S‑Bahn

Getrennte Verbin­dun­gen

Die NS muss­ten sich etwas einfal­len lassen. NS ist die offi­zi­elle Abkür­zung für die Neder­landse Spoor­we­gen, also die Nieder­län­di­schen Schie­nen­wege. Meine alte Mutter konnte nieder­län­di­sche Zeitun­gen lesen; aber bei dieser Abkür­zung zuckte sie zusam­men und verstand nichts mehr. Manche Abkür­zun­gen machen Menschen Angst.
Die NS muss­ten sich um das Jahr 2000 etwas einfal­len lassen, weil in der Rand­stad regel­mä­ßig der Verkehr zusam­men­brach. Das tut er immer noch. Die Rand­stad, so nennt man heute das Konglo­me­rat von alten, reichen Städ­ten nahe der Nord­see­küste, die damals schon den Großen Kurfürs­ten beein­druckt hatten: Den Haag, Rotter­dam, Leiden, Gouda, Amster­dam, Haar­lem und etli­che klei­nere Gemein­den. Obwohl dort immer mehr Auto­bah­nen gebaut werden, nimmt der Auto­ver­kehr zu. Also sollte endlich die Eisen­bahn im Berufs­ver­kehr eine größere Rolle spie­len. Und da hatten sich die NS etwas Revo­lu­tio­nä­res ausge­dacht und waren ganz stolz darauf. Light Rail. Das sind Züge, die viel mehr Türen haben als die bishe­ri­gen Züge, damit der Aufent­halt am Bahn­hof nicht so lange dauert. Das sind viel mehr Bahn­höfe, alle paar Kilo­me­ter, ohne teure Bahn­hofs­ge­bäude. Haupt­sa­che, die Leute können über­all schnell ein- und ausstei­gen. Weil sie doch nicht lange unter­wegs sind, kann man auch auf Toilet­ten in den Zügen verzich­ten. Kurzum, Eisen­bahn­züge und Bahn­höfe, die für den Nahver­kehr opti­miert sind. So etwas konnte man sich bisher nicht vorstel­len; aber nun sollte es Wirk­lich­keit werden.
Man hätte aber auch einmal über den Teller­rand schauen können. Das zu Zeiten des Großen Kurfürs­ten so rück­stän­dige Bran­den­burg hatte sich nämlich seit­her gemacht. Light Rail gibt es, wenn auch ohne diesen Namen, im Groß­raum Berlin seit hundert­fünf­zig Jahren. Damals war der, vom alten Berlin und Cölln abge­se­hen, ein Konglo­me­rat von ein paar rela­tiv jungen Städ­ten und vielen Bran­den­bur­gi­schen Dörfern, die gerade anfin­gen zu wach­sen. Die ersten Fern­bahn­li­nien waren entstan­den. 1871 dachte man sich die Ring­bahn aus und immer mehr radial davon ausge­hende Linien ins Umland. Der Bau dauerte nur ein paar Jahre. Alle paar Kilo­me­ter ein Bahn­hof, Züge mit vielen Türen, Fern­ver­kehr und Nahver­kehr auf getrenn­ten Glei­sen. Die meis­ten Bahn­höfe hatten zwar rela­tiv kleine, aber sorg­fäl­tig gestal­tete Bahn­hofs­ge­bäude. Alle diese Gebäude sind verschie­den und wurden von unter­schied­li­chen Archi­tek­ten entwor­fen. Sie soll­ten zugleich Erken­nungs­zei­chen, Visi­ten­karte und Empfangs­raum des Stadt­teils sein, also erstens unver­wech­sel­bar und zwei­tens attrak­tiv, und sie sind es bis heute. Hier holte man gern den Besuch vom Lande ab. Hier gewöhnte man sich gern an dieses neumo­di­sche Verkehrs­mit­tel.
Das machte so viel Spaß, dass man 1880 auch eine Verbin­dung mit vielen Bahn­hö­fen quer durch das inzwi­schen viel dich­ter gewor­dene städ­ti­sche Konglo­me­rat haben wollte, von West­kreuz bis Ostkreuz. Zwei Jahre später war sie fertig und wurde Stadt­bahn genannt.
In manchen Städ­ten, zum Beispiel in Bonn, zerschnei­det die Eisen­bahn die Innen­stadt, und man muss riesige Umwege machen, um von der einen Seite auf die andere zu kommen. Nicht so in Berlin. Die Stadt­bahn durfte nur gebaut werden, wenn sie keine einzige Straße zerschnitt. Alle gewohn­ten Wege muss­ten blei­ben. Darum fährt die Stadt­bahn auf einem gar nicht mal häss­li­chen gemau­er­ten Viadukt mit vier­und­sech­zig Brücken. Von oben hatte man bis vor Kurzem eine herr­li­che Aussicht, die es verdient hätte, Welt­kul­tur­erbe zu sein. Die wurde aber zuge­baut.
Später kam auch noch eine Nord-Süd-Verbin­dung in den Ring. Da war es aber für so ein Viadukt schon zu spät, und man musste einen Tunnel graben. Von unten hatte man von Anfang an keine beson­dere Aussicht, außer zu Zeiten der Berli­ner Mauer, da konnte man unten nämlich Bahn­höfe bewun­dern, die es oben gar nicht gab.
Das kam so: Die Berli­ner Mauer verlief außer­halb West-Berlins glück­li­cher­weise inner­halb des Außen­rin­ges, sonst hätte man sie gar nicht bauen können, ohne Pots­dam von Ost-Berlin zu isolie­ren. Inner­halb Berlins zerschnitt sie zwei­mal die Ring­bahn, einmal die Stadt­bahn und querte zwei­mal den Tunnel der Nord-Süd-Bahn. Die Alli­ier­ten bestan­den aber darauf, dass man mit der Nord-Süd-Bahn unter Ost-Berlin hindurch von West-Berlin nach West-Berlin fahren konnte. Das ging auch prima, nur durfte natür­lich niemand an den Bahn­hö­fen unter Ost-Berlin aus- oder gar einstei­gen. Diese Bahn­höfe sah man also nur vom fahren­den Zug aus.
Die radia­len Linien, die vom West-Berli­ner Teil des Ringes ins Umland führ­ten, hörten vor der Stadt­grenze auf und fingen dahin­ter wieder an, wo sie als Stüm­mel­chen an den Außen­ring ange­schlos­sen waren.
Da niemand daran gedacht hatte, eine Mauer zu bauen, musste in einer einzi­gen Nacht ausge­dacht und reali­siert werden, wie man ein komple­xes metro­po­li­ta­nes Schie­nen­netz an zwölf Stel­len unüber­wind­lich zertrennt und ab dem frühen Morgen alle Züge so umlei­tet, dass der Verkehr nicht zusam­men­bricht. Der Fahr­dienst­lei­ter von der Köll­ni­schen Heide berich­tet, dass noch in dersel­ben Nacht Bauzüge über­all ein Stück Schiene heraus­nah­men und Beton hinschüt­te­ten. Am Morgen waren die alten Monats­kar­ten auf einmal auf ande­ren Stre­cken gültig, und die Schil­der in den Bahn­hö­fen waren ange­passt. Solch eine tech­ni­sche Blitz­leis­tung war nur in Deutsch­land möglich und ist es dort inzwi­schen auch nicht mehr. Nach dem Mauer­fall dauerte das erneute Verbin­den der getrenn­ten Stre­cken Jahre.
An den Außen­ring schmie­gen sich selt­same Orte.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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1 Kommentar

  1. Hübsch geschrie­ben mit leicht ironi­schem Unter­ton. Zwei kleine Anmer­kun­gen seien mir gestat­tet.
    Der erwähnte Außen­ring, der ausser­halb der Mauer verlief und immer noch exis­tiert, wurde von der “DDR komplet­tiert, vor allem aus poli­ti­schen und mili­tär­stra­te­gi­schen Grün­den zwischen 1951 und 1961, als sich die Tren­nung in zwei Staa­ten zu verfes­ti­gen begann”. (Wiki­pe­dia)
    Ganz so schnell ging es auch nicht mit dem entfer­nen von Schie­nen­stü­cken. Bei Staa­ken gab es noch im Dezem­ber 1961 einen geglück­ten Grenz­durch­bruch mit einem Zug. Und z. B. auch am Bf Fried­rich­straße (oben) wurde alles erst nach und nach (aus Sicht der DDR) “opti­miert”. (Und es gab Pläne der DDR, diesen Bahn­hof ab Anfang der 90er Jahre grund­le­gend um- oder sogar neu bauen als zeit­ge­mä­ßes Entree in den sozia­lis­ti­schen Staat…)

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