das stört nicht; Über­tra­gungs­feh­ler sind ausge­schlos­sen; man weiß, dass die Nach­richt ange­kom­men ist, und hat die Sache aus dem Kopf.

So hiel­ten es auch die Eltern des späte­ren Kaisers Wilhelm II., Kron­prinz Fried­rich von Hohen­zol­lern und seine Frau Vikto­ria, die Toch­ter von Queen Victo­ria. Die hatten zwar noch keine E‑Mail, aber sie hatten Lakaien, was auf das Glei­che hinaus­kam. Beide arbei­te­ten viel, hiel­ten sich oft in gegen­über­lie­gen­den Flügeln des Schlos­ses oder gar in verschie­de­nen Schlös­sern auf, und sie schick­ten sich mit Hilfe von Lakaien immer wieder Zettel­chen, wenn ihnen etwas in den Sinn kam. „Lakaien und Zettel­chen brau­che ich nicht“ sagen nur Leute, die gar nicht wissen, wie nütz­lich so etwas ist, weil sie es schlicht und einfach nicht kennen. Ihnen fehlt der Weit­blick.

Viele dieser Zettel­chen handeln von der Erzie­hung des Sorgen­kin­des. Denn ein Sorgen­kind war dieser Prinz, seit man ihn gewalt­sam aus dem Leib seiner Mutter heraus­ge­zerrt hatte. Der linke Arm und einige Hals­mus­keln waren gelähmt, weil dabei alle Nerven in der Schul­ter zerris­sen wurden. Auch hatte sein Gehirn zu wenig Sauer­stoff, weil man ihn erst Minu­ten nach der Geburt zum Atmen brachte. Da man damals noch nicht rich­tig verstand, wie Nerven funk­tio­nie­ren, wandte man jahre­lang Thera­pien mit Bewe­gungs­ma­schi­nen, Gleich­strom­stö­ßen und Wech­sel­strom­wärme an, die über­haupt nicht helfen konn­ten, aber das Kind psychisch schwer belas­te­ten. Da man in großer Verzweif­lung auch die selt­sams­ten Natur­heil­me­tho­den nicht scheut, steckte man den Arm des Säug­lings täglich in einen frischt­o­ten Hasen. „Anima­li­sche Wärme“. Hitler würde später erfor­schen lassen, ob man Erfro­rene besser auftauen kann, wenn man nackte lebende Frauen neben sie legt. Dieselbe Idee.

Auch pädago­gisch rich­te­ten die Eltern des Prin­zen viel Scha­den an. Wir werden noch darauf zurück­kom­men, dass das Fami­li­en­tra­di­tion war mindes­tens seit dem Großen Kurfürs­ten.

Jeden­falls war Kaiser Wilhelm II. ein Produkt seiner Behin­de­run­gen und seiner kata­stro­pha­len Erzie­hung, und das erklärt sein Verhal­ten, seine Reden und seine Entschei­dun­gen, nach­dem er auf den Thron gekom­men war.

Diese Erzie­hung verste­hen wir heute so genau, weil sie auf zahl­lo­sen solchen Zettel­chen doku­men­tiert ist. Und die liegen im Haus­ar­chiv in Wind­sor, weil die Mutter Wilhelms ihrem heran­wach­sen­den Sohn nicht traute und jahre­lang Papiere in Diplo­ma­ten­ge­päck zu ihrer Mutter, Queen Victo­ria, schmug­geln ließ. Als ihr Mann 1888 starb und ihr Sohn König und Kaiser wurde, ließ der sofort die Schlös­ser seiner Eltern umstel­len, um alle Papiere an sich zu brin­gen – aber da war es schon zu spät. John C. G. Röhl war in Wind­sor im Archiv und hat alles verar­bei­tet im ersten Band seines drei­bän­di­gen Werkes: Wilhelm II., Die Jugend des Kaisers.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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