Beruhigende Zurufe

Günter de Bruyn hat Biblio­the­kar gelernt. “Vier­zig Jahre” heißt das Buch, in dem er sein Leben in der DDR beschreibt. Als Berufs­le­ben fing es in Köpe­nick an. “Schon wieder schi­cken sie mir einen Partei­lo­sen, der auch noch in ameri­ka­ni­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft war”, rief der Alt-Genosse, der sein Chef wurde.
“Die Kleinst­bi­blio­thek, die ich ins Leben zu rufen hatte, sollte im bevöl­ke­rungs­reichs­ten und häss­lichs­ten Teil des Bezirks, in Ober­schö­ne­weide, statio­niert werden, in einer paral­lel zur Spree verlau­fen lauten Straße, die nicht nur von Autos und Stra­ßen­bah­nen, sondern auch von Güter­zü­gen befah­ren wurde.” Das ist die Wilhel­mi­nen­hof­straße, denn Wilhel­mine hieß die Frau des Ober­fi­nanz­rats, dem das Gut Quap­pen­krug gehörte, das er später nach der Gattin nannte.

Diese Zeit gehört gar nicht mehr hier­her. Sie ist unter den Bauten begra­ben, die auf der Spree-Seite der Straße “Walt­her Rathen­aus AEG gebaut hat”. Unter­des­sen sind die drei roten Buch­sta­ben am Giebel der Werks­halle zur Edison­straße ein Erin­ne­rungs­zei­chen an etwas, das es nicht mehr gibt. Eines der ersten Sinn­ge­bilde, das meine Toch­ter, die jetzt eine freund­li­che soziale Person ist, wört­lich hervor­brachte: “Auf Erfah­rung gut”: AEG.
AEG: Allge­meine Elek­tri­zi­täts­ge­sell­schaft, damals war sie unge­fähr 85 Jahre alt. Nun ist diese Welt­firma, die mehr als nur deut­sche Geschichte gemacht hat, bei ihrem letz­ten Beischlaf in den Armen von Merce­des gestor­ben: AEG — Aus — Ende — Geschlos­sen.

Aber Relikte sind noch da, die Hallen stehen, die Namen tönen nach: ein Unter­neh­men mit gewis­sen Eigen­schaf­ten. Als de Bruyn damals die Anwei­sung erhielt: Weg mit allen reak­tio­nä­ren, deka­den­ten, preu­ßi­schen Werken, da flog auch “Der Mann ohne Eigen­schaf­ten” aus der Volks­bi­blio­thek und B riss ihn sich unter den Nagel, er wusste ihn “damals zwar noch nicht zu schät­zen, aber ein Freund verlangte drin­gend danach”.
Der Mann, den Robert Musil im Mittel­punkt dieses Romans wich­tig agie­ren lässt und mit dem sich viel­leicht eine Paral­lel­ak­tion zur ganzen euro­päi­schen Geschichte orga­ni­sie­ren ließe, heißt in dem Roman zwar anders, aber es ist Walt­her Rathenau. Dieser Roman hätte also gerade hier­her gehört.

Ober­schö­ne­weide ist Rathenau-Gegend. Die Rathen­au­straße, durch die ich nach­her meinen Rück­weg nehmen werde, nennt sich frei­lich nicht nach Walt­her Rathenau, dem glän­zen­den Sohn, sondern nach Emil Rathenau, dem ener­gi­schen Vater; er machte aus der AEG so schnell ein Welt­un­ter­neh­men, dass die Erzie­hung der Kinder nicht zu dieser einma­li­gen Mischung vergeis­tig­ter Prak­ti­zi­tät hätte führen können, die hernach den Sohn so roman­haft hervor­hob, wenn die Mutter nicht gewe­sen wäre, eine große, schöne, stolze Frau, die in der Belle­vue­straße wohnte, in einer Villa, in der sie immer einsa­mer wurde, nach­dem der Sohn sie eines Abends verließ und tags darauf nicht wieder­kehrte.
Walter Rathenau, Reichs­au­ßen­mi­nis­ter, von Rechts­ra­di­ka­len ermor­det am 24. Juni 1922. Die Mutter hieß Mathilde, gebo­rene Nach­mann; nach ihr heißt seit 1900 die Mathil­den­straße, Irmhild­straße hatten die Nazis die Rathen­au­straße genannt.

Mir gehen die Gedan­ken ziem­lich heftig durch den Kopf, als ich von der Edison­straße, deren Name hier genau­es­tens passt, denn mit Edisons Paten­ten machte Rathenau sein erstes mäch­ti­ges Geld, in die Grie­chi­sche Allee einbiege.
Es ist nicht rich­tig (denke ich), die in den hohen Regio­nen spie­lende Rathenau­sche Fami­li­en­ge­schichte über dieses Gebiet zu legen, wo dieje­ni­gen wohn­ten, um die sich die alte AEG auch nicht viel sozia­ler kümmerte als alle ande­ren Groß­ka­pi­tal-Unter­neh­men.
Einen Werks­woh­nungs­bau fand die AEG kaum nötig. Ihr Chef­bau­meis­ter Peter Behrens zeich­nete zwar Arbei­ter­woh­nun­gen, die entfernt ein biss­chen nach Stalin­al­lee ausse­hen, aber er baute nur die Sied­lung an der Trini­us­straße.
Die Trini­us­straße bildet mit der Fonta­ne­straße ein Drei­eck, das aus der Schil­ler­pro­me­nade aufsteigt wie der Sekt­kelch aus dem Stiel und sich zur Wuhl­heide öffnet. Die kreu­zende Grie­chi­sche Allee führt mich zur Chris­tus­kir­che inmit­ten der Firl­straße. Sie ist im ersten Jahr­zehnt des Jahr­hun­derts erbaut, da ging es hier auch rich­tig los mit den Indus­trie­bau­ten; die Anto­ni­us­kir­che, ein biss­chen weiter vorn, war ein Jahr früher fertig. Das ist Berli­ner Stil: Wo die Fabri­ken hinkom­men, wo die Arbei­ter wohnen, da musste auch die Kirche, die katho­li­sche und die evan­ge­li­sche, zuge­gen sein: Beru­hi­gungs-Funda­men­ta­lis­mus.
Die Anto­ni­us­kir­che sieht zugäng­li­cher aus als die Chris­tus­kir­che, Horst Bitner — “Glocken, Turm­uh­ren, Läute­ma­schi­nen” — oder eine Mann von ihm arbei­tet gerade in ihr; “wurde auch zu DDR-Zeiten schon für Tonauf­nah­men genutzt”, sagt er.

Von hier ist es nun nicht mehr weit zur Wuhl­heide. Ich laufe hinauf bis zum Eich­ge­stell, dem schö­nen Weg weit durch den Wald, und biege herum in den Wald­fried­hof.
Die erste Biogra­phie über Walt­her Rathenau, von den Grafen Harry Keßler, der in diesem Buch mit viel mehr Sympa­thie über Rathenau spricht als in seinen Tage­bü­chern, schließt mit einem Bild in schö­nem Braun­ton. Es zeigt en Stück des Rathenau­schen Erbbe­gräb­nis­ses auf diesem Fried­hof hier, das Mittel­stück der Südmauer, denn das Grab­mal ist mit drei Stein­qua­dern drei Meter hoch ummau­ert.
Die Giebel­platte, die bei Keßler und über­haupt sehr oft abge­bil­det wird, ist nur ein Teil des Ganzen. Alfred Messel, der bedeu­tende Archi­tekt mit sozia­len Verdiens­ten, hat es gebaut. 1904 war es fertig. Jahr­zehnte ohne Namens-Inschrif­ten.
Heute sind einge­mei­ßelt in der Reihen­folge ihres Hingan­ges Namen und Lebens­da­ten: Erich Rathenau, des Vaters Lieb­lings­sohn, Emil, der Mäch­tige, Walt­her, der welt­um­span­nend Unglück­li­che, Mathilde, die der Mutter des Mörders verzieh: “In namen­lo­sem Schmerz reiche ich Ihnen, Sie ärmste aller Frauen, die Hand”.
Dann folgt noch eine Bron­ze­platte, die Walt­her Rathen­aus Daten anführt und dass er Außen­mi­nis­ter war und ermor­det. Was fehlte?

In den Stamm der Blut­bu­che, die aus dem Geviert hervor­wächst (oder ist es ein ande­rer Baum), hat ein M.J. das Datum des 1.9.1989 einge­ritzt und hinzu­ge­schrie­ben “1. Tag”, am 29.3.1996 hat er ein Herz einge­schnit­ten, zu seinen Initia­lien ein Plus­zei­chen und “A.R.”.
Warum glaube ich, dass M.J. ein Mann und A.E. eine Frau ist? Als ich merke, dass ich mir das über­lege, fühle ich auch, wie ich aufsteige aus Vergan­gen­heits­ge­dan­ken, die ich auf diesem Spazier­gang nicht bewäl­ti­gen kann.
Von Rathen­aus Grab sieht man das Hoch­haus, das die Wohn­an­lage an der Rathen­au­straße abschließt. Dort können Mieter also auf den Balkon treten und herun­ter­se­hen zum Namens­ge­ber der Straße und seinen Sohn, der in der Chaus­see­straße gebo­ren war, der aber nicht nur als Leiche auch hier­her gehörte.
Die Trau­er­feier seiner­zeit im Reichs­tag begann in hefti­gem poli­ti­schen Hin und Her. Große Unruhe und stür­mi­sche Zurufe auf der äußers­ten Linken, verzeich­net das Proto­koll. Beru­hi­gende Zurufe von den Sozi­al­de­mo­kra­ten. Gegen­rufe auf der äußers­ten Linken: Ihr seid erbärm­li­che Wichte. Dann rief der Reichs­kanz­ler: Der Feind steht rechts.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Frido­lin freu­den­fett / CC BY-SA 4.0

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