Paul ist tot

Vor ein paar Stun­den erhielt ich hier einen Kommen­tar aus Öster­reich. „Du kennst mich nicht, aber ich dich ein biss­chen.“ Der da geschrie­ben hat, über­brachte mir eine Nach­richt, die mich merk­wür­di­ger­weise sehr trau­rig machte: Paul ist gestor­ben. Er schrieb nicht, wie er starb, bei einem Unfall, krank im Bett oder helden­haft im Kampf. Denn so wollte er ster­ben, das hatte er mir mal gesagt.

Paul und ich hatten uns in Rom kennen­ge­lernt. Ich war 18 oder 19, er ein Jahr jünger. Seine langen blon­den Haare, sein wunder­schö­nes Lächeln, sein aben­teu­er­li­ches Äuße­res zogen mich total an. Er war zu Gast in der Jugend­her­berge, in der ich damals jobbte. Wir lern­ten uns kennen, verlieb­ten uns sofort inein­an­der, und dann zogen wir gemein­sam los. Tramp­ten nach Napoli, dann hoch nach Turin, schließ­lich nach Jugo­sla­wien, dort wo es heute Kroa­tien heißt. Am Strand der Adria erwisch­ten uns die Hüter der sozia­lis­ti­schen Ordnung nackt beim Sex, noch in der selben Nacht wurden wir aus dem Land gewor­fen.

Wir fuhren weiter nach Wien, dort wo er lebte. Er führte mich in sein Leben ein. Sein Vater saß im Knast, er hatte in Öster­reich und Italien mit einer linken Gruppe Anschläge und Bank­über­fälle gemacht. Er war sehr stolz auf ihn.

Paul war Anar­chist, er erzählte von den Diskus­sio­nen mit seinem Vater, der als Kommu­nist den Anar­chis­mus ablehnte. Ganze Tage und Nächte disku­tier­ten wir durch, nach Mitter­nacht zogen wir durch Wien und hinter­lie­ßen an den Wänden unsere Zeichen. Tags­über auch im Stephans­dom, zusam­men mit der Parole „Gott ist tot“. Der Pfar­rer erteilte uns beiden Haus­ver­bot, das war für uns eine Auszeich­nung! Paul sagte mir, dass er irgend­wann im Kampf um die Frei­heit ster­ben wolle. So pathe­tisch, dass wir uns beide gekrin­gelt haben vor Lachen.

Viel­leicht zwei Monate waren wir zusam­men, immer Action, Gesprä­che, Sex und Musik in der Arena oder im Park. Es waren schöne Wochen, es war eine tolle Freund­schaft. Aber dann kam die andere Seite raus, die er die ganze Zeit über erfolg­reich verdrängt und versteckt hatte. Die Spritze im Arm schockte mich. Schon vorher hatte ich einen Freund ans Heroin verlo­ren, nie wieder wollte ich mit diesem Zeug zu tun haben. Oder zu eng mit Leuten, die das konsu­mier­ten.

Es war ein harter Bruch, aber er akzep­tierte ihn. Doch bis heute weiß ich nicht, ob er rich­tig war. Ich habe danach wochen­lang geheult, aber der Horror und der Selbst­schutz waren stär­ker. Wir trafen uns nie wieder, blie­ben aber noch eine Weile über Briefe in Kontakt. Irgend­wann kamen sie mit dem Hinweis „Unbe­kannt verzo­gen“ zurück. Es war vorbei. Dachte ich jeden­falls. Ich wusste nicht, dass er mich weiter im Blick hatte.

Im Kommen­tar steht, dass er mein Weblog Berlin Street seit 20 Jahren verfolgt hat. Dass er hier oft mitge­le­sen hat und stolz war, mich gekannt zu haben. Nur gemel­det hat er sich nie mehr.

Auch ich hatte immer wieder an ihn gedacht, auch mal über die heute übli­chen Kanäle nach ihm Ausschau gehal­ten, aber erfolg­los. Viel­leicht hätte ich mal über ihn schrei­ben sollen, viel­leicht hätte er sich dann gemel­det. Viel­leicht, viel­leicht, hätte, hätte. Alles Mist. Jetzt bin ich trau­rig und vermisse ihn mehr, als die vielen Jahre zuvor. Aber nun ist es zu spät.

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