Der Bäume zärtliches Grün

Diesen Spazier­gang durch Kreuz­berg kann ich beinahe im Sitzen unter­neh­men. Aus dem Fens­ter meines Büros in der Redak­tion des Bezirks­jour­nals am Tempel­ho­fer Ufer sehe ich drei deut­sche Tote bei ihrem Spazier­gang durch Kreuz­berg, Geis­ter der Nähe: dort hinten, da unten!
Da kommen die Drei zusam­men! Zuerst Hans David­son, der sich, die Buch­sta­ben seines Namens umstel­lend, Jakob van Hoddis nannte, Sohn eines Arztes aus Fried­richs­hain. Am 20. Dezem­ber 1913, sozu­sa­gen am Vorabend geschicht­li­cher Fürch­ter­lich­kei­ten, las er bei einer Veran­stal­tung des “Neuen Clubs”, einer Lite­ra­ten­ver­ei­ni­gung “neopa­the­ti­scher Gesin­nung”, im “Grünen Saal” an der Köthe­ner Straße Nr. 38, in der über­haupt viel berli­ni­sche Geschichte statt­ge­fun­den hat, Gedichte vor. Der Saal ist noch da. Auch die Gedichte. Viel­leicht las Hoddin passend zur geschicht­li­chen Stunde das berühmte “Welten­ende”:

Dem Bürger fliegt vom spit­zen Kopf der Hut.
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dach­de­cker stür­zen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten — liest man — steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrü­cken.
Die meis­ten Menschen haben einen Schnup­fen.
Die Eisen­bah­nen fallen von den Brücken.

Dann kam er, mitten in der Nacht (oder schon am frühen Morgen), das Tempel­ho­fer Ufer entlang, wie häufig. Wir unter­nah­men “stun­den­lange Spazier­gänge durch das nächt­li­che Berlin”, erzählt sein Freund, der Maler und Zeich­ner Ludwig Meid­ner: “Diese Welt­stadt Berlin war damals das große Erleb­nis, und nicht nur für mich, den gebo­re­nen Klein­städ­ter, sondern auch für van Hoddis, der Berli­ner war. Wir verlie­ßen nach Mitter­nacht das Café des Westens und marschier­ten stramm, ziem­lich rasch, gera­de­aus durch die Stra­ßen, immer der Nase nach. Während ich als Maler umher­spähte und das belebt Hell-Dunkel genoss, schien van Hoddis seine Umwelt nicht zu beach­ten; aber er beob­ach­tete sie doch und nahm Dinge wahr … Häuser­zei­len, die fröh­lich-trau­ri­gen Balko­nen und dazu die ersten Zeugen des anbre­chen­den Berli­ner Wochen­tags … von unaus­drück­ba­rem Reiz”:

Viele Weiber siehst du und Mädchen zur Arbeit gehen,
Im blei­chen Licht. Wild von der Nacht. Ihre Röcke wehn.
Glie­der zur Liebe geschaf­fen.
Hin zur Maschine und mürri­schem Mühn.
Sieh in das zärt­li­che Licht.
In der Bäume zärt­li­ches Grün.
Horch! Die Spat­zen schrein.
Und drau­ßen auf wilde­ren Feldern
Singen Lerchen.

Ich sehe Jakob van Hoddis, den “Stadt-Verzück­ten”, am Kanal entlang­ge­hen, damit ich seines Schick­sals gedenke: seit den zwan­zi­ger Jahren geis­tes­krank, seit 1933 nach mancher Irrfahrt in den Israe­li­ti­schen Kuran­stal­ten Sayn bei Bendorf am Rhein, wird er als Nummer 8 Ende April 1942 depor­tiert und in einer der deut­schen Menschen­ver­nich­tungs­ma­schi­nen auf polni­schem Boden — in Belzec, Chelmno oder Sobi­bor, Genaue­res weiß man nicht — vergast.

Scham­lo­ser Tag entdeckt dir die Kontu­ren. Die Häuser stehn befleckt mit Staub und Ruß.

Zur selben Zeit, können wir beinahe sagen, kam auch George Grosz vorüber. Als er nach Berlin gekom­men war, hatte er in Südende gewohnt, “an der Peri­phe­rie der wie ein Okto­pus um sich grei­fen­den Stadt”. Er inter­es­sierte sich für die Exis­ten­zen am Rande der Stadt. Leier­kas­ten-Musik liebte er bis zu Tränen.
“An der Groß­bee­ren­brü­cke stand regel­mä­ßig eine alte Hure (erzählt Fritz Harig), die 20 Jahre auf Rummel­plät­zen ihre Täto­wie­run­gen gezeigt hatte. Sie wohnte in einem Keller zum Tempel­ho­fer Ufer. Ich wurde oft von ihr ange­spro­chen und machte Grosz auf sie aufmerk­sam. Na, wie wars? fragte ich ihn später. Grosz war hell begeis­tert: Ganz groß­ar­tige Sachen dabei, sagte er, ich habe ein ganzes Skiz­zen­buch voll­ge­zeich­net.”

Hervor aus den Kellern! Oder herun­ter von den Balko­nen! George Grosz und Gott­fried Benn kann­ten sich gut, sie duzten sich, Benn hatte seine Praxis als “Spezi­al­arzt für Haut- und Geschlechts­krank­hei­ten” in der Belle-Alli­ance-Straße, heute Mehring­damm Ecke Yorck­straße. In ein paar Minu­ten bin ich vom Tempel­ho­fer Ufer an dem Haus; es steht noch, ein Eckhaus; um die Ecke in der Yorck­straße die Stamm­kneipe, der “Reichs­kanz­ler”, es gibt einge­legte Eier, saure Gurken im Fass, Boulet­ten aus dem Glas­schränk­chen auf der Theke, Bier: Berli­ner Kindl. “25 Frauen verlas­sen, 4 mal an Gräbern geweint”. Die 25 sind hier nicht nach­zu­zäh­len, und auch die 4 nicht.
Hier ist nur Lili Brede namhaft zu machen: “Meine Freun­din, … die ich ja im Grunde unver­än­dert liebte …, wie in den Jahren des Altwer­dens und der schwin­den­den Gefühls­fä­hig­keit der Mann liebt … stürzte sich hier von ihrer Wohnung im 5. Stock auf die Straße … Sie rief mich an, dass sie es tun würde. Ich jagte im Auto hin, aber sie lag schon zerschmet­tert unten, und die Feuer­wehr hob den gebro­che­nen Körper auf … nie kann ich verges­sen, wie sie bei jenem letz­ten Tele­fon­ge­spräch, mit dem sie Abschied nahm, so schluchzte, so unend­lich schluchzte.” In der BZ zeigte Dr. Benn den Tod an, “mit meinem Namen”, wie er ausdrück­lich hervor­hebt. “Wir sind aus Riesen­städ­ten, in der City, nur in ihr, schwär­men und klagen die Musen.”
Und essen Curry­wurst. Ganz in der Benn’schen Nähe liegt am Mehring­damm der Curry­wurst­stand, von dem manche Spezia­lis­ten sagen, hier gibt’s die besten Curry­würste von ganz Berlin. Da gehen wir oft hin. “Brat­würste als Curry­würste” haben wir eben dort geges­sen. “Bleibt anstän­dig, Jungs”, hat uns der Macker nach­ge­ru­fen. Wir haben es verspro­chen.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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