Um das Gedenken

Mein vori­ger Köpe­ni­cker Spazier­gang führte mich durch Stel­ling­damm, Schmaus‑, Jani­tz­ky­straße und über den Essen­platz. Durch eine Gegend also, die nach deut­schen Mord­op­fern genannt ist, zuvor war sie nach deut­schen Mördern genannt. Darüber habe ich im vori­gen Kapi­tel ein paar Sätze geschrie­ben, die manchen miss­fie­len. Das beschäf­tigt mich. Wir müssen die Täter verant­wor­ten, ohne sie gegen die Opfer aufrech­nen zu dürfen, habe ich geschrie­ben. Niemand hat mir geant­wor­tet: “Da haben Sie ganz recht, auch die Täter der ‘Köpe­ni­cker Blut­wo­che’ waren Deut­sche, sozial und sozio­lo­gisch gar nicht so sehr unter­schie­den von uns und ihren Opfern, das gerade ist das Problem.” Aber mehrere haben geschrie­ben: Uner­hört, empö­rend. Sie setzen die Täter mit den Opfern gleich. Und einige haben mir empfoh­len, die “Gedenk­stätte Köpe­ni­cker Blut­wo­che” in der Puch­an­straße zu besu­chen. Gestern bin ich wieder hinge­gan­gen, um zu über­prü­fen, ob ich früher viel­leicht etwas über­se­hen habe.

Es ist halb drei; die U‑Bahn voll bis unters Dach. In der dicken, multi­kul­tu­rel­len Luft beginne ich über die Geschichte nach­zu­den­ken, der ich entge­gen fahre und die in Wirk­lich­keit über­all ist, auch nirgends. Die Gegen­wart ist dicht und gegen­ständ­lich, die Vergan­gen­heit leer und luftig.
“Ein oder zwei Leute”, sagt der Kastel­lan, kommen täglich in die Gedenk­stätte, “jetzt während der Ausstel­lung über die Kinder­land­ver­schi­ckung sind’s mehr, das haben sie selbst erlebt, das inter­es­siert sie.”

Von der U‑Bahn war ich in die S‑Bahn umge­stie­gen. Auch die S‑Bahn war voll. Ein Bevöl­ke­rungs­quer­schnitt ist auf der Tages­rück­reise; die Mehr­heit; Millio­näre fehlen. Sena­to­ren sind nicht zu sehen, auch die Volks­ver­tre­ter sind unter­re­prä­sen­tiert, aber das Volk ist da. Wech­selt seine Stand­orte. Schla­fend, dösend, mit gesenk­tem Kopf, auch solche mit verstopf­ten Ohren, walk-man-music, aus Fernen, aus Weiten; viele beim Vorgang der Meinungs­app­er­zep­tion: mehrere aus Berli­ner Zeitung, Morgen­post; die Blät­ter wurden auf der Warschauer Brücke kosten­los verteilt. In Köpe­nick stei­gen die meis­ten aus, wir sind in einer Stadt ange­kom­men; Köpe­nick ist wie Span­dau: In Berlin und für sich. “Will­kom­men” ruft das baldige Forum auf einem Trans­pa­rent. Eine aufge­regt, doch plan­voll zu Ende gehende Baustelle, die sich weit auf die Straße erstreckt, die Fußgän­ger hinter Draht­git­ter verweist, von wo sie demnächst hervor­drän­gen werden, die hung­ri­gen Löwen des Konsums. Ich schlage mich nach links in die Borg­mann­straße; über die von Karstadt nicht besetzte Fläche blicke ich auf das Forum hinüber, auf seine über die Passage gewölbte Glas­kup­pel, die auch zu einem Haupt­bahn­hof gehö­ren könnte; die S‑Bahn, male ich mir aus, müsste direkt hinein­fah­ren in das Kauf­erleb­nis, der Bahn­hof müsste im Forum verschwin­den, wo ja auch unsere Öffent­lich­keits­be­dürf­nisse verschwin­den; Forum hieß früher Markt­platz, jetzt: Waren­haus, über­dach­tes und über­de­ckel­tes Konsum­le­ben, Aufforderungs‑, Ange­bots- und Liefer­welt unter eige­nem Himmel. Das “Licht­spiel­haus” in der Parri­si­us­straße heißt eben­falls “Forum”; abriss­be­droht, ein ironi­sches Memento für den erste­hen­den Einkaufs-Dom. Es ist der 24. Juni 1945, 10 Uhr vormit­tags, Licht­spiel­haus Forum. “Gedenk­feier zu Ehren der ermor­de­ten Köpe­ni­cker Anti­fa­schis­ten”, zu “Aases Tod” von Grieg werden die Ange­hö­ri­gen der Opfer zu ihren Plät­zen gelei­tet, Pastor Buch­holz, Ludwig van Beet­ho­ven, Bürger­meis­ter Kleine, Rêve angé­li­que, engli­scher Traum, Herr Oken diri­giert. Von da ist es nur ein klei­nes Stück Weges, am Amts­ge­richt vorbei, das erwei­tert wird, an den Bauzäu­nen entlang, ein Hup- oder Klin­gel­zei­chen, das jeden Eintritt anzeigt, der Kastel­lan kommt hervor, prüft mich, ich bin will­kom­men, 16 Uhr, noch eine halbe Stunde geöff­net, lassen Sie sich ruhig Zeit, die Zellen sind oben, dort am Wasch­be­cken vorbei, Zelle 1: “authen­ti­sche Zellen­si­tua­tion”, ich war 20 Jahre lang Rich­ter, ich kenne verschie­dene Zellen­si­tua­tio­nen, alle Menschen­kä­fige sind furcht­bar, gegen­über den Schul­di­gen sind sie nichts Huma­ne­res als gegen­über den Unschul­di­gen. Ich bin an einem trau­ri­gen Ort. Trau­rig wegen dessen, was er erzählt; empö­rend, das stimmt, aber die Mehr­heit hat sich nicht empört, empört sich nie, sondern sieht, dass sie durch­kommt, erkennt ihr eige­nes Inter­esse erst, wenn’s was auf die eigene Nase gibt. Während ich oben die Zellen besich­tige, geht der Kutos unten den bespie­gel­ten Gang entlang und passt auf. Das Gericht gegen­über ist immer noch kein Ort der Gerech­tig­keit, sondern ledig­lich ein Ort manch­ma­li­ger Gerech­tig­keit, durch­schnitt­lich: ein Ort mühsa­mer Büro­kra­tie. Aber während ich aus dem hohen Zellen­fens­ter hinaus- und mit solchen Gedan­ken hinüber­bli­cke, fällt mir ein, dass dies das Gericht ist, an dem Rudolf Mandrella gear­bei­tet hat, ein Amts­rich­ter, christ­lich, katho­lisch, voller Vertrauen in Gott und Miss­trauen in Hitler. Das hat er mit dem Leben bezahlt. Die meis­ten seiner Kolle­gen waren für Hitler, dien­ten ihm jeden­falls. Die Justiz dient meis­tens der Macht. Die Macht ist klar, die Gerech­tig­keit ist dunkel. Weiter durch die Zellen, Muse­ums­päd­ago­gen haben lange Texte an die Wände gehängt, aus Büchern läse man sie besser als von Wänden. Die Geschichte, aus der zu lernen ist, ist keine Gedenk­stätte. Das Lernen beginnt mit dem Verste­hen, nicht mit dem Geden­ken. Am humans­ten, denke ich plötz­lich (und gewiss werde ich mich für diesen Gedan­ken entschul­di­gen müssen), war dieser Ort genutzt, als das DDR-Fern­se­hen hier einen Kostüm­fun­dus hatte. Jetzt ist es ein Ort ghet­toi­sier­ter Erin­ne­rung. Ich bin dafür, dass diese Gedenk­stätte als nutz­los geschlos­sen wird; dafür drau­ßen Tafeln: Die und die jungen Männer erschos­sen, erschlu­gen, verwun­de­ten hier zu Tode die und die jungen Männer, auch ältere, weil die einen sich braun, die ande­ren sich rot nann­ten, die einen hatten Recht, die ande­ren hatten Unrecht; Menschen zu töten, zu schla­gen, zu quälen, auszu­wei­sen, abzu­schie­ben ist Unrecht, unab­hän­gig davon, wer Recht oder Unrecht hat.
Ach, nein, das ist auch miss­ver­ständ­lich. Mora­li­schen Fort­schritt gibt es nicht, die Menschen werden immer wieder rück­fäl­lig, der Mensch ist miss­lun­gen, Gott hat gepfuscht… Der mutige Amts­rich­ter Mandrella hat da ein ganz ande­res Zeug­nis abge­legt. Er hat geglaubt, dass es Leben und Liebe jenseits des Fall­beils gibt. Ich glaube: mein Tod wird das Ende sein von allem, was ich ist. Die eine Über­zeu­gung ist so rich­tig wie die andere. Es kommt nicht darauf an, womit wir uns helfen, wenn es nur hilft.

Das reno­vier­teste Haus an der Ecke Bahn­hof­straße ist die blau-weiße Deut­sche Bank, Das Ristor­ante an der ande­ren Ecke ist geschlos­sen. Viele Läden in der Bahn­hof­straße sind aufge­ge­ben. Das Forum wirft seine Schat­ten voraus. Die Riesen­las­ter, die den Schutt abfah­ren, und die ande­ren, die bereits Waren brin­gen, werden von panzer­be­käp­pi­ten Wach­män­nern herein- und heraus­be­glei­tet, ein dicker Älte­rer regt sich so auf, dass ich schon höre, wie er heut Abend seiner Frau erzählt: “Mensch, das war ein Tag, sag’ ich dir…”
“Mensch, Alter”, ruft ein Junger, der mit seinem Auto zurück­ge­hal­ten wird, “manch­mal mussde ooch­mal ein norma­len Bürger durch­las­sen.” Der 169er setzt sich durch. Eine junge blonde Frau sagt zu ihrem Typen: “Mensch, hier ist’s ja wie im Osten!” Ein Ange­trun­ke­ner stößt mich an, die “Doku­men­ta­tion über die Gedenk­stätte Blut­wo­che”, die sich auch einen Ausstel­lungs­ka­ta­log nennt, fällt in den Dreck; entschul­di­gend fragt mich der Schwan­kende: “Was hasde denn da?”, ich zeige ihm das Heft, er macht eine herab­set­zende Bewe­gung mit der linken Hand und schlurft um die Ecke. Wir sind in Deutsch­land, wo man die Vergan­gen­heit “Wie der Gläu­bige das heiße Eisen beim Gottes­ur­teil beherzt in die Hand nimmt, um sie mit einem Aufschrei (aber ich bin doch unschul­dig!) fallen zu lassen, wenn sie brennt.”

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Heinzi / CC BY-SA 3.0

print

Zufallstreffer

Berlin

Elektrodisco statt Techno

Die Love Parade ist Geschichte. Nach mehr­jäh­ri­ger Pause folgte 2006 zwar ein Come­back — dies wird aber ein einma­li­ges letz­tes Aufbäu­men gewe­sen sein. Jetzt wurde die Love Parade für diesen Sommer offi­zi­ell abge­sagt, die Veran­stal­ter […]

Orte

Platz des 4. Juli

Es gibt in Berlin Orte, die sich über mehrere System­än­de­run­gen nicht verän­dert haben. Zu diesen gehört der 10 mal so lange wie breite Platz des 4. Juli. Knapp 500 Meter lang liegt er mitten in Lich­ter­felde, […]

Berlin

Betrug bei Uber, Bolt und Freenow

Seit eini­gen Jahren sind in Berlin angeb­li­che Alter­na­ti­ven zu den konven­tio­nel­len Taxis unter­wegs. Uber, Bolt und Free­now haben den Ruf, Fahr­gäste güns­ti­ger zu trans­por­tie­ren, als Taxis das tun. Doch dies ist ein Trug­schluss, der sogar […]

Schreibe den ersten Kommentar

Hier kannst Du kommentieren

Deine Mailadresse ist nicht offen sichtbar.


*