Zwischen West- und Ost-Berlin

Mehr oder weni­ger Weit­blick

Der Mauer­weg inner­halb der Stadt, der Ost- von West-Berlin teilt, beginnt in der Nähe von Altglie­ni­cke, weit weg von Klein Glie­ni­cke. Er gibt anfangs einen Eindruck, wie man nach der Wende mit dem verei­nig­ten Stadt­rand umge­gan­gen ist: Plat­ten­bau­ten nach neues­ten Erkennt­nis­sen, Auto­bahn, weit­läu­fige, lang­wei­lige Grün­ge­biete. Der Radweg ist gut, und man erreicht hier Höchst­ge­schwin­dig­keit.
Logi­scher­weise über­quert der Mauer­weg die Sonnen­al­lee an der Stelle, wo der Film Sonnen­al­lee spielt, den man sich unbe­dingt anse­hen sollte: die DDR in der Nähe eines Grenz­über­gan­ges aus der beun­ru­hi­gen­den Perspek­tive heran­wach­sen­der Jugend­li­cher.
Die East Side Gallery beschreibe ich hier nicht. Die ist völlig über­be­wer­tet.
Inter­es­sant ist der Luisen­städ­ti­sche Kanal. Peter Joseph Lenné hatte im 19. Jahr­hun­dert über­all in Preu­ßen Land­schafts­parks nach dem Vorbild Engli­scher Gärten entwor­fen. Strei­fen Sie im Früh­jahr einmal durch den west­li­chen Teil des Parks Sans­souci und achten Sie auf das schein­bar zufäl­lige Zusam­men­spiel der Bäume in verschie­dens­ten Grün­tö­nen! Welcher impres­sio­nis­ti­sche Maler könnte das so schön einfan­gen?
Hier aber hat Lenné sich als Stadt­pla­ner versucht und die neu zu bauende Luisen­stadt entwor­fen. Ein Kanal sollte die Spree mit dem Land­wehr­ka­nal verbin­den, dem Stra­ßen­plan einen Sinn geben und schön sein. Wo er die Akzi­se­mauer kreuzte, bekam er keinen Schwimm­baum, sondern ein Wasser­tor aus Eisen­git­ter. Der Kanal wurde von Arbeits­lo­sen gebaut. Die Schif­fer hass­ten ihn wegen der zwei rech­ten Winkel, die sie fahren muss­ten, und er stank, weil das mit dem Abwas­ser nicht funk­tio­nierte. Zum Glück gab es 1926 wieder Arbeits­lose, und die schüt­te­ten den Kanal wieder zu. Aus dem Wasser­tor­be­cken wurde der Wasser­tor­platz. Seit­her haben sich wieder verschie­dene Land­schafts­ar­chi­tek­ten um die Gestal­tung bemüht, mit stark wech­seln­dem Erfolg, wie man sieht, wenn man die drei Abschnitte vergleicht. Der Mauer­weg führt aber nur über die beiden, die eini­ger­ma­ßen erträg­lich sind. In dem Stück, über das die Grenze nicht verlief, konnte sich der Westen in den fünf­zi­ger Jahren unge­stört land­schafts­ar­chi­tek­to­nisch ausle­ben. Wenn Sie das sehen wollen, folgen Sie nicht dem Mauer­weg, sondern fahren Sie gera­de­aus weiter.
Am Kanal entlang führen an beiden Seiten Stra­ßen. Man kann es auch anders auffas­sen: Der Kanal verläuft in der Mitte einer brei­ten Straße, ähnlich wie der Stadt­gra­ben bei der Düssel­dor­fer Königs­al­lee.
Nun muss man wissen, dass in Berlin die Haus­num­mern meist anders verge­ben wurden, als man von ande­ren Städ­ten gewohnt ist. Auf der einen Stra­ßen­seite wurden die Häuser durch­ge­zählt, 1, 2, 3 und so weiter bis zum Ende der Straße, und von dort an der ande­ren Seite weiter bis zurück zum Anfang. Die höchste Haus­num­mer liegt gegen­über der Eins. Wer das nicht weiß, kann lange suchen. Es ist aber eben nicht über­all so in Berlin. Manche Stra­ßen haben auf der einen Seite gerade, auf der ande­ren unge­rade Nummern, die in der glei­chen Rich­tung stei­gen.
Wenn man dann einen Kanal baut, die Straße zu beiden Seiten Luisen­ufer nennt und die Häuser ausnahms­weise nach dem zwei­ten System, gerade und unge­rade, numme­riert, wenn man danach den Kanal als Sekto­ren­grenze benutzt und wenn die beiden verfein­de­ten Sekto­ren ihrer Stra­ßen­seite jeweils einen eige­nen Namen geben, entste­hen merk­wür­dige Effekte. Das kann man hier bewun­dern.
Das Stück zwischen diesem wunder­li­chen Kanal und Check­point Char­lie fährt man am besten am Sonn­tag. Dann ist in der absur­den Gegend um das Axel-Sprin­ger-Impe­rium fast kein Auto­ver­kehr. Warum absurd? Um Axel Sprin­ger zu ärgern, hatten gewisse Parteien dafür gesorgt, dass seine Adresse Rudi-Dutschke-Straße ist. Außer­dem liegt die Bundes­dru­cke­rei verdäch­tig nah neben der Redak­tion der BILD-Zeitung. Früher hatte Axel Sprin­ger dort direkt an der Mauer eine riesige Wand mit einer Leucht­schrift stehen, die den armen Ossis die neues­ten Nach­rich­ten der BILD-Zeitung anzeigte, und das kosten­los. An der ande­ren Seite der Mauer hatte Honecker oder viel­leicht schon Ulbricht eine Holz­wand aufge­baut, die die Leucht­schrift verdeckte, auch kosten­los. Leider hat der Denk­mal­schutz bei diesem Ensem­ble versagt.
Zwischen der Sprin­ger-Gegend und der Bernauer Straße erlebt man, wie idio­tisch die Berlin-Touris­ten sind: Sie ballen sich an den Stel­len, wo nun wirk­lich nichts Inter­es­san­tes zu sehen ist – Check­point Char­lie mit ausge­stopf­ten Solda­ten, Pots­da­mer Platz, Gedenk­stelle Bernauer Straße –, und laufen einem dösend vors Rad. Dazwi­schen findet man kaum welche.
Beim Pots­da­mer Platz mache ich immer einen kurzen Abste­cher zum Tilla-Durieux-Park, um zu schauen, ob die einsa­men Wippen noch gut fest­ge­schraubt sind. Das Unkraut an den Veran­ke­run­gen wird regel­mä­ßig wegge­macht.
Dann verdich­ten sich die Sehens­wür­dig­kei­ten: Holo­caust-Mahn­mal, verschie­dene andere Denk- und Mahn­male, Ameri­ka­ni­sche Botschaft mit Abhör­ap­pa­ra­tur oben drauf, Bran­den­bur­ger Tor, Sowje­ti­sches Ehren­mal im Briti­schen Sektor, Reichs­tag, Spree.
Beim Hambur­ger Bahn­hof gelangt man auf den Inva­li­den­fried­hof. Der war jahr­zehn­te­lang gar nicht zugäng­lich, weil die Mauer mitten darüber verlief. Als er unter Fried­rich II. ange­legt wurde, verlief hier im rech­ten Winkel dazu die inzwi­schen verschwun­dene nörd­li­che Akzi­se­mauer. Der Fried­hof und das ihn füllende Inva­li­den­haus lagen außer­halb der Stadt. Die Bevöl­ke­rung brauchte ja nicht unbe­dingt zu sehen, wie eine mit Glanz und Gloria begon­nene Solda­ten­kar­riere zu Ende gehen kann.
In der Stelle des Inva­li­den­hau­ses steht heute das Bundes­wehr­kran­ken­haus. Das klingt opti­mis­ti­scher.
Irgend­wann, nach eini­gen verwir­ren­den Rich­tungs­än­de­run­gen, führt der Mauer­weg dann mittels einer Brücke über ein Geschlinge von Bahn­glei­sen.
Die Ring­bahn wird gekreuzt von der Stadt­bahn, die in Ost-West-Rich­tung verläuft, und von der Nord-Süd-S-Bahn. Auf dreien der Schnitt­punkte stehen über­sicht­li­che Kreu­zungs­bahn­höfe mit den nahe­lie­gen­den Namen West­kreuz, Südkreuz, Ostkreuz. Ein Nord­kreuz aber gibt es nicht, sondern nur dieses Geschlinge mit drei Umstei­ge­bahn­hö­fen: Gesund­brun­nen, Born­hol­mer Straße und Schön­hau­ser Allee. Zu Zeiten der Mauer konnte man an der Born­hol­mer Straße aber abso­lut nicht umstei­gen, weil die beiden Bahn­steige zu verschie­de­nen Sekto­ren gehör­ten. Am west­li­chen gelangte man nach Froh­nau, wo die Welt aufhörte, am östli­chen über Pankow und den Außen­ring in weitem Bogen nach Hohen Neuen­dorf, ganz nahe bei Froh­nau, und von dort weiter nach Orani­en­burg.
Von der Born­hol­mer Straße an verläuft der Mauer­weg neben der S‑Bahn nach Froh­nau. Zwischen den Bahn­hö­fen Schön­holz und Wilhelms­ruh verpas­sen Sie nichts, wenn Sie ihn verlas­sen und einen Bogen durch den Osten fahren. Suchen Sie die Germa­nen­straße. Die hat mitten im Wald eine Art sinn­lo­sen Kreis­ver­kehr, und dort beginnt ziem­lich versteckt der Zugang zu einem Sowje­ti­schen Ehren­mal, das um vieles größer ist als das in der Nähe des Reichs­tags. Ich habe dort noch nie jemand ande­ren ange­trof­fen.
Das Stück Mauer­weg von Wilhelms­ruh an fährt man am besten im Spät­som­mer. Hinter dem Märki­schen Vier­tel, wo er die S‑Bahn verlässt, und dem Orts­teil Rosen­thal öffnet sich die Land­schaft, und da, wo es steil bergab geht, wach­sen einem Kirsch­pflau­men und Mira­bel­len in den Mund.
Danach hört Ost-Berlin auf, und der Weg führt außen um West-Berlin herum. Hinter Glie­ni­cke an der Nord­bahn, wie das hiesige Glie­ni­cke so anmu­tig heißt, schlägt er einige große, schein­bar sinn­lose Haken in einem einsa­men Wald­stück. Dort sind die Wald­wege mit furcht­bar holp­ri­gen Kopf­stei­nen gepflas­tert.
Froh­nau wurde vor dem ersten Welt­krieg als utopi­sche Garten­stadt ange­legt. Jugend­stil, schön geplante Plätze, viel Grün, ein elegan­tes Bahn­hofs­ge­bäude, in dem man gern Besuch vom Lande oder aus der stin­ken­den Groß­stadt empfängt, keine Straße schnur­ge­rade, sondern orga­nisch wie die pflan­zen­haf­ten Jugend­stil­or­na­mente, keine lang­wei­li­gen Symme­trien wie bei Sowje­ti­schen Ehren­ma­len, alle Stra­ßen mit moderns­tem Kopf­stein­pflas­ter verse­hen. Diese Utopie hat sich bis heute bewährt.
Für einen neuen solchen Orts­teil im Norden lagen schon die Pflas­ter­stra­ßen, da brach dann der Welt­krieg aus, und es ging nicht weiter. Die Stra­ßen­bäume haben sich seit­her zu einem Wald ausge­wach­sen.
Welcher Welt­krieg? Der, der damals noch nicht numme­riert war. Auf einem der Hunde­grä­ber bei Haus Doorn steht: SENTA – beglei­tete seine Majes­tät Kaiser Wilhelm II. im Welt­krieg.
Zwischen Berlin und Hohen Neuen­dorf fährt nun wieder die S‑Bahn nach Orani­en­burg. Sie fährt dicht an der Inva­li­den­sied­lung entlang, dem nörd­lichs­ten Teil von West-Berlin. Inva­li­den­sied­lung? Die wurde 1938 unter Hitler ange­legt, vor der Stadt, sogar aus Sicht­weite von Froh­nau. Wenn das nicht von Weit­blick zeugt.
Das rest­li­che Stück Mauer­weg mag ich am liebs­ten. Es ist abwechs­lungs­reich, bietet viel zu entde­cken und hat an einem stra­te­gi­schen Punkt ein Bayri­sches Garten­lo­kal mit Strand am Havel-Ufer.
Vom Bahn­hof Staa­ken gelangt man nur einmal pro Stunde in die zivi­li­sierte Welt. Wenn man Zeit übrig hat, empfiehlt sich die Erkun­dung der Garten­stadt Staa­ken, an der man kurz vor dem Bahn­hof vorbei kommt. Auch dies war eine utopi­sche Anlage, dies­mal aber für viel weni­ger reiche Leute, und auch sie ist gelun­gen und immer noch schön.
Außer der Berli­ner Mauer gab und gibt es noch mehr Mauern.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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