Republik Freies Wendland

Dieser Text erschien bereits vor eini­gen Jahren und wurde anläss­lich des Jahres­tags noch­mal nach vorn gestellt.
Spätes Früh­jahr 1980. Ich war auf der Suche nach Frei­heit. Ohne genauer zu wissen, was das bedeu­ten sollte. Frei­heit hieß für mich vor allem, weg vom Vater, von der trin­ken­den Mutter, von aner­zo­ge­nen Konven­tio­nen, die ich mir nun stück­chen­weise selbst abtrai­nierte. Wozu brau­che ich einen Kamm? Wieso müssen beide Strümpfe immer die glei­che Farbe haben? Wieso soll man jeman­dem „Guten Tag“ sagen, wenn man ihm eigent­lich das Gegen­teil wünscht? Schon öfter hatte ich Leute getrof­fen, die die bürger­li­chen Verhal­tens­wei­sen ablehn­ten und auch konse­quent ohne diese lebten. Dazu gehörte auch freier Sex, obwohl da mehr drüber gere­det wurde, als dass er prak­ti­ziert wurde. Aber als jemand, der immer noch auf der Suche war, war das natür­lich ein wich­ti­ges Thema. Zumal ich mich zwar schon lange zu Jungs hinge­zo­gen fühlte und auch schon ein paar entspre­chende sexu­elle Erfah­run­gen hatte – gleich­zei­tig aber noch mehr­mals was mit Mädchen bzw. Frauen hatte. Bis hin zur Schwan­ger­schaft meiner dama­li­gen Freun­din Birgit, die jedoch mit einer Fehl­ge­burt endete.

Es dauerte lange, bis ich begrif­fen habe, dass es selten nur gut oder schlecht gibt. Bei der Erzie­hung, in der Liebe, und auch in der Beur­tei­lung und im Umgang mit ande­ren Menschen. Da habe ich bis heute so viele Fehler gemacht, die alleine dieses Weblog füllen könn­ten.

Damals dachte ich, dass man sich eher unter­wegs selbst finden könnte, als im vertrau­ten Umfeld. Irgendwo hörte ich davon, dass in West­deutsch­land gerade was passierte. West­deutsch­land hieß die gesamte Bundes­re­pu­blik damals, wenn man aus West-Berlin kam, alles zwischen Nord­see und Bayern. Es brauchte einige Tage, bis ich mehr erfah­ren hatte. In Nieder­sach­sen, an der Grenze zur DDR, sollte ein großes Gelände besetzt worden sein. Dort plante die Bundes­re­gie­rung eine Wieder­auf­be­rei­tungs­an­lage für Atom­müll zu bauen, der nächste Ort dort hieß Gorle­ben. Ich hatte nie zuvor davon gehört, aber es inter­es­sierte mich. Nicht nur weil ich schon wusste, dass die Atom­ener­gie gefähr­lich war. Im Jahr zuvor hatte es in den USA einen großen Atom­un­fall gege­ben, mit einer Kern­schmelze.

Viel inter­es­san­ter fand ich, dass das Leute dort einfach etwas besetz­ten. Zuvor hatte ich in Kreuz­berg schon die Beset­zung der alten Feuer­wa­che in der Reichen­ber­ger Straße erlebt. Dort hatte eine Bürger­initia­tive sich das leer­ste­hende Haus einfach genom­men und ein Kiez­zen­trum einge­rich­tet. Jeden Tag war da was los. In der oberen Etage konn­ten Jugend­li­che schla­fen, wenn sie keine Bleibe hatten. Alles wurde zusam­men entschie­den, auch, dass man das Ange­bot des Bezirks­am­tes zu Verhand­lun­gen anneh­men sollte. Das Tref­fen im Rathaus Kreuz­berg wurde zum Fiasko: Um Stärke zu zeigen, zogen die meis­ten gemein­sam zum Rathaus. Zur glei­chen Zeit aber ließ der Bürger­meis­ter Poli­zei und Bagger auffah­ren und die Feuer­wa­che wurde abge­ris­sen. Wie kann man einem jungen Menschen besser klar­ma­chen, dass man bei Verhand­lun­gen dem Staat nicht trauen darf?

Per Anhal­ter machte ich mich auf den Weg nach Gorle­ben und traf auch bald auf ein Pärchen, dass genau dort hinwollte. Als wir durch den flachen Land­kreis Lüchow-Dannen­berg fuhren, nur Felder und Wälder, fühlte ich mich fast wie im Urlaub. Nur die Schil­der am Weges­rand zeig­ten, dass hier etwas anders war: „Gorle­ben soll leben“, „Keine WAA“ usw. Dann kam die Poli­zei. Sie stand an den Kreu­zun­gen, Mann­schafts­wa­gen, LKWs. Aber sie hiel­ten uns nicht an. Sie sorg­ten nur dafür, dass man wusste, ab hier wird es ernst.
Dabei war es längst ernst. Mitten im Wend­land, so nann­ten die Bewoh­ner diese Gegend, soll­ten Probe­boh­run­gen für ein Atom­end­la­ger durch­ge­führt werden. Und als die Eigen­tü­mer das Land nicht dafür verkau­fen woll­ten, brannte eines Tages der gesamte Wald ab. Nun gab es dort nur noch Steppe. Bis zum Mai 1980.

Ich werde nie verges­sen, wie ich ankam. Schon zwei Wochen zuvor war der Platz von hunder­ten Menschen besetzt worden. Sie hatten in der Zeit Dutzende von Hütten errich­tet. Kleine für ein paar Leute, aber auch große, z.B. Essens­häu­ser. Zwei schmale Türme auf Stel­zen stan­den mitten im Dorf, dort hiel­ten sie Ausschau nach der Poli­zei. Manche Hütten waren in den Boden einge­baut, andere kunst­voll verziert. Wieder andere sollte man nicht zu nahe kommen, sie sahen nicht vertrau­ens­er­we­ckend aus.

Über­all flat­ter­ten Fahnen, vor allem die der „Freien Repu­blik Wend­land“, die auch heute bei mir im Zimmer hängt. Alles war voller Menschen, die meis­ten sehr jung, wenn auch älter als ich. Ich schätzte, die Mehr­heit waren Studen­ten. Sie mach­ten Musik, tran­ken zusam­men, disku­tier­ten und viele arbei­te­ten an neuen Hütten. Es war das Wider­stands­dorf 1004, benannt nach der Nummer, die eigent­lich das die Atom­bau­stelle tragen sollte. Es dauerte einige Stun­den, bis ich die Struk­tur des Dorfes erkun­det hatte. Welche Wege wohin führ­ten. Wo es was zu Essen gab. Wo Wasser zum Waschen. Und wo man sich einfach mal hinle­gen konnte.

Als sie den Platz besetz­ten, gab es hier nichts außer verbrann­ter Erde. Doch am 3. Mai kamen sie in einem langen Treck, zogen Baum­stämme hinter sich her, ganze LKWs mit Bauma­te­rial und Werk­zeug fuhren auf den Platz. Die meis­ten Bewohner/innen des Land­krei­ses hatten ja Angst vor dem, was die Bundes­re­gie­rung dort plante. Sie woll­ten keine Atom­an­lage in ihrer Nähe. Und so unter­stütz­ten sie das Wider­stands­dorf, das sonst niemals so hätte exis­tie­ren können. Jeden Tag kamen die Bauern und andere Nach­barn aus der Gegend, brach­ten Lebens­mit­tel, Mate­rial, aber auch frisches Wasser, Windeln, Klopa­pier – und viele hatten etwas, was genauso wich­tig war: Infor­ma­tio­nen. Hier im „Zonen­rand­ge­biet“ waren viele Bewoh­ner beim Bundes­grenz­schutz, weil es sonst wenig Arbeit gab. Sie wuss­ten, wenn von Poli­zei­seite etwas geplant war. Mancher Poli­zist kam in zivil und erzählte davon. Andere hatten einen in der Fami­lie und verrie­ten, was sie wuss­ten. Denn die Poli­zei war ja nicht untä­tig. Kurz nach meiner Ankunft began­nen massi­vere Kontrol­len auf den Zufahrts­we­gen. Immer wieder wurden vor allem Autos mit Unter­stüt­zern fest­ge­hal­ten, manch­mal sogar beschlag­nahmt. Sogar Trecker, Last­wa­gen und Hänger von umlie­gen­den Bauern wurden einge­zo­gen, um auch die Unter­stüt­zung für den Wider­stand zu brechen. Aber damit stärk­ten sie hin nur. Und das bis heute!

Niemals zuvor oder danach habe ich eine solch breite Soli­da­ri­sie­rung aus der Bevöl­ke­rung für ein solches Projekt gese­hen. Meist sind mir die Bürger suspekt, eher auf der feind­li­chen Seite. Dafür habe ich einfach zu oft gehört, dass man mich wahl­weise einsper­ren, abknal­len oder verga­sen sollte.
Hier aber war das Gegen­teil der Fall. Eine Mutter erzählte davon, dass sie ihren Sohn aus dem Haus geschmis­sen hätte, weil der mit seinen Poli­zei­kol­le­gen gegen uns vorging. Ein ande­rer Poli­zist zeigte die Kopie seiner Kündi­gung herum. Er hatte sich in der Kaserne offen mit uns soli­da­ri­siert und war deshalb raus­ge­schmis­sen worden. Und er zog gleich mit ins Dorf.

Wich­ti­ger war für mich auf mein weite­res Leben bezo­gen aber die Erfah­rung der Kollek­ti­vi­tät. Es gab eine Gemein­schaft, obwohl nun sicher 1.000 Menschen dort waren. Wir hatten keine Führung, keinen Bürger­meis­ter, sondern eine große Kommune. Alles wurde kollek­tiv entschie­den, man versuchte zu vermei­den, dass Leute unter­lie­gen. Lieber wurde ein Kompro­miss gesucht. Und oft auch gefun­den, wenn auch nicht immer. Ich lernte, dass es nicht nur darum ginge, die eigene Meinung durch­zu­set­zen bzw. dem ande­ren zu erklä­ren. Wich­tig ist, auch andere Sicht­wei­sen zu akzep­tie­ren und dann zu versu­chen, die irgend­wie zusam­men­zu­brin­gen. Es darf keine Sieger und Verlie­rer geben, wenn man an einer gemein­sa­men Sache arbei­tet oder kämpft. Dabei ist es auch egal, ob es ein unpo­li­ti­scher Bürger ist, ein erfah­re­ner Polit­stu­dent oder so ein Grün­schna­bel wie ich.
Ich habe gelernt, wie man soli­da­risch lebt, die Schwä­chen des ande­ren nicht ausnutzt, sondern ihn lieber unter­stützt, Selbst­be­wusst­sein fördert. Auch wenn ich erst­mal der war, der das an sich selbst erfah­ren hat.

Es geht nicht um Gleich­ma­che­rei, nach dem Motto „Wir sind alle eine große Fami­lie und züch­ten uns ein regen­bo­gen­far­be­nes Einhorn“. Ein gemein­sa­mer Kampf für eine bestimmte Sache braucht unter­schied­li­che, aber eben gleich­be­rech­tigte Menschen und Stand­punkte, nur dann ist er wirk­lich viel­fäl­tig. Und die meiste Kraft entwi­ckelt eine Bewe­gung, die nicht auf festen Schie­nen läuft, sondern viel­fäl­tig ist, unbe­re­chen­bar und soli­da­risch.

Man muss lernen, in der Poli­tik stra­te­gisch zu denken, sich auch über die nächs­ten und über­nächs­ten Schritte Gedan­ken zu machen. Und über Alter­na­ti­ven, falls der gewünschte Weg versperrt ist. Oder ob es trotz­dem rich­tig ist, auf dem Weg zu blei­ben, selbst wenn man weiß, dass es eine Sack­gasse ist. Manch­mal können Nieder­la­gen auch der Grund sein, erst recht weiter­zu­ma­chen. So wie es beim Kampf um Gorle­ben gewor­den ist, denn kaum jemand von uns hat geglaubt, dass wir dort nicht abge­räumt werden. Und trotz­dem hält der Wider­stand noch Jahr­zehnte danach an!

Die Zeit im Wider­stands­dorf haben mein Leben geprägt. Ich hatte so viele Gesprä­che, auch Streits, habe die Arbeit verflucht und trotz­dem mit Eifer geleis­tet. Habe mich mit neuen Freun­den wie Gueril­la­kämp­fer nachts an Poli­zei­wa­gen ange­schli­chen und ihnen die Luft aus den Reifen gelas­sen. Habe mehr­mals bis in die Nacht bei Diskus­sio­nen zuge­hört und wenn ich mal was gesagt habe, hat mir niemand das Gefühl gege­ben, Blöd­sinn zu reden – obwohl es defi­ni­tiv der Fall war.

Es kamen auch merk­wür­dige Leute vorbei. Am Wochen­ende war unser Dorf Ziel von Sonn­tags­spa­zier­gän­gen der umlie­gen­den Dorf­be­woh­ner. Ganze Fami­lien schlen­der­ten herum, ließen sich manches erklä­ren und man merkte schon, dass sie frem­del­ten. Das Gefühl war aber auf beiden Seiten, trotz­dem tole­rierte man sich gegen­sei­tig. Außer­dem waren sie es ja, die uns trotz allem unter­stütz­ten.
Einer kam mit einer Entou­rage anstol­ziert, der mir beson­ders unan­ge­nehm war. Es war der Bundes­vor­sit­zende der SPD-Jugend­or­ga­ni­sa­tion, Gerhard Schrö­der. Schon damals hatte er so etwas Möch­te­gern­über­le­gen­des, Arro­gan­tes und Herri­sches an sich, wie auch später als Bundes­kanz­ler. An einem ande­ren Tag tauch­ten zwei Jungna­zis auf, die eine Spende der Wiking-Jugend über­ge­ben woll­ten, der später verbo­te­nen Nach­folge-Orga­ni­sa­tion der Hitler-Jugend. Sie woll­ten uns damit danken, dass wir die deut­sche Scholle vertei­dig­ten. Aber sie wurden raus­ge­schmis­sen. Doch auch darüber wurde disku­tiert.
Aufgrund der Bericht­erstat­tung in den Medien kamen immer mehr Promi­nente, Poli­ti­ker der SPD und der gerade erst gegrün­de­ten Grünen, Künst­ler, sogar alte Wider­stands­kämp­fer aus der NS-Zeit.
Über all dies berich­tete auch der Pira­ten­sen­der „Freies Wend­land“, dessen Reich­weite vermut­lich mehr Kühe erreichte, als Menschen.

Ende Mai dann kamen viele Bürger vorbei, die erzähl­ten, dass die Räumung wohl kurz bevor stehe. Über­all würden Poli­zei­trup­pen zusam­men­ge­zo­gen, Beamte hätten Urlaubs­sper­ren bekom­men. Wir berei­te­ten uns darauf vor und nun zeig­ten sich auch die Gren­zen der Verein­bar­keit unter­schied­li­cher Meinun­gen. Es waren ja auch viele Grup­pen im Dorf, die schon zusam­men aus ande­ren Teilen Deutsch­lands ange­reist waren und vor Ort gemein­sam in eige­nen Hütten lebten. Darun­ter auch einige, die mili­tan­ten Wider­stand leis­ten woll­ten. Doch die große Mehr­heit war dage­gen und nach langen Stun­den gab es dann eine Eini­gung: Wir erge­ben uns nicht frei­wil­lig, leis­ten passi­ven Wider­stand. Tatsäch­lich waren ein paar der Mili­tan­ten später verschwun­den und versuch­ten im Umland, Bahn­schie­nen und die Poli­zei­ein­hei­ten zu sabo­tie­ren. Doch die hatten damit gerech­net und mehrere von ihnen fest­ge­nom­men.

Der Morgen der Räumung am 4. Juni hat sich mir genauso im Gedächt­nis einge­brannt, wie meine Ankunft zuvor. Ich hatte sehr unter­schied­li­che Gefühle. Natür­lich war da die Angst vor der zu erwar­ten­den Poli­zei­ge­walt. Auch war ich trau­rig, dass die Räumung auf den 15. Geburts­tag meines lieben Bruders Stephan fiel. Ich wollte nicht, dass er das später viel­leicht damit verbin­det, dass mir ausge­rech­net an diesem Tag etwas Schlim­mes passiert ist. Aber ich war auch gespannt, weil ich wusste, dass nun bald etwas für mich Wich­ti­ges gesche­hen würde. Und ich war wütend, dass all das Schöne um mich herum, auch die vielen Erfah­run­gen, nun bald platt­ge­macht würden.

Natür­lich konnte ich nicht schla­fen. Ich saß mit meinen neuen Freun­den an einem der vielen Lager­feuer. Noch immer waren viele Kinder da, die meis­ten Eltern woll­ten ihnen die Räumung nicht erspa­ren, damit sie daraus lernen. Trotz­dem kam mitten in der Nacht ein Trecker mit Anhän­ger und als er wieder losfuhr, saßen doch viele der Kids und ein paar Erwach­sene darauf. Sie wurden auf umlie­gende Gehöfte verteilt, denn den Land­kreis zu verlas­sen, das ging schon nicht mehr. Alle Stra­ßen waren gesperrt worden und Rich­tung Osten war der Osten, dahin konnte man auch nicht flie­hen.

Im Juni geht die Sonne schon sehr früh auf und kaum hellte sich der Himmel auf, kamen die Hubschrau­ber. Es waren große Trans­port­hub­schrau­ber und ihre Aufgabe war wohl, uns einzu­schüch­tern. Immer wieder rasten sie über das Dorf, manche in nur 20 Meter Höhe. Viel­leicht woll­ten sie auch irgend­was provo­zie­ren, damit ihre Kolle­gen später noch härter zuschla­gen könn­ten. Es war extrem bedroh­lich, aber meine Angst war nun dem Trotz gewi­chen. Wir waren jetzt über 2.000 Menschen und alle haben wir uns auf dem Dorf­platz und vor dem Dorf versam­melt.
Am Hori­zont kamen sie dann ange­lau­fen, eine riesig breite Kette von schwar­zen Gestal­ten, die noch hunderte Meter über das Brach­land stol­pern muss­ten. Es hatte etwas von Wilder Westen, wenn der Sheriff im Morgen­grauen auf den Unter­schlupf der Bandi­ten zu reitet. Es müssen Hunderte gewe­sen sein. Dann kamen auch die LKWs, die Mann­schafts­wa­gen, die Bagger. Über einen Laut­spre­cher­wa­gen wurden wir zum Wegge­hen aufge­for­dert, weil wir gegen das Landes­wald­ge­setz versto­ßen und ille­gale Bauwerke errich­tet hätten. Was für eine lächer­li­che Argu­men­ta­tion.

Längst hock­ten wir alle auf dem Boden, eng anein­an­der­ge­drängt, es war wohl die bis dahin größte Sitz­blo­ckade in der Geschichte der Bundes­re­pu­blik. Auf einem der Türme waren noch immer einige, die dort den Pira­ten­sen­der weiter betrie­ben. So erfuh­ren wir über unsere klei­nen Radios, dass Tausende von Poli­zis­ten das Gelände umstellt haben, insge­samt waren es um die 4.000.
Es war natür­lich klar, dass Wider­stand nicht erfolg­reich sein könnte. Trotz­dem ging kaum jemand frei­wil­lig. Von allen Seiten stürm­ten sie auf uns zu, zerr­ten an ihnen, traten sie, rissen Einzelne hoch. Wenn die sich mit den ande­ren einge­hakt hatten, was meis­tens der Fall war, wurden sie oft mit Knüp­peln geschla­gen. Wer einge­hakt ist, kann seinen Kopf ja nicht mit den Armen schüt­zen. Bestimmte Poli­zei­ein­hei­ten taten sich dabei beson­ders hervor. Es gab sehr viele Verletzte auf unse­rer Seite, vor allem Kopf­platz­wun­den, Knochen­brü­che, ausge­renkte Arme und noch schwe­rere Verlet­zun­gen. Noch bevor ich dran war, bemerkte ich, wie von der Seite Bull­do­zer ins Dorf fuhren. Sie began­nen damit, die Hütten platt­zu­ma­chen, ohne sie vorher zu durch­su­chen. Wären dort noch Menschen drin gewe­sen, hätten sie das nicht über­lebt.

Es ist merk­wür­dig: In dieser so bedroh­li­chen Situa­tion wurde ich nun ziem­lich ruhig. Ich hatte mich darin erge­ben, was auch sonst, aber dadurch war meine Angst völlig verflo­gen. Es war nur noch Hass in mir und wäre ich damals bewaff­net gewe­sen, hätte ich viel­leicht sogar geschos­sen. Ohne nach­zu­den­ken.
Dann ging alles ganz schnell. Der Frau neben mir wurde ins Gesicht getre­ten, im nächs­ten Moment drehte mir jemand den Arm um. Direkt danach stand ich mit hölli­schen Schmer­zen drau­ßen, zwischen all den ande­ren Geräum­ten und nun schrie und heulte ich nur noch. Die Ruhe war verschwun­den, ich muss ziem­lich durch­ge­dreht sein, weil gleich mehrere andere versuch­ten, mich zu beru­hi­gen. Meine Nerven müssen Amok gelau­fen sein.
Drau­ßen waren wir einge­kes­selt. Ich konnte verfol­gen, wie der Turm nieder­ge­ris­sen wurde, auf dem noch die Leute mit dem Sender waren. Er fiel lang­sam, aber ich konnte nicht begrei­fen, wie man Menschen aus 15 Metern Höhe einfach abstür­zen lassen konnte.

Wie es weiter­ging, weiß ich nicht mehr, ab diesem Moment habe ich keiner­lei Erin­ne­run­gen mehr an den Tag. Auch wie ich von dort wieder nach Berlin gekom­men bin, weiß ich einfach nicht mehr. Offen­bar war der Schock größer, als ich es damals gespürt habe.

In diesen Tagen habe ich so viel erlebt und gelernt. Über poli­ti­sche Arbeit, über Soli­da­ri­tät, und über die Gewalt des Staa­tes. Die Ableh­nung von Staat und Poli­zei hat sich seit­dem tief in mich einge­brannt und ich spüre sie bis heute, wenn auch nicht mehr so bren­nend. Die Regie­rung hat sich damals große Mühe gege­ben, viele neue Staats­feinde zu erzeu­gen. Mindes­tens zwei der Leute, die damals in der Berli­ner Gruppe auf dem Platz waren, sind später bei der RAF gelan­det. Sie haben vermut­lich das Glei­che gespürt wie ich, aber andere Konse­quen­zen daraus gezo­gen. Auch ich habe später darüber nach­ge­dacht, diesen Weg zu gehen, mich aber glück­li­cher­weise anders entschie­den. Einer der Gründe war auch, dass sich die RAF-Sympa­thi­san­ten oft so auto­ri­tär und into­le­rant verhal­ten haben, dass ich mir nicht vorstel­len konn­ten, dass diese Leute eine frei­heit­li­che Gesell­schaft schaf­fen woll­ten.

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4 Kommentare

  1. Ich habe das damals nur im Fern­se­hen verfolgt mit einer gewis­sen Bewun­de­rung für die Akti­ven, ein paar Jahre später war ich zwei­mal in Wackers­dorf gewe­sen (heute ein Erho­lungs­ge­biet mit klaren Bade­seen in den alten Braun­koh­le­lö­chern).
    Jeder der, hier wie dort, dabei war, dürfte was gelernt haben über Gesell­schaft und Staat.
    Vom Bay. Rund­funk gibt es eine gute Doku­men­ta­tion der Ereig­nisse:
    [Beitrag exis­tiert leider nicht mehr]

  2. Moin, moin,
    wenn ich diese Schil­de­run­gen lese, kann ich deine Abnei­gung gegen Poli­zei und Staats­macht nach­voll­zie­hen. Bei derar­ti­gen Ereig­nis­sen gibt’s sicher auch heute immer wieder Poli­zis­ten, die ihre Macht miss­brau­chen.
    Was ich mich immer wieder frage, ist , ob derar­tige Schlach­ten wie in Gorle­ben, Brok­dorf oder auch rund um die Haus­be­set­zer­szene in Berlin oder Hamburg irgend­was geän­dert haben.
    Für mich waren und sind auch die Krawalle rund um irgend­wel­che G‑7 bis G‑xy Tref­fen völlig über­flüs­sig. Fried­lich demons­trie­ren, dass man mit dem System und Entwick­lun­gen nicht einver­stan­den ist, ist gut und wich­tig. Autos von Bürgern anzün­den, Schei­ben klei­ner Back­stu­ben einschmei­ßen usw. ist durch nichts zu lega­li­sie­ren.
    Die Demons­tra­tio­nen, die Freie Repu­blik usw. haben ganz sicher zu Verän­de­run­gen beigetra­gen. Die Prüge­leien darum herum haben eigent­lich nur Feind­bil­der geschaf­fen und zemen­tiert.
    Herz­li­che Grüße
    Frank

    • Hallo Frank,
      im Rahmen poli­ti­scher Arbeit ist Gewalt­an­wen­dung norma­ler­weise schon abzu­leh­nen. Es gibt natür­lich Ausnah­men, wie z.B. bei der Vertei­di­gung gegen Angriffe von Neona­zis oder auch in revo­lu­tio­nä­ren Situa­tio­nen.
      Ande­rer­seits war die 1980er Haus­be­set­zer­be­we­gung in West-Berlin nur deshalb erfolg­reich, weil sie eben auch mili­tant war. Vorher wurde sie einfach nicht ernst­ge­nom­men. Der Senat war erst zu Verhand­lun­gen bereit, nach­dem es mehr­mals schwere Krawalle gab.
      Das ist schade und blöd und auch nicht auf den poli­ti­schen Alltag zu über­tra­gen. Und erst recht geht es nicht, wie Du schon sagst, dass z.B. kleine Läden zerstört werden.
      Übri­gens hatte ich vor eini­gen Jahren mal einen Fahr­gast, der damals als Poli­zist in West-Berlin auch bei mehre­ren Haus­be­set­zer­de­mos und ‑krawal­len dabei war. Er sah das auch so, dass es erst der Eska­la­tion bedurft hatte, damit sich was ändert. Damals hatte er das aber noch anders gese­hen.

      • Hallo Aro,
        ich muss leider zuge­ben, dass wohl tatsäch­lich erst die Mili­tanz mancher Besetzer/innen zu einer brei­ten Aufmerk­sam­keit und Verän­de­rung geführt hat. Da gebe ich dir völlig Recht.
        Gruß Frank

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