Das Geburtshaus meiner Oma

Als ich ein Kind war, war sie immer da. Die Oma Gertrud lebte lange bei uns in der Wohnung, bis sie von meinem Vater ins Alten­heim abge­scho­ben wurde. Gebo­ren wurde sie im ostpreu­ßi­schen Lands­berg an der Warthe, das heute Gorzów Wiel­ko­pol­ski heißt und rund 50 Kilo­me­ter hinter der polni­schen Grenze liegt. Viel mehr wusste ich nicht, außer dass sie mit ihren Eltern irgend­wann nach Bran­den­burg gezo­gen ist. Ich wollte mehr wissen, befragte meine Mutter, die 1941 gebo­ren wurde, aber nur wenige Doku­mente über ihre Mama hat. Ich erfuhr, dass meine Oma mit einem Hand­wer­ker namens Georg T. meine Mutter zeugte. Noch vor ihrer Geburt musste er jedoch in den Krieg ziehen. Um meine Oma zu heira­ten, bean­tragte mein Groß­va­ter einen Heimat­ur­laub, der aber abge­lehnt wurde. So deser­tierte er aus der Wehr­macht, wurde jedoch gefasst und in eine Straf­ko­lo­nie gesteckt. Diese über­lebte er nicht.

Sein Name und die Adresse in Lands­berg waren die einzi­gen Anhalts­punkte, um mehr zu erfah­ren. Ich wusste, dass meine Oma 1914 in ihrer Wohnung gebo­ren wurde. Doch nach 1945 waren viele Gebäude zerstört, die Stra­ßen beka­men neue Namen und wurden teil­weise verlegt. Auch die Numme­rie­rung der Häuser änderte sich, sodass eine Iden­ti­fi­zie­rung ihres Geburts­hau­ses kaum möglich schien. Trotz­dem versuchte ich es.

Meine Versu­che, direkt vor Ort Infor­ma­tio­nen über die Fami­lie meiner Oma zu bekom­men, schei­ter­ten. Die (auf polnisch) gestell­ten Anfra­gen an die Stadt­ver­wal­tung und den Bürger­meis­ter wurden nicht beant­wor­tet. Später erfuhr ich inof­fi­zi­ell, dass “diesem Deut­schen” keine Infor­ma­tio­nen gege­ben werden soll­ten. Ob es nach den Kriegs­zer­stö­run­gen über­haupt noch Unter­la­gen gab, ist unklar. Außer­dem wurde die ange­stammte Bevöl­ke­rung ab 1945 vertrie­ben und durch polni­sche Staats­bür­ge­rIn­nen ersetzt.

Jeden­falls erhielt ich von dort keine Hilfe. Auch die Verwal­tung in Orani­en­burg, dem Land­kreis, in den meine Oma irgend­wann mit ihren Eltern gezo­gen sind, hatte keine Infor­ma­tio­nen, z.B. über den Zeit­punkt des Umzugs.

So machte ich mich auf die Suche nach der heuti­gen Adresse in Gorzów Wiel­ko­pol­ski. Ich verglich alte Land­kar­ten mit heuti­gen Stra­ßen­zü­gen, sich­tete uralte Fotos. Da meine Oma in eine damals offen­bar wich­tige Straße gebo­ren wurde, gab es mehrere Aufnah­men. Nach und nach fand ich heraus, wo das Geburts­haus meiner Oma stand — bzw. noch heute steht! Die Gebäude rechts und links davon exis­tie­ren nicht mehr, die ganze Gegend ist im Krieg größ­ten­teils zerstört worden. Dafür gibt es aber noch die Kirche auf der gegen­über­lie­gen­den Stra­ßen­seite. Per Street­view fuhr ich immer wieder durch diese Straße und verglich alle mögli­chen Merk­male mit den alten Fotos. Schließ­lich war ich sicher, dass es sich um das rich­tige Gebäude handeln musste.

Schon vor eini­gen Mona­ten fragte ich meine Mutter, ob sie gerne das Geburts­haus ihrer Mama besu­chen möchte. Sie wollte und wir legten den Termin auf das Wochen­ende, genau 110 Jahre nach Gertruds Geburt!

Am Morgen fuhren wir in Berlin los, meine Mutter, mein Freund und ich. Über die Auto­bahn nach Frank­furt (Oder), über Rzepin nach Gorzów. Wir waren aufge­regt, was uns erwar­tete. Die Straße ist heute ein Auto­bahn­zu­brin­ger, breit und stark befah­ren. Wir fanden einen Park­platz gleich gegen­über der Adresse. Dort schau­ten wir nun auf ein statt­li­ches Grün­der­zeit­ge­bäude, helle Fassade, neues Dach. Vier Etagen mit Stuck­ele­men­ten und Balkons. Dahin­ter noch zwei Seiten­flü­gel, mit einfa­cher Fassade, hier lebten offen­bar die ärme­ren Miete­rIn­nen. Wo heute vorn an der Straße ein Friseur­sa­lon liegt, war damals eine Werk­statt. Ob sie Georg T. gehörte oder er dort nur ange­stellt war, wissen wir nicht.

Es war ein bewe­gen­des Gefühl an dem Haus zu stehen, in dem die Mutter und meine Groß­mutter gebo­ren wurde und die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Leider kamen wir nicht ins Gebäude hinein, aber wir legten an der Eingangs­tür einige weiße Rosen ab und stell­ten zwei Fotos auf. Eines zeigt die noch recht junge Gertrud, auf dem ande­ren war sie bereits rund 60 Jahre alt. Viel älter ist sie leider auch nicht gewor­den, sie starb 1978 mit 64 Jahren.

Für uns war dieser Tag sehr wich­tig, weil wir einen Teil der Wurzeln unse­rer Fami­lie frei­ge­legt haben. Meine Mama, mein Freund und ich waren zum ersten Mal in der Stadt, aus der ihre Mutter stammte. Es war ein schö­ner und ergrei­fen­der Tag.

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