Der Weddingplatz

Wedding­platz? Wer kennt denn heute noch den Wedding­platz? Dabei ist er noch immer einer der verkehrs­reichs­ten Orte in dem Stadt­teil, nach dem er benannt ist. Viele sagen aber “Reini­cken­dor­fer Straße”, weil unter dem Platz der gleich­na­mige Bahn­hof liegt. Dabei ist der Name irre­füh­rend, denn die Reini­cken­dor­fer Straße gibt es hier eigent­lich nicht mehr, Sie endet zwar auf dem Platz, doch eine Straße ist sie hier nicht, eher Park­platz für die Anwoh­ner und für die Kunden der umlie­gen­den Geschäfte.
Der U‑Bhf. Reini­cken­dor­fer Straße ist heute nichts beson­de­res mehr, aber das war mal anders: “Letz­ter Bahn­hof in Berlin-West!” riefen bis Ende 1989 die Laut­spre­cher, wenn ein Zug in Rich­tung Süden einfuhr. Die nächste Station lag in Ost-Berlin und wer sich dort nicht blicken lassen konnte, sollte lieber ausstei­gen.
Verges­sen, Geschichte.

Es fällt schwer, den Wedding­platz heute noch als Platz zu bezeich­nen. Er ist eine Durch­gangs­straße, die Müllerstraße beginnt hundert Meter vorher ihren Weg nach Norden. Drei wich­tige Verbin­dungs­stra­ßen führen hier auf die Müllerstraße, eine vom Haupt­bahn­hof kommend, eine aus Moabit und die dritte aus Reini­cken­dorf, sie wurde nach ihrem Ziel benannt.
Die gesamte west­li­che Seite des Wedding­plat­zes wird vom Phar­ma­kon­zern Bayer bestimmt, Jahr­zehnte lang “Sche­ring”. Die Bauten begin­nen schon vor dem Platz, betriebs­in­terne Brücken über­span­nen zwei Stra­ßen und hinter dem Platz geht es immer noch weiter. In der Mitte steht die 15-stöckige, mit silber­nen Blechen verklei­dete Firmen­zen­trale, der vorge­stellte Trep­pen­auf­gang aus Beton ragt wie ein Zeige­fin­ger in den Himmel. Es ist der moderne Chic der 1970er Jahre, schick ist heute aber nur noch das Firmen­logo, das auf der Wasch­be­ton­ver­klei­dung schon vom ersten Tag an schmut­zig aussah. Im Inne­ren des Kolos­ses setzt sich der schlimme Eindruck fort, das Foyer in der ersten Etage erreicht man über eine Roll­treppe, man fühlt sich wie in der Empfangs­halle eines altern­den Kongress­ho­tels.

Zwischen der Müller- und Reini­cken­dor­fer Straße ist hell­braune Wüste, einige Bänke und verlo­ren wirkende Bäume täuschen eine Grün­an­lage vor. Doch außer zwei Alko­ho­li­kern, die ihre Dosen ordent­lich in den neben­ste­hen­den Abfall­korb werfen, ist nur meine Bank besetzt, irgendwo muss ich diesen Text ja schrei­ben. Der Platz ist extrem unge­müt­lich. Von den Bänken schaut zwangs­läu­fig auf die schmut­zige Sand­flä­che und den lauten Durch­gangs­ver­kehr der Müllerstraße. Eine Unter­hal­tung ist hier kaum möglich. Von hinten bekommt man zudem die Auspuff­gase der einpar­ken­den Autos in den Rücken gebla­sen, die Stell­plätze sind teil­weise nur drei Meter von den Bänken entfernt. Das hält man nicht mal im Suff aus, auch die beiden Trin­ker verschwin­den wieder.

Dabei war der Wedding­platz mal ein rich­ti­ges Schmuck­stück, bevor der Krieg ihn zerstörte. Domi­nie­rend stand die Dankes-Kirche von August Orth auf der nörd­li­chen Hälfte, sie teilte die aus der Innen­stadt kommende Chaus­see­straße in zwei große Stra­ßen. Die Müllerstraße führte weiter Rich­tung Tegel, die andere nach Reini­cken­dorf, dazwi­schen lag ein Ort, an dem sich Passan­ten erho­len konn­ten. Born­emanns Ersatz­kir­che aus Beton, die seit 1972 an dieser Stelle steht, versteckt sich hinter Büschen und Bäumen, dem einzi­gen nennen­wer­ten Grün­zug am Platz, wie eine Burg. So unschein­bar steht sie da, ein Erdwall noch davor, der einst weiße Putz verdreckt, grenzt sich die Kirche nach allen Seiten ab, als wolle sie mit ihrer Umge­bung nichts zu tun haben. Um sie zu betre­ten muss man erst­mal in ihren Hof mit seinem unschein­ba­ren Zugang. Sie ist das ganze Gegen­teil des einst hier stehen­den Kirchen­baus. Wenig einla­dend, leider.

Dahin­ter, an der Ecke zur Müllerstraße, steht noch ein einzi­ges Zeug­nis der ehema­li­gen Bebau­ung an der Ecke eine kleine Kuppel. Man erkennt noch, dass dies keine Miets­ka­serne war, die stan­den in den umlie­gen­den Stra­ßen. Der Wedding­platz war etwas Besse­res, viel­leicht ein biss­chen die gute Stube der Gegend, die ansons­ten nicht viel Schö­nes vorzu­wei­sen hatte. Und hat, denn das ist geblie­ben: Hier wohnt man, hier arbei­tet man viel­leicht, aber vor allem fährt man hier durch. Oben mit einem der zahl­rei­chen Autos oder der weni­gen Fahr­rä­der (die wenigs­tens und nur hier am Platz einen eige­nen Radweg haben), unten in der U‑Bahn oder hundert Meter weiter in der S‑Bahn.

Heute gehört der Wedding­platz zum Bezirk Mitte, und der steckt sein Geld lieber in die Touris­ten­ma­gnete wie Muse­ums­in­sel, Gendar­men­markt und Unter den Linden, weni­ger in die Wohn­vier­tel. Wenn auch die Bausün­den nicht mehr rück­gän­gig gemacht werden können, könnte der Platz mit etwas gutem Willen wieder ein biss­chen lebens­wer­ter gestal­tet werden. Aber das das dauert sicher noch ewig.

Foto­mon­tage: www.gruss-aus-berlin.com

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