Köpenick von Pankow aus

Eben habe ich den letz­ten Punkt unter einen Text gesetzt, der mit dem Satz anfängt: Von Pankow nach Köpe­nick, genauer: von Hein­ers­dorf nach Spind­lers­feld, nur mit den Füßen kann ein solcher Spazier­gang nicht unter­nom­men werden. In Hein­ers­dorf auf dem Bahn­steig des S‑Bahnhofs stand ich erst ganz allein, dann kamen noch drei Leute, und als die S10 gekom­men war, kam ein Trüpp­chen, das sich schnell über die Prenz­lauer Chaus­see verlief. In Pankow stieg eine junge Blonde ein, nahm mir gegen­über Platz, würdigte mich keines Blickes, sondern holte ein blaues Suhr­kamp-Taschen­buch aus der Tasche und las und las, Ober­spree stieg sie aus; zwischen Pankow und Ober­spree lag für sie ein Kapi­tel aus einer span­nen­den Geschichte. Dann stand sie auf dem windi­gen Bahn­hof und musste sich Mühe geben, in die Wirk­lich­keit außer­halb des Kopfes zurück­zu­keh­ren.
Da war ich schon in Spind­lers­feld ange­kom­men, mit mir viel­leicht 20 andere Menschen, deren Gemein­sam­keit in nichts ande­rem bestand, als dass sie eben ein paar Minu­ten in ein und dersel­ben S‑Bahn zusam­men­ge­ses­sen hatten. Ich selbst schwenkte nach links in die Ernst-Grube-Straße. Von dem Wider­stands­kämp­fer, nach dem die Straße benannt ist, weiß ich nichts, als dass er einer war. Es ist eine ruhige Straße. Einfa­mi­lien-Häuser, mehrere ziem­lich gleich­för­mige, an der Ecke zur idyl­lisch benann­ten Daheim­straße ein etwas redu­zier­tes Jahr­hun­dert­wende-Schlöss­chen. ein verzier­ter Guss­ei­sen­mast ragt aus einer ande­ren Zeit empor, als warte er immer noch auf eine flat­ternde Fahne; was für Fahnen haben hier wohl schon geflat­tert und welche Gedan­ken sind unter dem windi­gen Hoheits­zei­chen schon gedacht worden? Das sind solche Stim­mungs­fra­gen, solche Wer-weiß-Fragen, die niemand aus wirk­li­chem Inter­esse an den Antwor­ten stellt, Momento mori. Aber auch daran will ich nicht denken, dass ich ster­ben muss wie der Bauherr und der Archi­tekt dieses Kommer­zi­en­rats-Schlöss­chens, aus dem viel­leicht die Werk­hal­len gegen­über beherrscht wurden, von den Spind­lers, den Ment­zels, den Nach­fol­gern, den Direk­to­ren, dem Proku­ris­ten, den leiten­den Wäschern und Färbern.

Zur Rech­ten liegen die verlas­se­nen Hallen dieses gewe­se­nen Indus­trie­be­trie­bes, der einmal so sehr zur Wirk­lich­keit Berlins gehörte, dass nach seinem Grün­der die ganze Gegend heißt: das Feld von Carl Spind­ler. Kein ande­rer Mensch ist zu sehen, nur im Hinter­grund des schö­nen gepfleg­ten Doppel­holz­hau­ses scheint jemand ruhig zu gärt­nern, ich höre, wie er dem Hund des Nach­barn, der mich anbellt, mit beru­hi­gen­dem Menschen­bel­len antwor­tet. Eine intime Gegend.
Ich gelange in den Ernst-Grube-Park. Hinten ein gut bestück­ter Kinder­spiel­platz, aber keine Kinder, ich bin weiter hier ganz alleine, und obwohl mir die Novem­ber­kälte die Beine herauf­zieht, nehme ich auf einer Bank Platz, die Einfa­mi­li­en­häu­ser­front im Rücken, und versu­che die Stim­mung der Gegend in mich aufzu­neh­men, ich frage mich, inwie­fern das hier ebenso Berlin ist wie Pankow, wo ich vor einer Stunde noch durch die Para­cel­sus­straße ging und mich beein­dru­cken ließ von der spät­bür­ger­li­chen Pracht der Fassa­den, die sich um Höfe, eher kleine Parks öffnen und schlie­ßen.
Ich höre die S‑Bahn rechts hinten vorbei fahren, stadt­ein­wärts. Ist es viel­leicht die S‑Bahn, allein sie, die aus Hier und Dort unsere schöne große Stadt über­all macht? Und Witt­gen­stein sagt in “Über Gewiss­heit”, dass wir alle ster­ben müssen, das ist gar nicht gewiss, wieso sollte es gewiss sein? Weil alle Menschen bisher gestor­ben sind! Woher willst du das wissen, kann­test du alle Menschen?

Ich erzähle den Studen­ten gerne von den anti­ken Göttin­nen und Göttern, die unter uns herum­lau­fen, und ausse­hen wie wir, unun­ter­scheid­bar, aber eben unsterb­lich, viel­leicht ist die hübsche Blonde unsterb­lich, die vorhin in der S‑Bahn mir gegen­über las. Um Gottes Willen, ich rufe mich zur Ordnung, zu welchen Gedan­ken verführt mich der Grube-Park! Ich stehe auf von der frie­ren­den Bank, gehe durch die Ahorn­straße zurück bis zur Ment­zel­straße; Ment­zel — das war der Schwa­ger oder irgend sonst ein Verwandt- oder Verschwä­ger­ter von diesem Indus­tri­el­len Spind­ler, Mitin­ha­ber der Fabrik, die es nur noch in Erin­ne­run­gens­zeug­nis­sen gibt; auch hier in der Ment­zel­straße stehen solche; vier, fünf schöne Häuser, kurz nach dem 70er Krieg im [vor]vorigen Jahr­hun­dert gebaut, als das zweite Deutsch­land sich als Kaiser­reich gerade erhob aus einem euro­päi­schen Bruder­krieg und groß und mäch­tig wurde und inner­lich mit seiner Größe und seiner Mäch­tig­keit nicht mitkam. Während ich an diesen, von der KöWoGe schön gepfleg­ten Häusern vorüber gehe, sehe ich schon die Humboldt-Schule vor mir: Ein bauge­schicht­li­ches Zeug­nis der Moderne, ein bauli­ches Meis­ter­stück von Max Taut; so was krie­gen die Post­mo­der­nis­ten nicht hin, die jetzt an den zentrals­ten Stel­len Berlins, etwa neben dem Bran­den­bur­ger Tor, ihre Schul­ar­bei­ten machen dürfen und zeigen dass sie keine Meis­ter sind … im Gegen­satz zu diesem hier, der auch noch unter dem verdre­cken­den DDR-Putz die Quali­tät seines Entwurfs beweist.

Der Direk­tor dieser Schule hatte mich mal einge­la­den, die Rest­be­stände der Siegers­dor­fer Kera­mik­plat­ten zu betrach­ten, mit denen einst das ganze Gebäude verklei­det war. Ich hatte einen Besuch auch ange­kün­digt, das ist jetzt fast ein ganzes Jahr her.
Ich habe mein Verspre­chen nicht gehal­ten. Sie werden mich dort nicht vermisst haben. Wer vermisste mich über­haupt, wenn etwa jetzt hier, während ich die Halte­stelle der Tram Nr. 60 suche und erst im Baustel­len-Gewirr nicht finde, der große Trom­pe­ten­stoß erklänge, den alle ande­ren nicht hörten, nur ich, weil ich es bin, der jetzt weg müsste von der Erde. “Vorsicht!” ruft mir eine freund­li­che Frau zu und streckt eine hilf­rei­che Hand aus, dass ich nicht falle: über meine melan­cho­li­schen Gedan­ken und über die Uneben­hei­ten der Straße.
Die Tram lässt auf sich warten, zu Fuß über die auto­über­la­dene Brücke, ins enge Köpe­nick hinein, die 68 nimmt mich von dort ein Stück mit, eine sanfte Frau­en­stimme ruft die Statio­nen aus: “Frei­heit”. Frei­heit, ange­kün­digt von einer warmen Frau­en­stimme, während von unten die Stra­ßen­bahn auch äußer­lich wärmt, das ist doch auch fast das Glück. Ich lehne mich zurück und habe meine Novem­ber-Gedan­ken ganz beru­higt, als ich an der Ecke Seelen­bin­der­straße aussteige. Den Namen Seelen­bin­ders höre ich so gerne: ein Binder der Seelen, Frei­heit, Seelen­bin­der, zwei schöne Köpe­ni­cker Wörter. Als ich auf dem S‑Bahnhof oben stehe, auf die Bahn warte und hinüber und hinun­ter blicke, den Glanz des Forums vor Augen, bin ich wieder zufrie­den damit, dass ich in Köpe­nick war.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Roeh­ren­see (CC BY-SA 3.0)

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