Porta Westfalica

305 km. Wilhelm der Große

Bei Minden frisst sich seit der Eiszeit die Weser durch ein Gebirge. Später kamen eine Eisen­bahn­li­nie und zwei Bundes­stra­ßen hinzu. Die Auto­bahn passte nicht mehr hinzu und klet­tert weiter west­lich über das Gebirge, aber auch von ihr hat man eine gute Aussicht. Auf halber Höhe sieht man an der linken Flanke ein Aussichts­tem­pel­chen stehen. Jeder ruft: „Das ist die Porta West­fa­lica.“ Und fast jeder glaubt, dass dieses Tempel­chen so heißt. Das ist Unsinn. Seit­dem sich die Römer von den Germa­nen in die Flucht schla­gen ließen, nann­ten sie den Durch­bruch des Flus­ses durchs Gebirge Porta West­fa­lica. Das Aussichts­tem­pel­chen ist nur eine Verzie­rung.

Wenn man sich die Mühe macht, es zu besu­chen, merkt man, dass es riesig ist. Übri­gens ist man meis­tens dort allein, denn fast niemand macht sich die Mühe.

Kaiser Wilhelm der Letzte, der in Doorn die Dynas­tie der preu­ßi­schen Könige been­dete, hatte hier, als er noch jung und gerade Kaiser war, seinem Groß­va­ter Wilhelm dem Ersten, dem, der in Versailles Kaiser wurde und in Char­lot­ten­burg bei seiner Mutter Luise ruht, ein Denk­mal gesetzt. Er wollte ihn aufbauen zu „Wilhelm dem Großen“, und das steht auch auf dem Tempel. Drin­nen steht ein riesi­ges Stand­bild dieses Groß­va­ters, den ansons­ten kein Mensch, auch kein Histo­ri­ker, je „den Großen“ genannt hat.

Es gab aber noch ein Denk­mal für „Wilhelm den Großen“, und zwar vor dem Berli­ner Schloss. Den Sockel gibt es immer noch, das Denk­mal leider nicht. Der Kriti­ker Victor Laver­renz zählte neben dem Kaiser und seinem Pferd: „19 halb­nackte Weiber, 22 dito Männer und 12 dito Kinder. Die eigent­li­che Zoolo­gie aber ist, wie folgt, vertre­ten: 21 Pferde, 2 Ochsen, 8 Schafe, 4 Löwen, 16 Fleder­mäuse, 6 Mäuse, 1 Eich­horn, 10 Tauben, 2 Raben, 2 Adler, 16 Eulen, 1 Eisvo­gel, 32 Eidech­sen, 18 Schlan­gen, 1 Karp­fen, 1 Frosch, 16 Krebse, zusam­men 157 Tiere.“ Die SED ließ dies alles leider abtra­gen und vernich­ten. Nur die vier Löwen flan­kie­ren nun den Eingang zum Raub­tier­haus des Ost-Berli­ner Tier­parks, nicht zu verwech­seln mit dem West-Berli­ner Zoo, den man seiner­seits nicht mit dem Tier­gar­ten verwech­seln darf. Jeweils zwei und zwei ausge­wach­sene männ­li­che Löwen auf der Höhe ihrer Kraft sitzen dort brüder­lich neben­ein­an­der – etwas, das man in ande­ren zoolo­gi­schen Gärten und in der Wild­nis nur ganz, ganz selten sieht. Es fehlt nur noch, dass sie sich gegen­sei­tig lecken.

Während Wilhelm der Große an der Porta West­fa­lica unge­stört herum­steht, hat sich die Bundes­re­pu­blik für den Sockel seines Denk­mals am Berli­ner Schloss etwas Neues ausge­dacht: ein Wieder­ver­ei­ni­gungs­denk­mal, und zwar ein demo­kra­ti­sches.

Dem Volk wurden im Inter­net zehn Entwürfe vorge­legt, und die Mehr­heit entschied sich für den, den ein Archi­tekt zusam­men mit einer Choreo­gra­fin ausge­dacht hat. Archi­tek­ten verste­hen etwas von Statik. Gebäude sollen stehen blei­ben. Choreo­gra­fen verste­hen etwas von Bewe­gung. Bei so einer Zusam­men­ar­beit kommt dann eine riesige Wippe heraus. Wenn mindes­tens fünf­zig Menschen auf einer Seite stehen, soll sie sich neigen. Die Menschen sollen so erfah­ren, wie viel Kraft man hat, wenn man zusam­men was macht. „Wir sind das Volk”, und schon wackelt der Unter­grund.

Tolle Idee! Die Kommis­sion, die die zehn Entwürfe dem Volk vorlegte, war davon begeis­tert, das Volk auch, und nun soll es also gebaut werden.

Und in all den Kommis­sio­nen und unter all den jubeln­den Jour­na­lis­ten war niemand, der sah, dass das nichts werden kann. Wenn es über­haupt gebaut wird, wird es ein paar Wochen später nur noch pein­lich sein.

Meinen Studen­ten hatte ich gerade in einer „Sehschule“, die meinen Kurs einlei­tete, das Hinschauen und kritisch Prüfen beigebracht. Jeden­falls war das meine Hoff­nung. Also zeigte ich ihnen die Entwürfe und las die Erklä­rung vor. Auch sie fanden die Idee gut und konn­ten sich nicht vorstel­len, warum daraus nichts werden solle. Ich musste enorm nach­hel­fen:

„Ist das eigent­lich eine Wippe? Oder erin­nert die Form an etwas ande­res?“

„Ja, es sieht eher aus wie eine Schnitte aus einer Melone.“

„Und wenn so ein Melo­nen­seg­ment auf dem Teller liegt? Wie bewegt es sich dann?“

„O je! Ja, in alle Rich­tun­gen. Es kann sich auch drehen.“

„Aber der Sockel ist recht­eckig.“

„Dann dreht es sich über den Fluss.“

„Will man das?“

„Nein. Also muss es auf Schie­nen oder so etwas gela­gert werden.“

Lang­sam krieg­ten sie es zu packen.

„Ihr habt doch auch alle Physik gehabt. Wie ist es denn mit der Träg­heit?“

Zusam­men­fas­sung: Wenn es erst mal in Bewe­gung gekom­men ist, wird jeder Hund und jedes Kind darun­ter ganz und gar zermatscht, und die Erwach­se­nen, die zur Rettung hinzu­ei­len, gleich mit. Man muss dann die Flecken abkrat­zen wie Kaugum­mis auf dem Bürger­steig. Nach­dem das einmal gesche­hen ist, wird alles mit einem unüber­wind­li­chen Zaun und einem Zugang­stör­chen abge­sperrt werden. Das Volk wippt dann in einem Käfig der Frei­heit entge­gen. Aber der Käfig muss von innen so gestal­tet sein, dass man sich da, wenn man gerade oben ist, nicht fest­klam­mern kann. Und so weiter und so weiter.

Dann ist da noch der Über­gang vom festen Zugang zur beweg­li­chen Wippe mit ihrer großen Träg­heit. Da kann man sich den ganzen Fuß abquet­schen. Da muss also eine Gummikon­struk­tion hin wie in Gelenk­bus­sen.

Das Resul­tat wird unbe­dingt viel plum­per und bedroh­li­cher ausse­hen als dieser Entwurf. Es wird noch ein paar­mal nach­ge­bes­sert werden, wenn etwas passiert, und am Ende legt der TÜV es still. Dann steht da wieder eine Ruine, wie damals die Ruine des Palas­tes der Repu­blik.

So war meine Stunde doch noch gelun­gen. Aber warum kommt ein ganzes demo­kra­ti­sches Volk und eine Jury von Exper­ten da nicht drauf ohne mich? Hat denn keiner mal Melone mit Messer und Gabel geges­sen?

Es ist immer schön, wenn man sich nach­her bestä­tigt fühlt. Mit dem Bau des Denk­mals hat man Jahre später noch nicht begon­nen. Anschei­nend werden wirk­lich alle Ressour­cen für den neuen Flug­ha­fen benö­tigt. Aber unweit vom Pots­da­mer Platz gibt es fünf riesige Wippen neben­ein­an­der in einem ohne­hin miss­lun­ge­nen Park, der nach Tilla Durieux benannt ist. Dahin kommt kein Mensch. Ich fand die Stelle nur, weil eine land­schafts­gärt­ne­risch abge­böschte Unkraut­wiese so kläg­lich aussah – und das ganz nah am Pots­da­mer Platz.

Fünf echte Wippen, keine Melo­nen­seg­mente, also tech­nisch einfach. Auf jeden Hebel jeder Wippe würden mindes­tens zehn Menschen passen. Da könn­ten also hundert Menschen wippen. Auch hier kann man sich mit ein wenig Gefühl für Träg­heit vorstel­len, wie schwer so ein Ding aufzu­hal­ten ist, wenn da mal ein Fuß oder Haus­tier drun­ter gerät. Aber offen­bar ist hier noch kein Unglück gesche­hen, weil der Mecha­nis­mus selbst zu schwach ist. Die Rohre sehen sehr stabil als, aber wenn mehr als zwei Menschen auf jedem Ende sitzen, hält die Halte­rung es nicht mehr aus und muss für 8000 Euro repa­riert werden. Darum hat die Stadt alles still­ge­legt und ordent­lich fest­ge­schraubt. Schon vor Jahren.

Der Archi­tekt jedoch entfloh
nach Afri- od. Ameriko.
(Chris­tian Morgen­stern)

Ich verlange zurück nach dem „Zoo von Wilhelm zwo“ mit seinen 157 Tieren. Wenn die da schon ein ganzes Schloss mit allen Schnör­keln kopie­ren, können sie den Klein­kram doch gleich mit erle­di­gen.

Hätte Groß­va­ter Wilhelm I. denn eigent­lich den Titel „der Große“ verdient? Er hat im Wesent­li­chen zwei große Dinge getan. Erstens hat er Bismarck als Minis­ter­prä­si­dent ange­stellt und ihn danach machen lassen. Zwei­tens hat er so lange gelebt, dass sein Sohn, Kron­prinz Fried­rich, der mit den Zettel­chen, jahr­zehn­te­lang nicht auf den Thron kam und seine ehrgei­zi­gen Reform­pläne nie durch­set­zen konnte. Eigent­lich hat Wilhelm I. also zwei­mal nichts getan, und das jahr­zehn­te­lang durch­ge­hal­ten. Ohne ihn sähe Europa heute anders aus. Der Kron­prinz und seine engli­sche Frau streb­ten nämlich nach einer demo­kra­ti­schen Verfas­sungs­re­form und nach einem freund­schaft­li­chen, auf wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit gebau­ten Verhält­nis Deutsch­lands zu England und Frank­reich. Wenn sie hätten regie­ren können, hätte ihr Sohn Wilhelm II. wohl kaum die Macht bekom­men, die man ihm gab. Viel­leicht wäre es dann gar nicht zu zwei Welt­krie­gen gekom­men.

Aber als Fried­rich III. endlich auf den Thron kam, konnte er vor Kehl­kopf­krebs schon nicht mehr spre­chen, und neun­und­neun­zig Tage später war er tot. In Loui­sen­dorf pflanzte man neun­und­neun­zig Linden um den Rand des quadra­ti­schen Dorf­an­gers. Er hatte noch versucht, mit Zettel­chen zu regie­ren; aber seine Wünsche erreich­ten die Minis­ter nicht; dafür sorgte sein Sohn, der die poli­ti­schen Ansich­ten seiner Eltern unsin­nig fand. Auch er machte alles anders als seine verach­te­ten Eltern und bewun­derte seinen Groß­va­ter, wie es zuvor schon Fried­rich Wilhelm I. getan hatte. Auch damals kam es von der Erzie­hung, die eine pädago­gi­sche Kata­stro­phe war.

Fried­rich Wilhelm I. war aber viel zu geizig, um für seinen Groß­va­ter, den Großen Kurfürs­ten, riesige Tempel­chen in die Land­schaft und 157 Tiere vor das Schloss zu stel­len sowie eine auslän­di­sche Immo­bi­lie voll­zu­stop­fen mit dem Inhalt von neun­und­fünf­zig Güter­wag­gons. Der hatte statt­des­sen einen moder­nen Staat geschaf­fen, der in vielem bis heute weiter­be­steht. Sein Lebens­werk ist unsicht­bar, abge­se­hen von einem mikro­sko­pi­schen Schloss bei Pots­dam, das wir noch besu­chen werden.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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Hanno Wupper ist gestorben

Seinen Namen kannte ich schon seit Jahren. Erst als Kommen­ta­tor auf dieser Website, später als Gast­au­tor. Erst im vergan­ge­nen Jahr habe ich Hanno Wupper persön­lich kennen­ge­lernt, bei einem seiner selte­nen Besu­che in Berlin. Damals empfing […]

2 Kommentare

  1. Heute Nach­mit­tag werde ich wieder an dem Tempel­chen vorbei­fah­ren. Als ich im Sommer mal wieder dort war, frag­ten zwei junge Türken, die einzi­gen Besu­cher: “Wer ist das?” Und: “Was ist ein Kaiser?”

    Inzwi­schen tut sich viel:

    Dieser verges­sene, nahezu verwun­schene Ort mit abrut­schen­der Aussichts­ter­rasse wird gerade umge­baut, in der Hoff­nung, dass es ein Touris­ten­ma­gnet wird.

    Zugleich geht in Berlin die Diskus­sion um die unsäg­li­che Wippe weiter. Ich hatte Herrn Thierse vor einem Jahr die Seiten aus dem Buch zuge­schickt, wo erklärt wird, dass sowas tech­nisch nicht funk­tio­nie­ren kann. Keine Antwort. Und jetzt sollen anschei­nend die Kolon­na­den des “Zoo von Wilhelm zwo” wieder aufge­baut werden.

    Nur die Wippen im Tilla-Durieux-Park sind nach etli­chen Jahren immer noch fest­ge­schraubt und zur Unbe­weg­lich­keit verdammt.

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