Rosen leuchten, kleine Wälder, grün

Viel­leicht ist dieser Montag der bisher schönste Tag von 99 in Berlin. Kein Wölk­chen am Himmel. Die Luft ist zwar nicht lind, aber nicht zu warm, nicht zu kalt. Meine Lebens­freun­din, die ich — so wünscht sie’s — hier nicht mit vollem Vorna­men, sondern allen­falls “L” nennen soll, beglei­tet mich. An der Station Spring­pfuhl stei­gen wir aus der S75 aus. Über den Helene-Weigel-Platz, zwischen den Buden hindurch, durch die Spring­pfuhl-Passage und über die Allee der Kosmo­nau­ten: wir sind auf dem Weg in die March­witz­a­straße.
“Iss ja gar nich rüber zukomm’ ”, sagt L. “Und so laut! So laut!“
Aber man muss nur wissen, dass hinter Auto­straße und Park­plät­zen, unsicht­bar hinter über­manns­ho­hen Sträu­chern, eine zweite Straße verläuft, auf der man ganz schnell das Gefühl entwi­ckeln kann, drau­ßen wie drin­nen zu sein. Wer aber ganz genau Bescheid weiß, also wer hier zu Hause ist im grünen Marzahn, der geht auf dem Innen‑, dem Hofweg entlang, der hinter den Häusern verläuft. Auf der Nicht-Häuser-Seite hat man den weit­läu­fi­gen Innen­hof, der hier an der March­witz­a­straße den Namen eines Parks viel eher verdient als den eines Hofes. Auf diese Weise wären wir an Nummer 43 mit Ohs und Ahs fast vorbei­ge­gan­gen. Wie an man­chen ande­ren Stel­len im Quar­tier ragen hier zwei Wohn­blocks dicht anein­an­der heran und lassen nur einen schma­len Durch­gang.

“Was ist das denn?”, fragt L. und meint die Skulp­tur, die ein biss­chen aussieht wie der Knoten mit Ausrufe­zeichen vor der Deut­schen Oper. Natür­lich ist es eine Richt­krone. Das stei­nerne Bild­hau­er­ab­bild einer Richt­krone. Unten ein Denk­mal, in dem der Mensch mit jubelnd aufge­wor­fe­nem Arm durch ein Loch symbo­li­siert wird. Die Tafel zitiert den Richt­spruch. Es ist der 2. Septem­ber 1977. So weit liegt das doch gar nicht zurück. March­witz­a­straße 43 war das erste Haus für die “künf­tig neue Stadt, Stadt­teil unse­rer Haupt­stadt”: “Früher Sumpf und Kiete” — wir müssen zu Hause Grimms Wörter­buch bemü­hen, um zu erfah­ren, was “Kiete” ist: Ziegel­erde, Ton, Stein­ge­röll — “Sollen Rosen leuch­ten, kleine Wälder, grün …” Also alles, was recht und lyrisch ist: das ist gelun­gen.
Wir sitzen inmit­ten des Park­ho­fes unter einer Pergola, an der zwar keine Rosen hoch­ran­ken, aber Glyzi­nien. Neben uns zwei Ehepaare, beide Frauen in leuch­tend roten Jacken, die schwar­zen, gut frisier­ten Zwerg­pu­del­chen bellen uns an: “Menschen­s­kin­der!”, werden sie — sozu­sa­gen: zärt­lich — ange­herrscht, “Iss doch wohl genug Platz für uns alle hier!” Wir sitzen eine Weile auf den blass­blauen Bänken, die im Rund unter der Pergola stehen.

“Und wenn du nun den Auftrag gehabt hättest, schnell mal 20.000 Wohnun­gen zu bauen in Berlin wegen all der Kolla­te­ral­schä­den?”
“Die Leute sagen, sie wollen Rasen und Rosen…”
“Aber in Wirk­lich­keit wollen sie am Kudamm wohnen, vorner­aus mit Blick auf die Ostsee, hinten auf die Alpen.“
Es ist gar nicht so einfach, den Städ­tern die Stadt recht zu machen.
Damit gehen wir durch die Unter­füh­rung zur stra­ßen­mit­ti­gen Stra­ßen­bahn­hal­te­stelle der Tram Nr. 8, die uns in weitem Bogen um die Garten­stadt Marzahn (jawohl!) herum­fährt. Im Eiscafé Engel am Anfang der Dorf­idylle von Alt-Marzahn, wo Gregor Gysi, der hier der politi­sche König ist, sein Wahl­kreis­büro hat, machen wir Pause. Die junge Frau mit aufge­weck­tem Kind neben uns kommt uns arbeits­los vor. Was muss man tun, damit der Wert der Menschen nicht nach Arbeit bemes­sen wird? Aber natür­lich erst recht nicht nach Nicht­ar­beit. Sagen wir mal: Nicht Arbeit müssen die Leute haben, sondern eine aner­kannte gesell­schaft­li­che Rolle. Und das soll nicht hinzu­krie­gen sein, wo doch in Holland …“Schön!” sagt L., denn nun durch­que­ren wir den Bürger‑, Wohn­ge­biets­park. Über­all Grup­pen in der Sonne lagern­der Junger und Älte­rer. Das Schönste unter der Sonne ist: unter der Sonne zu sein. Inge­borg Bach­mann hat das wohl auf Italien bezo­gen, aber es passt über­all.

Die Paul-Dessau-Straße ist gar nicht so leicht zu finden. Wir haben sie schon gefun­den, aber gegen die Ludwig-Renn-Straße wieder verlo­ren.
“Sie sehen ja so verlo­ren aus!”, sagt eine freund­li­che Frau, die ihren ener­gi­schen Schritt verhält und uns genau zeigt, wo die Paul-Dessau-Straße auf die Raoul-Wallen­berg-Straße stößt. Das Haus, in dem an jedem Balkon Blumen­käs­ten sind, aber wenig Blumen, beher­bergt die 20.000. Wohnung des Neubau­ge­biets Marzahn, 2. Okto­ber 1981. Die 1000. Wohnung des Gebiets liegt in dem schön reno­vier­ten Haus Luise-Zietz-Straße 129, das wir vorhin — ganz in der Nähe von March­witza 43 — besich­tigt haben. Diese Wohnung Nummer 1000 war fertig am 6. Juli 1978. Es war zugleich die 1.000.000. Wohnung, die die DDR seit 1971 gebaut hatte. Nach­zählen können wir das nicht, brau­chen wir aber auch nicht. Der Wohnungs­bau in der DDR war tatsäch­lich Spitze. Und wer nicht so weit gehen will, der muss doch wenigs­tens zuge­ben: Ganz gut, da hilft — Ideo­lo­gie hin, Ideo­lo­gie her — nichts.
“Wollen wir wirk­lich einfach sagen: Marzahn ist schön?”, frage ich L., während wir die Raoul-Wallen­berg-Straße zur S‑Bahn zu Ende gehen.
“Es ist umso schö­ner, je weni­ger es schlecht gere­det wird.” Und vom Zentrum Berlins ist es — mit der moder­nen S7, mit der wir jetzt heim­fah­ren — bloß 25 Minu­ten entfernt. Das ist es doch fast: hinten der Garten, vorne die Groß­stadt. Ohne Marzahn ist Berlin nicht Berlin. Eine Stadt ist wie sie ist, nicht wie man sie sich zusam­men­bae­de­kert.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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