Wege zum Frieden in Nahost

Der Angriff der Hamas traf Israel völlig unvor­be­rei­tet. Was kann das Land jetzt von seinem Ex-Geheim­dienst­chef lernen?

"Ich verstehe, dass der Zionismus das Ziel verfolgte, von einem anderen Volk die Kontrolle über ein Territorium zu erringen … ich verstehe den arabischen Vorwurf, dass ihrem Nationalbewusstsein ein Unrecht angetan wurde, doch ich verwerfe ihre Schlussfolgerungen daraus. … Die Tragik der arabischen Position liegt darin, dass sie sich keine Behebung des einen Unrechts vorstellen kann als das Begehen eines noch größeren: Die Zerstörung des Staates Israel."

Der Urhe­ber dieses Zitats aus den Sech­zi­ger­jah­ren ist Yehos­ha­fat Harkabi, von 1955 bis 1959 Chef des israe­li­schen Mili­tär­ge­heim­diens­tes Aman. Harkabi war ein zu allem entschlos­se­ner Kämp­fer für sein Heimat­land Israel, und doch ein Freund einer Frie­dens­lö­sung.

Sich selbst hat er als „machia­vel­lis­ti­sche Taube“ bezeich­net – in Abgren­zung zu den außen­po­li­ti­schen „Falken“, die eine poli­ti­sche Lösung des Nahost­kon­flikts für unrea­lis­tisch halten. Viel­leicht könnte seine Posi­tion auch heute dazu beitra­gen, Isra­els Antwort auf den Terror der Hamas eine stra­te­gi­sche Tiefe zu verlei­hen.

Doch gehen wir zunächst zurück zum 7. Okto­ber. Das Massa­ker, das Hamas-Terro­ris­ten in Israel ange­rich­tet haben, über­trifft an Bruta­li­tät jedes Ereig­nis, das der Konflikt bislang gekannt hat. Der einzige mögli­che Vergleich: die gegen­sei­ti­gen Massa­ker der Konflikt­par­teien des liba­ne­si­schen Bürger­kriegs.

1982 führte die Verwick­lung der israe­li­schen Armee in das Massa­ker von Sabra und Scha­tila zu einer Regie­rungs­krise. Die israe­li­sche Armee deckte damals ein Massa­ker, das eine christ­li­che Miliz an paläs­ti­nen­si­schen Zivi­lis­ten verübt hatte. Ange­sichts der Opfer auf der feind­li­chen Seite verlang­ten Demons­tran­ten im ganzen Land einen Poli­tik­wech­sel.

Nun steht Israel vor der gegen­tei­li­gen Situa­tion: Es ist selbst zum Opfer eines geno­zi­da­len Massa­kers gewor­den. Auf der Gegen­seite ist von einem Gesin­nungs­wan­del oder Groß­de­mons­tra­tio­nen für die zivi­len Opfer Isra­els wenig zu sehen. Israel muss selbst reagie­ren, und zwar nicht nur taktisch, sondern auch stra­te­gisch.

Dabei spielt die lang­fris­tige Vision für den Konflikt mit den Paläs­ti­nen­sern ebenso eine Rolle wie die poli­ti­sche Ideo­lo­gie der Entschei­dungs­trä­ger. Insge­samt können vier tradi­tio­nelle poli­ti­sche Lager in Israel unter­schie­den werden: Links, Mitte-Links, eine Mitte-Rechte und die Rechte. Alle vier haben unter­schied­li­che Sicht­wei­sen auf den Konflikt.

Im Kern der „linken“ Auffas­sung steht die Vorstel­lung, dass die Grün­dung eines jüdi­schen Staa­tes gegen die arabi­sche Mehr­heit ein Unrecht gewe­sen sei, das aktive Wieder­gut­ma­chung erfor­dere. Statt­des­sen schaffe Israel aber mit der Besat­zung des West­jor­dan­lan­des und der Blockade von Gaza ein immer umfas­sen­de­res Unter­drü­ckungs­sys­tem, so die Anhän­ger dieser Sicht­weise. Die Konse­quenz: Prot­ago­nis­ten der israe­li­schen Linken treten vehe­ment für die soge­nannte Einstaa­ten­lö­sung ein, also für einen gemein­sa­men jüdisch-arabi­schen Staat – oder für eine Zwei­staa­ten­lö­sung nach massi­ven Zuge­ständ­nis­sen an die Paläs­ti­nen­ser.

Diese Sicht­weise, die immer nur einen klei­nen Rand anspre­chen konnte, ist diskre­di­tiert. Denn der Hass der Hamas trifft alle Israe­lis – selbst nicht jüdi­sche – und die anti­se­mi­ti­sche Ideo­lo­gie der Hamas spricht eine klare Spra­che: Alle Juden müssen Paläs­tina verlas­sen. Wenn sie es nicht frei­wil­lig tun, werden sie ermor­det.

Die Dschi­ha­dis­ten meinen, einem gött­li­chen Befehl zu folgen. Der vermeint­li­che Auftrag: die Befrei­ung der „heili­gen Erde Paläs­ti­nas“ von den Juden. Gegen diese anti­se­mi­ti­sche Vernich­tungs­ideo­lo­gie können Zuge­ständ­nisse nichts errei­chen. Das Risiko, erneut Opfer eines Massen­mords zu werden, würde den bloßen Versuch zu einem grotes­ken Expe­ri­ment machen.

Auf der ande­ren Seite der jüdisch-israe­li­schen Mehr­heit steht die extreme Rechte. Sie ist derzeit über die Minis­ter Bela­zel Smot­rich und Itamar Ben-Gvir in der israe­li­schen Regie­rung vertre­ten. Mit ihnen gelangte die radi­kale Sied­ler­be­we­gung ins Zentrum der Macht, die einen perma­nen­ten Klein­krieg gegen die paläs­ti­nen­si­sche Bevöl­ke­rung des West­jor­dan­lan­des für die wahre Bedeu­tung des Zionis­mus hält.

Das Motto der Rech­ten ist „das ganze Land Israel“, eine Art israe­li­sches Pendant des paläs­ti­nen­si­schen Slogans „from the river to the sea“. Jüdi­sche Herr­schaft über das Land wird als gött­li­cher Auftrag gese­hen, ein Kompro­miss als Abwei­chung von der reli­giö­sen Norm. Manche von ihnen fordern die Einfüh­rung eines Zwei­klas­sen­bür­ger­rechts in Israel, in dem arabi­sche Israe­lis eine Art Dhimmi-Status hätten. Andere fordern die schritt­weise Vertrei­bung der nicht jüdi­schen Bevöl­ke­rung nach Jorda­nien.

Gemein ist allen, dass sie Isra­els Demo­kra­tie in etwas verwan­deln wollen, das getrost als Apart­heid­staat bezeich­net werden könnte. Diese Optio­nen verbie­ten sich aus zivi­li­sa­to­ri­scher Sicht für den Staat, der sich zu Recht eine jüdi­sche Demo­kra­tie nennt. Das inkom­pe­tente Handeln der Rech­ten hat zudem zur Verwund­bar­keit Isra­els gegen­über dem Angriff der Hamas beigetra­gen. Daher ist das rechte Perso­nal aktu­ell desavou­iert.

Das dritte Spek­trum ist das Mitte-rechts-Lager. Es hat Israel in 35 der letz­ten 46 Jahre regiert. Die Kern­idee der Mitte-Rech­ten ist die natio­nale Stärke Isra­els und die Skep­sis gegen­über einer Kompro­miss­lö­sung. Diese sei ange­sichts des paläs­ti­nen­si­schen Radi­ka­lis­mus nicht möglich, und auch ideo­lo­gisch wenig erstre­bens­wert, da sie den jüdi­schen Anspruch auf das Land unter­grabe, so die Anhän­ger dieses Lagers.

Unter Benja­min Netan­jahu, Spitz­name „Mr. Secu­rity“, wurde diese Ideo­lo­gie poli­tisch zemen­tiert. Netan­jahu war damit zufrie­den, keinen paläs­ti­nen­si­schen Verhand­lungs­part­ner zu haben. Zitate seiner Bera­ter zeigen, dass er selbst mit der Hamas noch eine stra­te­gi­sche Konver­genz sah – nämlich gegen die Zwei­staa­ten­lö­sung. Schon der Abzug aus Gaza 2005, der die Hamas-Herr­schaft erst möglich machte, erfolgte als Teil einer stra­te­gi­schen Neuaus­rich­tung auf die lang­fris­tige Kontrolle des West­jor­dan­lan­des, und nicht als Teil einer naiven „Friedens“-Strategie (das zu unter­stel­len, wäre eine Belei­di­gung des Andenkens von Ariel Scha­ron).

Der Kern der Mitte-rechts-Idee: Isra­els mili­tä­risch-tech­no­lo­gi­sche Stärke würde die eige­nen Verluste gering halten, während die Paläs­ti­nen­ser in einer dauer­haft unter­ge­ord­ne­ten Posi­tion blie­ben. Doch die Unfä­hig­keit der israe­li­schen Geheim­dienste, den mili­tä­risch gut geplan­ten Angriff der Hamas früh­zei­tig zu erken­nen – und die Abwe­sen­heit der israe­li­schen Armee in den ersten Stun­den des Angriffs –, stel­len ein Versa­gen von histo­ri­schem Ausmaß dar.

Ein weite­rer Fehler der Mitte-Rech­ten war ihre Vernach­läs­si­gung der Alli­anz mit den USA: „End U.S. Aid to Israel“ titelte im Juni das poli­tisch rechte Tablet Maga­zine. Israe­li­sche Stärke mache es angeb­lich möglich, auf die oft mit Ermah­nun­gen versetzte Soli­da­ri­tät der USA zu verzich­ten, hieß es damals. Jetzt, wo die USA zwei Flug­zeug­trä­ger in das östli­che Mittel­meer entsandt haben, ist ganz Israel glück­lich über die feste Alli­anz mit den Ameri­ka­nern. Und das unter Premier Netan­jahu, der von Präsi­dent Joe Biden jahre­lang keine Einla­dung ins Weiße Haus erhal­ten hatte.

Das vierte Spek­trum ist die Mitte-Linke. Und hier kommen die „machia­vel­lis­ti­schen Tauben“ ins Spiel. „Tauben“ wurde der kompro­miss­be­reite Teil der israe­li­schen Poli­tik genannt, was damals mit der Formel „Land für Frie­den“ verbun­den wurde.

Das bedeu­tet keines­wegs, dass die „Tauben“ naive Pazi­fis­ten waren. Isra­els promi­nen­teste „Taube“ war Jitz­chak Rabin, komman­die­ren­der Gene­ral des Sechs­ta­ge­kriegs und verant­wort­lich für wenig menschen­rechts­kon­forme Takti­ken der israe­li­schen Armee während der Ersten Inti­fada in den Acht­zi­ger­jah­ren. Premier­mi­nis­ter Shimon Peres reprä­sen­tierte die Mitte-Linke zuletzt als Premier­mi­nis­ter in den 2000er-Jahren.

Der Kern ihrer Stra­te­gie: Sie hält den Kompro­miss für unum­gäng­lich, um dauer­haf­ten Frie­den errei­chen zu können. Wie dieser Kompro­miss ausse­hen soll, ist damit nicht gesagt. Wich­tig an der Mitte-links-Posi­tion ist, dass sie mit einem robus­ten Natio­na­lis­mus verein­bar ist. Und: Diese Posi­tion kann sogar mit einer grund­sätz­lich pessi­mis­ti­schen Sicht auf den Nahost­kon­flikt konform gehen. So schreibt auch die Autorin Mirna Funk in der NZZ: „Ich würde eine Mauer um Gaza bauen, so hoch wie der Eiffel­turm“.

Mirna Funks Formu­lie­rung ist über­trie­ben, ihr Impuls ist aber in dieser Situa­tion verständ­lich. Nur war die Poli­tik der Mitte-Rech­ten über Jahr­zehnte gerade das Gegen­teil dieser Ablö­sung von den paläs­ti­nen­si­schen Gebie­ten: Durch den Sied­lungs­bau sind die Bevöl­ke­run­gen Isra­els und des West­jor­dan­lan­des untrenn­bar mitein­an­der verwi­ckelt worden.

In Teilen der mili­tä­ri­schen Elite Isra­els ist das Sied­lungs­pro­jekt daher auch äußert unbe­liebt, da es als selbst herbei­ge­führ­ter Unsi­cher­heits­fak­tor ange­se­hen wird. Und wenn­gleich die Zweite Inti­fada für den Nieder­gang der frühe­ren „Tauben“ verant­wort­lich war – das stra­te­gi­sche Schei­tern des Mitte-rechts-Lagers jetzt ist noch größer.

In dieser Situa­tion, so scheint es, wären „machia­vel­lis­ti­sche Tauben“ der beste Ratschlag für Israel. Konse­quent die Sicher­heit Isra­els wieder­her­stel­len – das ist notwen­dig. Und danach? Den voll­stän­di­gen „Sieg“ über die Gegen­seite kann Israel nicht mit den poli­ti­schen Mitteln herbei­füh­ren, die einer Demo­kra­tie zur Verfü­gung stehen – um die es sich bei Israel zum Glück handelt. Deshalb wäre es zu begrü­ßen, wenn Israel sich darauf besinnt, dass die natio­nale Sicher­heit wich­ti­ger ist als ideo­lo­gi­sche Domi­nanz­pro­jekte in den Hügeln Judäas, wie sie die derzei­tige Regie­rung prio­ri­siert hat.

Das Einfüh­rungs­zi­tat Yehos­ha­fat Harka­bis erin­nert daran, dass der Konflikt neben dem Vernich­tungs­wahn der Hamas auch einen poli­ti­schen Kern hat. Wird die nähere Zukunft die Rück­kehr eines paläs­ti­nen­si­schen Verhand­lungs­part­ners erle­ben? Wäre es Israel möglich, eine Kompro­miss­lö­sung in Verbin­dung mit arabi­schen Verbün­de­ten auch ohne klaren Part­ner umzu­set­zen?

Die Antwor­ten auf diese Fragen sind völlig unklar. Aber eine Poli­tik der „machia­vel­lis­ti­schen Tauben“ würde zumin­dest eine Perspek­tive auf lang­fris­tige Sicher­heit und dauer­haf­ten Frie­den bieten können. Welche Rolle die arabi­schen Staa­ten dabei spie­len können, wird sich erst noch zeigen müssen.

Tom Khaled Würde­mann, Histo­ri­ker und Nahost­wis­sen­schaft­ler

[ Dieser Text erschien zuerst in der Berli­ner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]

Foto: Godot13 (Andrew Shiva) / CC BY-SA 4.0

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