Hauptbahnhof

Abbild des Wieder­ver­ei­ni­gungs­pro­zes­ses

Kleine Städte haben nur einen Bahn­hof. Bei Städ­ten mit mehre­ren Bahn­hö­fen nennt man meis­tens den in der Nähe des alten Zentrums Haupt­bahn­hof. Bei großen alten Städ­ten ist das oft ein so nah wie möglich ans Zentrum heran­ge­bau­ter Kopf­bahn­hof. So wird die wach­sende Stadt an nur einer Stelle von Bahn­glei­sen einge­kerbt.
In Berlin ist alles anders. Als die Eisen­bahn erfun­den wurde, war die Stadt schon recht groß. Außer­dem lag sie mitten im öden Bran­den­burg. Die ersten Bahn­li­nien führ­ten aus allen Himmels­rich­tun­gen so gut es ging an die Stadt heran und beka­men dort ihre eige­nen Kopf­bahn­höfe: Pots­da­mer Bahn­hof, Hambur­ger, Stet­ti­ner, Anhal­ter, Görlit­zer Bahn­hof und so weiter. Es wäre unsin­nig gewe­sen, einen davon Haupt­bahn­hof zu nennen. Sie hatten ja alle ganz verschie­dene Zwecke.
Später wurden diese radia­len Fern­bahn­li­nien außer­halb der dama­li­gen Stadt durch die Ring­bahn verbun­den, diverse S‑Bahn-Linien kamen hinzu, und auch Fern­bah­nen hiel­ten in immer mehr neuen Stadt­tei­len. Man kann nun die Bahn­höfe versu­chen zu zählen und sagen, Berlin habe mehr als hundert. Man versteht die Stadt aber besser, wenn man sagt: Berlin ist ein einzi­ger großer Bahn­hof. Fahr­kar­ten der Fern­bahn nann­ten als Ziel „Berlin Stadt“, was heißt, dass egal war, wo man ausstieg.
Zwischen­durch ließ Hitler planen, wie Berlin nach dem Endsieg zu Germa­nia umge­baut werden sollte. Aber selbst er, der die halbe Stadt abrei­ßen lassen wollte, kam nicht darauf, einen Haupt­bahn­hof planen zu lassen.
Der erste, der einen Haupt­bahn­hofs­fim­mel hatte, war Honecker. Er ließ den Schle­si­schen Bahn­hof, der inzwi­schen Ostbahn­hof hieß, umbe­nen­nen in Haupt­bahn­hof und gab ihm eine neue Bahn­hofs­halle mit inter­na­tio­na­ler Allüre, elek­tri­schen Anzei­ge­ta­feln und allen Drum und Dran. Der Berlin-Besu­cher, der voll Erwar­tung den Haupt­bahn­hof verließ, stand vor der Mauer. Nach rechts und links ging es entlang der Mauer weiter, gera­de­aus lag das uner­reich­bare West-Berlin. Die Mauer ist inzwi­schen bemalt und heißt East Side Gallery. Der Bahn­hof heißt wieder Ostbahn­hof.
Nach dem Fall der Mauer wurden die meis­ten der beim Mauer­bau zertrenn­ten Bahn­gleise wieder mitein­an­der verbun­den. Berlin war wieder ein einzi­ger großer Bahn­hof.
Dann kam Helmut Kohl, der einige Jahre vorher daran gear­bei­tet hatte, dass die neuen ICE-Züge in seinem Wohn­ort Oggers­heim hiel­ten, und wünschte sich bei seinem neuen Bundes­kanz­ler­amt einen Haupt­bahn­hof. Da stand bisher der Lehr­ter Bahn­hof, genannt nach einer Stadt bei Hanno­ver, wohin anfangs die Bahn­li­nie reichte.
Der Lehr­ter Bahn­hof liegt an der Stadt­bahn, der Bahn­li­nie von West nach Ost quer durch die Metro­pole. Auf dieser Stre­cke liegen inter­es­sante Bahn­höfe.
Am West­kreuz kann man in die Ring­bahn umstei­gen und ist auch schnell am Zentra­len Omni­bus­bahn­hof. Südkreuz und Ostkreuz wurden zu attrak­ti­ven Bahn­hö­fen ausge­baut, an denen auch Fern­züge halten. Mit West­kreuz hätte man es ähnlich machen können.
Bahn­hof Zoo liegt im Zentrum des Westens, und man kann in verschie­dene U‑Bahn-Linien umstei­gen. Im Zentrum des Ostens gilt dasselbe für den Bahn­hof Alex­an­der­platz und natür­lich für den Bahn­hof Fried­rich­straße, wo man auch noch in die Nord-Süd-S-Bahn umstei­gen kann. Alle wurden nach der Wende moder­ni­siert und waren schnell voller schi­cker Läden.
Am Lehr­ter Bahn­hof konnte man nur umstei­gen in Züge, in die man auch schon an Zoo, Fried­rich­straße oder Alex­an­der­platz hätte umstei­gen können. Da kreuz­ten nämlich keine ande­ren S- oder U‑Bahn-Linien die Stadt­bahn. Außer­dem lag in der ganzen Gegend nichts Inter­es­san­tes außer dem neuen Kanz­ler­amt. Aber wie viele Leute reisen mit der Bahn an, um den Bundes­kanz­ler zu besu­chen? Ansons­ten war die Gegend ziem­lich öde, mit dem nicht vorhan­de­nen Bürger­fo­rum als Höhe­punkt.
Um diesem neuen Haut­bahn­hof über­haupt eini­gen Sinn zu geben, musste man um ihn herum ein paar Hotels errich­ten, einen sünd­haft teuren Tunnel unter dem Tier­gar­ten hindurch graben, durch den Fern­züge zum Pots­da­mer Platz und Südkreuz gelan­gen können, und eine neue U‑Bahn bauen, nach der niemand verlangt hatte. Derzeit verlän­gert man krampf­haft einige Stra­ßen­bahn­li­nien bis zum Haupt­bahn­hof.
Das neue Haupt­bahn­hofs­ge­bäude ist riesig, war teuer, ist aber nie fertig gewor­den. Zum Glück sieht man es immer weni­ger, weil immer mehr Hotels darum herum gebaut werden.
Es sollte ein Jahr­hun­dert­bau­werk werden: das Empfangs­ge­bäude und die Bahn­steige in ganzer Länge unter einem gemein­sa­men Glas­dach. Der Entwurf von Gerkan wurde in inter­na­tio­na­len Archi­tek­tur­zeit­schrif­ten gelobt. Prospekte wurden in Berlin verteilt, die die kriti­sche Bevöl­ke­rung enthu­si­as­mie­ren soll­ten. Ein komplet­ter ICE von vorne bis hinten unter einem Glas­dach, das muss doch über­zeu­gen. Das ist doch viel moder­ner als eine Eisen­bahn­brü­cke in Verlän­ge­rung der Altarachse des Kölner Doms. Und das Gebäude sah ja in den Prospek­ten auch wirk­lich schön aus. Das Gebäude an sich. An der geplan­ten Stelle aber würde es ein Fremd­kör­per werden.
Dann kam Hart­mut Mehdorn, der Mann, der die entle­gens­ten Kaiser­bahn­höfe in unter­ir­di­sche Akade­mien umbauen kann, es aber später nicht schaf­fen würde, einen ganz norma­len Flug­ha­fen zu Ende zu bauen. Er kam, sah und stoppte den Bau des Glas­da­ches. Die rest­li­chen Schei­ben waren da schon bezahlt und lagern nun noch irgendwo. Und die ICE-Züge in voller Länge? „Meine Loko­mo­tiv­füh­rer können ruhig mal im Regen stehen“, soll Mehdorn gesagt haben.
Nun steht dort also ein kupier­ter Fremd­kör­per. Die Laden­mie­ten darin sind hoch, und damit sich über­haupt Läden nieder­las­sen, hat man verspro­chen, dass Fern­züge nicht mehr am Zoo und in der Fried­rich­straße halten. Den Läden dort fehlt nun die Ziel­gruppe. Immer­hin steht deren Perso­nal nicht im Regen – solange die Mieten bezahlt werden.
Besu­cher, die Berlin nicht kennen, kaufen natür­lich reflex­haft eine Fahr­karte zum Haupt­bahn­hof und stei­gen dort aus. Entwe­der sie enden dann da im Hotel und merken, dass die Gegend tödlich lang­wei­lig ist, oder sie versu­chen, von da aus in die S- oder U‑Bahn umzu­stei­gen, was an ande­ren Bahn­hö­fen viel besser ginge, oder sie schauen sich um, gehen mutig über die Spree­brü­cke und stehen auf einmal auf dem verun­krau­te­ten Bürger­fo­rum, ohne zu wissen, was sie da sollen. Sie kommen nicht darauf, dass sie even­tu­ell besser bis Ostbahn­hof oder Südkreuz im Zug sitzen geblie­ben wären. Sie wurden durch den Namen des Bahn­hofs verkohlt, wie die deut­sche Spra­che das so schön ausdrückt.
Man sollte einmal ein Expe­ri­ment machen: die Fern­züge auch wieder am Zoo, der Fried­rich­straße und Alex­an­der­platz halten lassen, wie das seit hundert­fünf­zig Jahren geschah, und den Haupt­bahn­hof wieder Lehr­ter Bahn­hof nennen. Dann würde er nach eini­ger Zeit verlas­sen herum­ste­hen, und jeder könnte sehen, dass er und die Tunnels gar nicht nötig waren.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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