Als Klaus Wowereit in den Nullerjahren der Regierende Bürgermeister von Berlin war, begann die Planung für das größte Neubauprojekt seit der Wiedervereinigung. Damals konnte sich noch kaum jemand richtig vorstellen, was es bedeutet, ein komplett neues Stadtviertel zu errichten. Schon am Anfang gab es Warnungen vor der Gigantonomie, vor eintönigen Fassaden sowie vor einem Reichen- und Büro-Ghetto, das nach Feierabend verwaist sein wird.
Die Bedenken waren teilweise begründet. Wowereit versuchte sie damals mit der Behauptung zu zerstreuen, die Heidestraße als zentrale Durchquerung der Europacity, würde „die schönste Straße Berlins“ werden. Es war eine Lüge.
Die Wohnblocks, die vor allem zwischen Heidestraße und dem Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal hochgezogen wurden, sind für Normalverdiener nicht bezahlbar. Was anderes war auch nicht zu erwarten. Gigantisch ist auch das Ausmaß des westlich von der Heidestraße gebauten Bürohauses von mehr als einem halben Kilometer Länge, das sich an den Gleisen zum Hauptbahnhof entlang zieht. Hier wurde das Vorurteil der langweiligen Architektur leider bestätigt.
Etwas anders sieht es bei den Wohngebäuden aus, die Betonung liegt jedoch auf „etwas“. Das Schema „quadratisch – praktisch – gut“ zieht sich auch hier durch fast alle Blöcke. Wenigstens das langgezogene Wohnhaus am nördlichen Otto-Weidt-Platz ist eine Ausnahme. Durch seine großen Balkons zum Platz öffnet es den Blick zum Gebäude, anstatt ihn abzuwehren.
Die Europacity geht aber über die Heidestraße hinaus und bietet rund um den Hauptbahnhof noch ein paar interessante architektonische Highlights. An erster Stelle ist das „Cube“ zu nennen, das 2020 auf dem Washingtonplatz fertiggestellt wurde. Rundum verglast, die Scheiben in allen möglichen Stellungen angeordnet, nur nicht senkrecht, ist es ein Hingucker. Erst wenn man es sich etwas länger betrachtet bemerkt man, dass es eine zweite Fassade mit Balkons gibt, die sich hinter dem Glas versteckt.
Auch das Verwaltungshochhaus der Firma 50Hertz hebt sich angenehm von der Schießscharten-Architektur ab, die leider auch an der Heidestraße noch immer angewandt wird.
Die Europacity war der feuchte Traum der Immobilien-Investoren. Bis in die 1990er Jahre zog sich westlich der Heidestraße der Hamburger-Lehrter Containerbahnhof entlang, gegenüber standen vor allem Lagerhallen und andere Gewerbegebäude. Was die Investoren heute arrogant als Brachland bezeichnen, war historisch ein wichtiger Ort für den Handel und Transport innerhalb der Stadt und nach außerhalb. Da nützt es auch nichts, wenn sie heute vom „neuen Kiez“ Heidestraße sprechen. Das ist Quatsch, denn Kieze entstehen nicht auf dem Reißbrett, sondern wachsen kleinteilig. Sie haben eine eigene Identität und sind normalerweise über Jahre und Jahrzehnte gewachsen.
Besichtigen kann man das nur 200 Meter weiter westlich der Heidestraße auf der anderen Seite der Bahngleise. Hier befindet sich der Lehrter Kiez und er verdient diesen Namen, so wie auch andere Kieze in Moabit. Aber gefühlt gehört die Europacity eh nicht so richtig zu Moabit und ob sich das mal ändert, bleibt abzuwarten. Insofern ist es auch egal, ob sie sich dort Kiez nennen, die MoabiterInnen wird es nicht stören. Bemerkenswert ist noch, dass der zentrale Platz an der Heidestraße nach Otto Weidt benannt ist. Der Anarchist betrieb in Mitte eine Blindenwerkstatt, in der Bürsten hergestellt wurden. Dort hatte er vor allem jüdische Angestellte. Die konnte er während der NS-Zeit teilweise dadurch retten, dass er sie versteckte oder mit falschen Papieren versorgte. Dabei half ihm Hedwig Porschütz, nach der in der Europacity ebenfalls eine Straße benannt ist. Und auch die Schriftstellerin und Widerstandskämpferin Lisa Fittko wurde mit einer Straße geehrt.
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