100 Jahre KWU in Moabit

Die Kraft und der Stolz — Eine Indus­trie­ge­schichte

Kraft. Das Wort Turbine löst sofort eine Vorstel­lung von Kraft aus. Dampf­tur­bine. Schiffs­tur­bine. Gastur­bine. Die größte Gastur­bine, die in Moabit gebaut wird, wiegt 300 Tonnen und ist unge­fähr so groß wie ein Reise­bus. Herge­stellt werden diese Riesen aber, so die Auskunft der Kraft­werks-Union, mit der Präzi­sion eines Uhrma­chers. Denn in der Gastur­bine saugt ein Verdich­ter Luft an, die stark kompri­miert als Verbren­nungs­luft in die Brenn­kam­mern strömt. Über Düsen wird Erdgas oder Heizöl einge­bla­sen und mit der kompri­mier­ten Luft verbrannt. Dabei entste­hen Tempe­ra­tu­ren von bis zu 1500 Grad Celsius.

Die unter hohem Druck stehen­den Verbren­nungs­gase trei­ben die Schau­fel­rä­der der Turbine an, die wiederum einen Gene­ra­tor antrei­ben, der den Strom erzeugt. Eine einzige Gastur­bine mit einer Leis­tung von 266 Mega­watt kann eine Stadt mit 220.000 Einwoh­nern mit Strom versor­gen.

Wenn zwischen Hutten­straße und West­ha­fen nachts mal wieder tota­les Halte­ver­bot herrscht, wissen die meis­ten Anwoh­ner, was das zu bedeu­ten hat: Da verlässt mal wieder eine dieser riesi­gen Turbi­nen die KWU. Die wird dann auf einem Tief­la­der mit 20 Achsen im Schritt­tempo zum Schiff gebracht. Schritt­tempo, das ist nicht im über­tra­ge­nen Sinne gemeint, sondern wört­lich. Schritt für Schritt muss über­prüft werden, ob der Tief­la­der noch abso­lut gerade seinen Koloss trägt, oder ob eine kleine Uneben­heit in der Fahr­bahn das Teil zum Wanken bringt. In den Stra­ßen sind selbst­ver­ständ­lich viele Uneben­hei­ten. Die müssen dann hydrau­lisch ausge­gli­chen werden. Würde sich tatsäch­lich einmal der Tief­la­der ein wenig zu weit zur einen oder ande­ren Seite neigen, könnte die Ladung umkip­pen. Das wäre eine Kata­stro­phe. Nicht nur, weil es schade wäre um die schöne Turbine. Es wäre auch unmög­lich, sie mit mobi­len Hebe­krä­nen wieder aufzu­he­ben. 300 Tonnen! Sie müsste an Ort und Stelle demon­tiert werden. Und das würde dauern.

Die KWU ist ein stol­zes Werk. Stolz auf die Leis­tungs­fä­hig­keit, stolz auch auf die bisher über 400 Gastur­bi­nen, die von Moabit aus in über 50 Länder gelie­fert wurden. Stolz auf eine stolze Beleg­schaft, die zu 80 Prozent aus Fach­ar­bei­tern besteht. Stolz auf eine im Jahr 2004 einhun­dert­jäh­rige Geschichte. Und stolz nicht zuletzt auf die Turbi­nen­halle, die 1909 nach einem Entwurf von Peter Behrens gebaut wurde und heute unter Denk­mal­schutz steht. Sie gilt als wegwei­send in der Indus­trie­ar­chi­tek­tur, in der Funk­tio­na­li­tät tatsäch­lich zur Ästhe­tik wird. Die Träger der Halle bestim­men den Rhyth­mus der Fassade. Immer wieder ist zu beob­ach­ten, dass ein Archi­tek­tur­se­mi­nar an Ort und Stelle abge­hal­ten wird. Da steht dann eine Gruppe junger Leute an der Ecke Hutten-/Reuchl­in­straße, denen ein begeis­ter­ter Profes­sor mit leuch­ten­den Augen das Bauwerk erläu­tert. Hutten-/Reuchl­in­straße, das ist auch der Punkt, an dem immer wieder asia­ti­sche, afri­ka­ni­sche, ameri­ka­ni­sche, austra­li­sche oder euro­päi­sche Foto­gra­fen ihre Kame­ras aufbauen, um die Kopf­seite der Halle mit einem möglichst voll­stän­di­gen Blick auf die Seiten­fas­sade in der Berli­chin­gen­straße ins Bild zu bekom­men. Die Peter-Behrens-Halle ist nicht leicht zu foto­gra­fie­ren.

Der west­li­che Teil von Moabit zwischen Beus­sel­straße und Char­lot­ten­bur­ger Verbin­dungs­ka­nal war einst das größte inner­städ­ti­sche Indus­trie­ge­biet Berlins. Dazu gehörte auch die Union Elek­tri­ci­täts­ge­sell­schaft in der Hutten­straße. Am 27. Februar 1904 fusio­nierte sie mit der von Emil Rathenau gegrün­de­ten AEG (Allge­meine Elek­tri­zi­täts­ge­sell­schaft). Auf dem Gelände in der Hutten­straße beginnt damit die Ferti­gung von Dampf­tur­bi­nen. In den ersten Jahren des Zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts wurden auch die Wohn­häu­ser des Beus­sel­kiezes und der Hutten­in­sel gebaut. Die meis­ten Arbei­ter der AEG oder auch der ande­ren Werke wohn­ten hier. Die Löhne der Fabrik­ar­bei­ter waren damals nicht so hoch, dass die sich auch noch jeden Tag eine Stra­ßen­bahn­fahr­karte hätten kaufen können. So entstand ein typi­scher Arbei­ter­wohn­be­zirk. Die Wohnun­gen waren weder groß noch komfor­ta­bel. Es lebten viele Menschen auf engem Raum. Aber Kohlen muss­ten sie alle kaufen, Brot auch, Wurst und Käse auch, manch­mal Fleisch — und für alles gab es in jeder Straße mindes­tens einen klei­nen Laden. Noch heute arbei­ten nur bei der KWU rund 2000 Menschen. Aber wohnen tun die meis­ten von ihnen ganz woan­ders. Da, wo in der Rosto­cker Straße und in der Berli­chin­gen­straße vor dem Krieg Wohn­häu­ser stan­den, werden die freien Flächen heute als Park­plätze für die KWU-Arbei­ter genutzt.

Viele arbei­ten schon in der zwei­ten oder drit­ten Gene­ra­tion in der KWU, einige ein ganzes Arbeits­le­ben. Zwischen der Beleg­schaft und dem Werk scheint eine Verbun­den­heit zu bestehen, die heute längst nicht mehr selbst­ver­ständ­lich ist. Das mag ganz nüch­tern auch damit zusam­men­hän­gen, dass hier niemand um seinen Arbeits­platz bangen muss, einer­seits, ande­rer­seits aber auch mit der Tradi­tion des Werkes und dem Stolz darauf. “Wir trei­ben in Berlin die neuen Produkte voran”, sagt der Werks­lei­ter Wolf-Diet­rich Krüger, “wir bauen Proto­ty­pen der jeweils neuen Gene­ra­tion und brin­gen sie zur Seri­en­fer­ti­gung.” Und weiter: “Nach Exper­ten­schät­zun­gen soll der Strom­be­darf in den kommen­den 20 Jahren welt­weit um mehr als 60 Prozent stei­gen. Fast die Hälfte der Kraft­werke werden dann voraus­sicht­lich Kraft­werke mit Gastur­bi­nen sein.” Die Treue lohnt sich. Für beide Seiten.

Eine stolze Arbei­ter­schaft lässt sich nicht alles gefal­len. Die Fort­schritte in der Arbeits­welt werden in allen Indus­trie­zen­tren erstreikt. Das Werk an der Hutten­straße heißt zeit­wei­lig in der Stadt “die rote Turbine”. Die Turbi­nen sind im Laufe der hundert Jahre immer größer gewor­den. Doch Anfang der 30er Jahre wird ein klei­ner Turbo­ge­nera­tor, gerade mal so groß wie ein Span­fer­kel, für die Beleuch­tung von Loko­mo­ti­ven und Eisen­bahn­wa­gen entwi­ckelt und 25.000 mal gebaut. In beiden Welt­krie­gen werden in der Fabrik auch Teile für die Rüstungs­in­dus­trie gefer­tigt. Am 10. April 1945 werden sechs Mitar­bei­ter der Turbi­nen­fa­brik wegen “Vorbe­rei­tung zum Hoch­ver­rat” in Plöt­zen­see enthaup­tet. Im Septem­ber des selben Jahres demon­tier­ten sowje­ti­sche Trup­pen Teile des Werkes. Nach dem Krieg werden zunächst Busse und Stra­ßen­bah­nen repa­riert, doch bald schon können wieder Turbi­nen produ­ziert werden.

Seit 1977 gehört die KWU Siemens. 2004 feierte das Werk seinen hunderts­ten Geburts­tag. In einer Fest­schrift ist die Geschichte des Werkes zusam­men­ge­fasst und wird durch ein paar beglei­tende Geschich­ten anschau­lich. 2009 darf schon wieder gefei­ert werden, dann wird die Peter-Behrens-Halle hundert. Eine weitere Gele­gen­heit Geschichte zu erfor­schen und Geschich­ten zu erzäh­len.

Burk­hard Meise

Foto: Doris Antony, CC-BY-SA‑3.0

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