Herbstnacht in der Kantstraße

Die Kant­straße gehört zu den Orten, die auch nachts nie ganz zur Ruhe kommen. Auch rund um die Leib­niz­straße, wo die Restau­rants längst ihre Türen geschlos­sen und die Leucht­re­kla­men ausge­schal­tet haben, sind in dieser Herbst­nacht um 2 Uhr noch recht viele Menschen unter­wegs.
Freie Taxis sieht man viel, die gelben Fackeln bilden an der Kreu­zung eine kurze Lich­ter­kette, bei Grün vertei­len sie sich aber in alle Rich­tun­gen.

Mir ist tags­über nie aufge­fal­len, wie breit die Kant­straße ist. In den 1980er Jahren wurden die Bürger­steige verengt, damit die Autos mehr Platz haben. Jetzt, wo die Straße rela­tiv leer ist, wirkt sie ziem­lich über­di­men­sio­niert.
Auch in der Nacht ist sie nicht wirk­lich dunkel. Viele Geschäfte haben ihre Fens­ter­be­leuch­tung an,  manche auch die Reklame darüber. Und obwohl es mitten in der Woche ist, sind noch so manche Wohnungs­fens­ter beleuch­tet. Erstaun­lich viele geben einen Einblick frei auf Lampen, Schränke, Bilder, den Stuck an der Decke.

Auch “by Ali” brennt noch Licht. Der Döner-Imbiss gibt auf dem großen Schild vor, ein Bistro zu sein. Trotz des kühlen Wetters sitzen einige Gäste drau­ßen, arabi­sche und türki­sche Sprach­fet­zen wehen bis auf die andere Stra­ßen­seite. Eine alte Frau läuft lang­sam vorbei, “Ruhe!” schreit sie in die Nacht. Die Männer an den Tischen lachen und laden sie ein, aber sie ist nicht bestech­lich, gemäch­lich schlurft sie weiter. Als sie schon um die Ecke ist, höre ich noch­mal ihr Geschrei.

Weit entfernt, am östli­chen Ende der Straße, leuch­ten weit oben die hori­zon­ta­len Neon­lich­ter des Waldorf Asto­ria. Es ist ein Symbol für den “neuen Westen”, der nach Jahren der Stagna­tion wieder mal einen Anlauf nimmt, schick zu werden. Dieses Flagg­schiff des Reich­tums bekommt derzeit einen Bruder, gleich auf der ande­ren Stra­ßen­seite.
Von dort vorn sieht man jetzt ein helles, flackern­des Blau­licht in meine Rich­tung kommen. Es scheint das einzige in der ganzen Straße zu sein, das sich bewegt. Eine Minute braucht der Poli­zei­wa­gen für die Stre­cke, dann saust er an mir vorbei und biegt in die Krumme Straße ab. Kurz danach noch mal das glei­che Schau­spiel mit einem ande­ren Wagen. Es sind Autos von der Bundes­po­li­zei, viel­leicht gibt es Ärger am Bahn­hof Char­lot­ten­burg. Oder frischen Kaffee.

Ein paar Meter vor mir hält ein weißer Liefer­wa­gen in der zwei­ten Spur. Der Fahrer hat es eilig, mit ein paar Pake­ten in der Hand hastet er zum Zeitungs­la­den, nach zwei Minu­ten ist er wieder weg. Viele solcher Wagen sind um diese Zeit unter­wegs, die Bevöl­ke­rung soll morgens gut infor­miert sein oder ihr Sudoku lösen können.
Sehr leise und hell leuch­tend schwebt der Nacht­bus durch die Kant­straße. Nur drei Fahr­gäste sitzen in dem langen Schlenki. Wenn er in Staa­ken ange­kom­men ist, sind sie sicher längst ausge­stie­gen.

Ein Taxi­kol­lege hält neben mir:
“Kennst du das Lokal Abra­xas, das soll hier irgendwo sein?”
“Ja, das kenne ich. Aber es hat schon seit ein paar Jahren zu.”
Sein Fahr­gast schaut verwun­dert. Was er zum Kolle­gen sagt, verstehe ich nicht, aber ihre Fahrt geht weiter.
In der Nacht hat die Kant­straße eine ruhige, fast fami­liäre Atmo­sphäre. Schon in weni­gen Stun­den wird die wieder vorbei sein.

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2 Kommentare

  1. Für diese schö­nen, klei­nen Stim­mungs­schil­de­run­gen ist ein Blog das ideale Medium. Eine Art schrift­li­cher Kurz­film, jeden­falls erin­nerte ich mich wieder an Rutt­manns “Sinfo­nie…”.

    In der Kant entdeckte ich übri­gens 1990 die Beson­der­heit der Berli­ner Haus­nu­me­rie­rung, mit dem Risiko sich die Füsse platt­zu­lau­fen, wenn man nicht noch die nächste Quer­strasse zum gesuch­ten Anwe­sen kennt :-)

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