Sich Moabit reinziehen

An der Turm­straße, vor Hertie, der Heilands­kir­che gegen­über, heraus aus der U9 an die Sonne dieses März­sonn­abends. “Na, das Wetter genie­ßen?” hatte mich der Nach­bar vorhin begrüßt; das Wetter, die Menschen, die Stadt. Ein Ziel muss man haben. Machen Sie das auch so, liebe Leser/-innen: “Heute sehen wir uns mal (zum Beispiel) die Messel-Häuser in der Sickin­gen­straße an…”, was immer es unter diesem Titel zu erwar­ten gibt, dann trödeln Sie los! Und sind es von Anfang an zufrie­den. Bei Stadt­spa­zier­gän­gen sind die Ziele nicht verbind­lich und die Ergeb­nisse auch nicht, wenn dieses Wort hier über­haupt am Platze ist.
Nord­wärts die Jonas­straße. Die Armi­ni­us­markt­halle steht plat­zig zwischen den Stra­ßen wie sonst Kirchen; Gott und Konsum, Erzeug­nisse des Himmels und der Erde. Das Hinein und Heraus der Leute, mit leeren und vollen Taschen, die Versor­gungs­auf­re­gung, die Sonn­abend-Nach­mit­tags­vor­freude, die Aben­der­war­tung mit Sport­stu­dio und der Bundes­liga. Das kleine Sträß­chen zwischen Turm­straße und Alt-Moabit, an dem die Heilands­kir­che steht, mit über­schlan­kem 87-Meter-Turm, heißt Thus­nelda-Allee: Thus­nelda, die ihren Vater, den Römer­freund, verließ, um Armin, den Römer­feind, zu heira­ten, ehe sich ihr Schick­sal irgendwo im römi­schen Reich in Melan­cho­lie verlor: als Fried­rich Schulze, der Staats­bau­meis­ter, 1892 die Kirche baute, waren “Armi­nius” und “Thus­nelda” gewiss eine Benen­nung, bei der sich das Volk zwischen Heiland und Markt­halle was denken sollte.

Am Café Klatsch in die Bremer Straße. Die Verkehrs­schule bildet dort einen bepap­pel­ten Platz; auf den Bänken und um sie herum sammeln sich Grup­pen türki­scher Männer. Oder sind es Kurden? Müssen wir das jetzt unter­schei­den? Krie­gen wir das nicht hin, uns und allen eine Umwelt zu schaf­fen, in der Menschen Menschen sind und nicht Pass­trä­ger? Weder nach ihrer Haar­farbe noch nach ihrem Gott recht­lich zu unter­schei­den?

Die Frei­flä­chen zwischen den hohen Häusern hier sind ja nicht übrig­ge­las­sen, sondern hinein­ge­schla­gen, einge­bombt. Weiß man das noch? Weiß man (zum Beispiel) noch, dass der Park, der sich von der Wiclef- zur Union­straße hinstreckt — beinahe möchte ich sagen: ein Berli­ner Spit­zen­ort, eine städ­ti­sche Erst­klas­sig­keit — Hof war, Höfe, enge Häuser­schluch­ten? Der Krieg als Städ­tesa­nie­rer, die Zerstö­rung als Aufbau­hel­fe­rin … um Gottes willen! So dachte Nazi-Speer, der Gene­ral­bau­in­spek­tor, der Welt­reichsträu­mer, der Menschen­ver­nich­ter, der hernach auch noch mit der halben Einsicht groß­bür­ger­li­che Millio­nen machte. Die Tatsa­chen einfach zur Kennt­nis nehmen, nicht bewer­ten? Gut! Das war der Bomben­krieg und daraus ist eine Stadt­frei­flä­che gewor­den, die mit einem Schnitt durch die Hinter­höfe der Not und des Wohnungs­elends Licht und Luft bringt in das Geblie­bene und es zu einem Museum der Vergan­gen­heit macht, dessen Lehre man im glei­chen Augen­blick verges­sen kann, in dem sie erteilt wird. Gedächt­nis und Erin­ne­rung sind zwei­er­lei.

In der Wiclef­straße haben meine Toch­ter und meine Nichte gewohnt; der Kater sprang aus dem Fens­ter, wollte er sich das Leben nehmen? Bei diesen netten Frauen doch nicht! Das war Über­mut, Alters­leicht­sinn. Die Schau­bühne vom Lehni­ner Platz hat hier unten ein Lager; im 20er-Jahre-Bau steht sie stolz da am Kudamm und sichert sich von hier hinten ab: wie die Stadt über­haupt; alle Groß­stadt­dar­stel­lung braucht ihre gesell­schaft­li­chen Hinter-Höfe, sonst ist es Talmi und Belie­big­keit, die man wie die Musi­cal-Produk­tio­nen auch auf einer Wiese bei Bottrop auffüh­ren könnte.
Dem Leben einen würdi­gen Abschluss geben, Richard Stark Bestat­tun­gen, seit 1906; die Fassa­den von Wiclef 48 und 49 sind sehens­wert. So waren die benach­bar­ten auch. Ein Zitat reicht. Es ist die Natur der Erin­ne­rung, dass sie frag­men­ta­risch ist. Es muss Platz sein für die Erfin­dung, die verän­dert, indem sie vervoll­stän­digt. Der Sinn der Geschichte ist nicht, die Gegen­wart zu verste­hen, sondern sie zu erzie­hen, Naja … das sind so Sätze. Voll­tö­nend genug für Kirchen­nach­bar­schaft. Refor­ma­ti­ons­kir­che. Von Jonas an waren schon viele Stra­ßen­na­men refor­miert, obwohl die Gegend in der Olden­bur­ger Straße auch ein nach­hal­ti­ges katho­li­sches Zentrum hat; viele, die hier wohnen, sind jedoch Muslime, und die meis­ten — denke ich sind kirch­lich gar nichts mehr.

Mit der Refor­ma­ti­ons­kir­che schließt die Wiclef- an die Beus­sel­straße an und wird die Witt­sto­cker. Vor der Tür der Refor­ma­ti­ons­kir­che steht der dicke Luther, eine große Bibel an sich pres­send, auf den Schul­tern eines schma­len Engels, der auch noch Christi Wappen tragen muss. Laden die Menschen dem Himmel nicht zuviel auf? Die Kneipe gegen­über heißt “Zum schö­nen Schluck Berlin”. Es gibt wirk­lich schöne Schlu­cke von Berlin hier, und wenn das Adjek­tiv viel­leicht nicht gerade das rich­tige ist und auch das Substan­tiv nicht passt, dann sagen wir … na, was denn? Ich habe keine Zeit, das länger zu über­le­gen:
“Und was ham wir fest­ge­stellt?” fragt nämlich der Ohrrin­gige, der in der Tür steht und beob­ach­tet hat, wie ich die Schö­ningsche Wasser­pumpe betrach­tet und mich gewun­dert habe, dass sie die Jahres­zahl “1978” trägt. Der Mann kennt die Pumpe seit seiner Jugend und, weil ich ein Notiz­buch in der Hand habe, befürch­tet er, dass ich einer bin “von denen, die alles abrei­ßen wollen”.
“Wass iss das für einer?” fragt sein Kollege, der aus der Kneipe kommt, weil er wohl denkt, der Kumpel braucht Hilfe.
“Mann, der zieht sich Moabit rein und wie!”, sagt der erste, dem ich erzählt habe, dass Messels Doppel­haus in der Sickin­gen­straße Nr. 7/8 mein Ziel ist. Dass das fast die ersten archi­tek­to­ni­schen Versu­che sind, den Arbei­ter­woh­nungs­bau zu verbes­sern, ist ihm neu. Die innen wie außen eindrucks­vol­len Häuser des Berli­ner Spit­zen­ar­chi­tek­ten sind von 1893–95, so alt also wie vorhin die Heilands­kir­che. Erstes Vorha­ben des nach­her berühm­ten Berli­ner Spar- und Bauver­eins. Aber nur 1- und 1 1/2‑­Zim­mer-Wohnun­gen. Für Arbei­ter­fa­mi­lien war das doch nichts. Aber gleich­wohl: der große Messel — damals war er viel­leicht noch gar nicht so groß wie er nach Kauf­haus Wert­heim, AEG-Verwal­tungs­ge­bäude, Perga­mon­mu­seum schließ­lich wurde, machte der Zeit was vor. Mit den brei­ten schlos­si­gen Trep­pen­häu­sern demons­trierte er den Bewoh­nern, dass sie sich Selbst­be­wusst­sein eben­so­gut leis­ten konn­ten wie andere.
Ich kenne Alfred Messel gerade wenig genug, dass ich ihn bewun­dern kann. Ich bewun­dere gerne. Nur Poli­ti­ker nicht. Rosa Luxem­burg viel­leicht. Aber eher bemit­leide ich sie. “Deutsch­land denken heißt Ausch­witz denken” steht am Jugend­club in der Renais­sance-Imitat-Villa an der Rosto­cker Straße, durch die ich jetzt heim gehe. Die Stadt­bi­bi­lo­thek heißt nach Kurt Tuchol­sky, auch gut, er ist nicht weit von hier gebo­ren, in der Lübe­cker Straße. Tuchol­sky bewun­dere ich auch; so möchte ich schrei­ben können. Aber am Ende hielt er nichts mehr vom Schrei­ben und über­haupt vom Leben nichts mehr.

Durch die Hutten‑, dann Turm­straße durch­quere ich das lebhafte multi­kul­tu­relle Quar­tier U‑Bahnwärts. Der schmale Platz vor dem Rathaus heißt nach Mathilde Jacob. An der Rathaus­wand steht über gelben Was-denns ein anrüh­rend unsen­ti­men­ta­ler Text über die Daten ihres Lebens und ihres Todes. Vertraute von Rosa, Sozi­al­de­mo­kra­tin, Kommu­nis­tin, Jüdin, von Deutsch­land ermor­det, There­si­en­stadt. Es reicht nicht, Ausch­witz zu denken, wenn man Deutsch­land denkt. Das muss man sich auch rein­zie­hen, wenn man sich Moabit rein­zieht. Ohne das ist kein deut­sches Früh­lings­wet­ter zu haben.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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