003 — Helft Mutti beim Tragen!

Hinter dem Hein­rich­platz war was los, das sahen wir bis hier­her. Im Hinder­nis­lauf um die klei­nen und größe­ren Brände herum kamen wir zum Görli.
Der Name Görlit­zer Bahn­hof ist eigent­lich falsch, denn er bezieht sich auf einen Bahn­hof, den es gar nicht mehr gibt. Er lag zwischen der Wiener und der Görlit­zer Straße, also einige hundert Meter weiter östlich, aber durch den Mauer­bau war er vom Stre­cken­netz abge­schnit­ten. Jetzt war er einfach nur Brach­land, das mal zum einem Park mit Schwimm­bad werden sollte.
Am Hoch­bahn­hof Görlit­zer stand auf ’nem Eckgrund­stück ein weiß verklei­de­tes, zwei­stö­cki­ges Gebäude ohne Fens­ter. Der große Super­markt von Bolle, eine wich­tige Einkaufs­quelle für die Bevöl­ke­rung. Und der wurde gerade geplün­dert.
“Kuck mal, Bolle hat heute geöff­net”, grinste Tobi mich an.
“Dann mal nichts wie hin.”
Es war ein über­wäl­ti­gen­des Bild. Die Schau­fens­ter waren zerbro­chen, die Glas­tür exis­trierte nicht mehr. Im Innern sahen wir mindes­tens hundert Leute. Manche hatten gleich die Einkaufs­wa­gen voll­ge­packt und scho­ben sie nach Hause. Die meis­ten hatten irgend­was auf den Hände, Würste, Obst, Büch­sen, irgend­wel­che Kartons mit Lebens­mit­teln. Doch nicht das war das Aufre­gende, sondern die Leute selbst. Kaum jemand war ein typi­scher “Szene”-Mensch, sondern es waren die norma­len Nach­barn, die dort plün­der­ten. Viele Kinder und Jugend­li­che, klar. Aber auch Männer Typ Fami­li­en­va­ter, alte Rent­ner mit Einkaufs­wä­gel­chen, ganze türki­sche Fami­lien. Der Alko­hol und die Ziga­ret­ten waren schon weg, als wir in den Super­markt kamen. Über­haupt war alles Teure längst “ausver­kauft”, Käse und Fleisch können sich viele ja kaum leis­ten. Ein Pärchen, beide um die Fünf­zig, schlen­derte am Marme­la­den­re­gal entlang. Man sah ihnen an, wie sehr sie es genos­sen, endlich mal nicht auf den Preis schauen zu müssen. Ein paar Kinder legten Milch­tü­ten auf den Boden und spran­gen drauf, damit sie plat­zen und den Inhalt umher­sprit­zen. Ihr Vater kam und brüllte sie an, dass sie lieber mal was Sinn­vol­les machen soll­ten: “Helft Mutti beim Tragen!”
Es war schon eine komi­sche Situa­tion, diese Alltäg­lich­keit mitten in dieser tota­len Anar­chie.
“Weißte was wir jetzt machen,?” Tobi strahlte plötz­lich wie ein Atom­kraft­werk. “Wir holen jetzt auch was. Für Martha.”
“Ja, coole Idee. Ach, die wird sich freuen!”
Martha hieß mit Nach­na­men Pfahl, was ihr im Leben sicher viel Spott einge­tra­gen hat. Jetzt war sie 86 Jahre alt und lebte in einer klei­nen Einraum-Wohnung im Hinter­haus der Orani­en­straße 169. Wir kann­ten sie, weil ihre Neben­woh­nung mal besetzt war und wir gehol­fen hatten, den Strom wieder anzu­schlie­ßen. Martha war sehr offen und kam gleich mal rüber zum Kucken und brachte sogar Kekse. Tobi und ich besuch­ten sie seit­dem alle paar Wochen mal, wenn es sich gerade ergab. Leider hatte Martha aber einen Sohn, den man nur als böse bezeich­nen kann. Er war Mitte Fünf­zig, BVG-Busfah­rer und quälte seine Mutter oft. Wenn er zu Besuch war, musste sie ihm immer was zum Essen machen, obwohl sie sehr arm war. Aber mitge­bracht hat er ihr nie etwas.
Bei Bolle am Görlit­zer war nun aber nichts mehr zu holen. Wir gingen statt­des­sen wieder zurück in die Orani­en­straße bis zum O‑Platz. Hier gab es auch noch einen Super­markt und viel­leicht kamen wir da ja noch rein.
Tatsäch­lich wurde der Plus-Markt gerade aufge­bro­chen. Der Eingang direkt an der Ecke des ehema­li­gen Kauf­hau­ses war mit einem Metall­rollo gesi­chert. Norma­ler­weise reicht das, Einbre­cher wollen ja leise in den Laden kommen. Dies­mal aber muss­ten wir uns um die Laut­stärke keine Sorgen machen. Das nächste Blau­licht war erst etwa 500 Meter weiter zu sehen, noch hinter dem Moritz­platz. Wahr­schein­lich wurde dort der Verkehr gesperrt.
Anders als der große Bolle-Markt gab es hier keine Schei­ben. Die waren längst gegen Holz­plat­ten ausge­tauscht, weil sie zu oft einge­wor­fen wurden. Und so war es im Super­markt fast dunkel. Da wir in der Gegend wohn­ten, kann­ten wir den Markt ganz gut und konn­ten uns darin eini­ger­ma­ßen orien­tie­ren. Unser Ziel war die Wurst- und Käse­theke, und auch beim Fleisch bedien­ten wir uns reich­lich. Vor der Kasse war das Regal mit dem Alko­hol und so besorg­ten wir auch noch eine Flasche Likör. So voll bepackt zogen wir die hundert Meter zu Mart­has Haus. Die Haus­tür war wie immer offen und auf dem dunk­len Hof sahen wir, dass hinter Mart­has Fens­ter noch Licht brannte.
“Wer ist denn da?” Ihre Stimme klang ängst­lich, nach­dem wir an der Wohnungs­tür geklopft hatten.
“Tobi und ich. Hey Martha, wir haben hier ein paar Geschenke für dich!”
Sie öffnete und schaute uns aus ihrem Morgen­man­tel ungläu­big an. “Um diese Zeit seid ihr noch unter­wegs, Kinder? Na, kommt erst­mal rein.”
Sofort bot sie uns wieder was an, aber dies­mal waren wir an der Reihe.
“Schau mal, was wir dir hier mitge­bracht haben.”
Wir brei­te­ten alles auf ihrem Tisch aus: Jeweils unge­fähr ein Kilo Wurst und Käse, ein paar Schnit­zel und Kote­letts. Tobi zog sogar ein paar Schach­teln Ziga­ret­ten aus der Hosen­ta­sche, die hatte er beim Raus­ge­hen noch einge­steckt. Außer­dem Kekse und Scho­ko­lade.
“Alles für dich, Martha. Nach­träg­lich zum Geburts­tag.”
“Aber ich habe doch erst im Okto­ber Geburts­tag. Habt ihr das etwa gestoh­len?”
Tobi setzte seinen aller­liebs­tes Schwie­ger­sohn­lä­cheln auf: “Ne, Martha. Heute krie­gen wir alle hier im Kiez endlich mal was geschenkt. Ist das nicht toll? Mach dir mal keene Gedan­ken, dies­mal bezah­len die Reichen.”
Martha blieb skep­tisch und kochte uns erst­mal einen Tee. Sie hatte hier hinten gar nichts mitge­kriegt und so erzähl­ten wir ihr, was alles passiert war. Vom Stra­ßen­fest, vom Tränen­gas, von der Gegen­wehr und schließ­lich von den Plün­de­run­gen. Immer wieder fuhr sie erschro­cken zusam­men. “Oh Gott, ist das denn nicht gefähr­lich? Passt bloß auf euch auf, meine lieben Jungen!”
Sie hatte etwas sehr mütter­li­ches, es war schön, dass sie sich um uns sorgte. Beru­hi­gend, als wenn uns dann nichts mehr passie­ren könnte.
Mitt­ler­weile war Mitter­nacht durch und noch immer saßen wir auf Mart­has alter Couch. Vom drit­ten Stock aus schaute man ein Stück­chen hoch zum Dach des Vorder­hau­ses. Vor dem halb­dunk­len Himmel sah ich, wie mehrere Perso­nen geduckt über’s Dach schlei­chen. Mehr aber konnte ich nicht erken­nen. Ein paar Minu­ten später plötz­lich Geschrei: “Bleib stehen, du Schwein!”.
Tobi rannte zum Fens­ter, ich löschte erst­mal das Licht. Wir sahen, wie ein paar Gestal­ten mit weißen Helmen über das Dach liefen. Sie waren lang­sam, weil sie auf der Spitze des Schräg­dachs gingen, dort gab es nur schmale Bret­ter für den Schorn­stein­fe­ger. Offen­bar such­ten sie jeman­den.
Und wir sahen ihn: Fest an die Dach­zie­gel gepresst stand er etwa vier Meter unter den Poli­zis­ten in der Regen­rinne. Mein Herz begann Amok zu laufen, immer­hin ist das hier ein altes Haus und ziem­lich herun­ter­ge­kom­men. Dass ausge­rech­net die Regen­rinne  stabil sein sollte, glaubte ich nicht. Es vergin­gen ein paar Sekun­den, bis Tobi reagierte. “Wir müssen ihm helfen! Lass uns nach vorn gehen, viel­eicht können wir was tun.”
Wir wuss­ten, dass die Dach­bö­den mitein­an­der verbun­den sind. Also klet­ter­ten wir nach oben und öffne­ten im Vorder­haus ein Dach­fens­ter. Es war circa einen halben Meter über dem Mann, für ihn also uner­reich­bar. Wir mach­ten eine Räuber­lei­ter, ich klet­terte zur Hälfte aus dem Fens­ter und beugte mich nach unten.
“Komm, halt dich fest, ich zieh dich hoch!”
So leicht war das aber nicht. Wer schon mal 70 Kilo mit einer Hand heben wollte und dabei kopf­über aus einem schrä­gen Dach­fens­ter gehan­gen hat, weiß, was ich meine. Aber es ging gut.
“Ey Leute, ihr habt mir echt das Leben geret­tet. Diese scheiß Rinne hat mich kaum gehal­ten.”
“Was suchst du dir auch so einen blöden Weg aus zum Spazie­ren­ge­hen.”
Tobi über­schlug sich mit seiner Komik wieder mal selbst.
Der da vor uns stand war kaum älter als wir. Mitte zwan­zig, komplett schwarze Klamot­ten und um den Hals ein schwarz­wei­ßes Palli­tuch. Diese “PLO-Tücher” waren sehr prak­tisch, man konnte seinen Kopf darin komplett verhül­len.
Der miss­glückte Stra­ßen­kämp­fer erzählte, dass er vom Dach Steine und Ziegeln auf die Poli­zei gewor­fen hatte.
“Bist du bekloppt?”, brüllte Tobi ihn an. “Damit kannst du doch jeman­den töten!”
“Na und, es sind doch nur Bullen man, keine Gnade.”
Auch ich wurde wütend. “Hast du keine Achtung vor dem Leben ande­rer Menschen? Was bist du — ein Nazi?”
Der Typ schrie, dass wir wohl wohl blöde Okös seien und am besten nach Hause zu Mami gehen sollen.
Tobi hatte vor Wut einen hoch­ro­ten Kopf, noch nie vorher hatte ich ihn so sauer gese­hen.
“Wir hätten dich fallen lassen sollen, du Schwein!”
“Auf welcher Seite steht ihr eigent­lich?”, fragte der Typ und versuchte, dabei ganz lässig auszu­se­hen. Aber er war noch immer sehr blass, soweit man das in dem schumm­ri­gen Dach­bo­den erken­nen konnte.
Tobi und ich waren sehr erschüt­tert über die Menschen­ver­ach­tung dieses Typen. Mit solchen woll­ten wir nichts zu tun haben. Hatten wir aber, jeden­falls an diesem Abend. Wütend verlie­ßen wir alle den Dach­bo­den.

Ganz kurz schau­ten wir noch bei Martha rein und verab­schie­de­ten uns.
“Wir kommen morgen noch­mal vorbei und erzäh­len dir dann, was heute noch war.”
“Oh Gott, oh Gott passt auf euch auf, Kinder!” Sie tat mir leid, weil sie wirk­lich um uns besorgt war. Gleich­zei­tig wollte ich aber raus und nach­schauen, was noch passierte. Aber wir kamen nicht weit.
Kaum stan­den wir auf der Orani­en­straße, rannte von rechts ein Rudel Bullen auf uns zu. Sie hatten keine Schilde dabei und wir wuss­ten, was das bedeu­tet: Diese Gruppe gehörte zum SEK. Das Sonder­ein­satz­kom­mando ist dafür da, in Situa­tio­nen einzu­grei­fen, die für normale Poli­zis­ten zu gefähr­lich sind. Zum Beispiel bei Bank­über­fäl­len oder Geisel­nah­men. Diese Bullen ließen sich mit ein paar Stei­nen nicht aufhal­ten, als Selbst­schutz reichte der Helm. In den Händen hatten sie statt Schil­den und Knüp­pel kleine schwarze Tonfas. Das sind Holz­knüp­pel mit einem Quer­griff, mit dem man nicht nur einfach zuschlägt. Wer damit umge­hen kann, wirbelt ihn durch die Luft oder sticht auf kurze Distanz mit dem stump­fen Ende auf einen ein. Später erfuhr ich, dass sie in dieser Nacht jeman­den genau so ein Auge ausge­schla­gen haben.
Wenn ein Dutzend solcher Leute auf einen zu rennt, hilft nicht viel. Kämp­fen ist sinn­los, aber verprü­geln lassen woll­ten wir uns auch nicht. Von der ande­ren Seite sahen wir Blau­licht, dieser Weg war also auch versperrt.
“Das Lager!”, rief Tobi und rannte zwei Häuser weiter auf den Hinter­hof. Erst in diesem Moment dachte ich an die versteck­ten Molo­tow-Cock­tails auf dem Hof der 167. Wir wuss­ten, dass es dort unter einer Metall­platte versteckt ein klei­nes “Waffen­la­ger” gab. Es war nicht das einzige im Kiez, eine ganze Reihe von Höfen, leer stehen­den Wohnun­gen, Kellern und Dach­bö­den waren so präpa­riert. Mollies, Steine, Zwil­len mit Stahl­mut­tern waren so breit­flä­chig versteckt, genau für solche Situa­tio­nen. Manche, wie das Lager im Hof der Oranien 167, lagen sogar taktisch sehr gut, was jetzt ein riesen Glück für uns war.
Wir rann­ten durch das dunkle Vorder­haus auf den Hof, uns war klar, dass wir nur ein paar Sekun­den Vorsprung haben.
“Wo ist diese scheiß Platte?”, zischte Tobi.
“Man, direkt neben der Keller­treppe!”
In diesem Moment sahen wir schon, wie vorn die Haus­tür auf ging, die ersten weißen Helme waren zu sehen. Die Poli­zis­ten rann­ten aber nicht ins Dunkel, sondern taste­ten sich vorsich­tig zur Hinter­tür. Sie hatten wohl schon ihre Erfah­run­gen gemacht und sind viel­leicht mal in einer Falle gelan­det. Manch­mal werden kleine Grüpp­chen von Poli­zis­ten in Höfe oder in ein Haus gelockt und dann von allen Seiten mit Stei­nen und Knüp­peln ange­grif­fen.
Die Sekun­den der Vorsicht gaben uns die Zeit, die dicke Blech­platte zur Seite zu heben. Darun­ter kamen etwa ein Dutzend Mollies zum Vorschein, die aller­dings noch nicht “scharf” waren. Man musste den um den Flaschen­hals gekno­te­ten Stoff ja erst­mal in Benzin trän­ken. Das sollte vorsich­tig und lang­sam gesche­hen, damit das Benzin nicht über die ganze Flasche läuft. Sonst brennt die nämlich beim Anzün­den gleich mit. Aber diese Zeit hatten wir jetzt nicht.
Jeder von uns nahm sich zwei Mollies und wir rann­ten ein paar Meter nach hinten. Hier war eine zwei Meter hohe Mauer hinter der ein weite­rer Hof lag. Über den konnte man quer durch den Block rennen und kam dann in der Dresd­ner Straße raus. Das hatten wir vor. Aber als wir nach hinten zur Mauer rann­ten, kamen die ersten Bullen auf den Hof und brüll­ten gleich: “Hier sind sie!”
Tobi sprang ohne sich fest­zu­hal­ten auf eine der Müll­ton­nen, die an der Mauer stan­den. Dabei fiel ihm eine Flasche aus der Hand und zerbrach am Boden. Ich bückte mich und tunkte den Stoff meiner beiden Mollies in die Benzin­pfütze. Tobi war schon auf die Mauer geklet­tert, da rann­ten die Poli­zis­ten von hinten auf mich los.
“Fang!”, schrie ich Tobi an und warf beide Flaschen zu ihm hoch. Dies­mal hatte er mehr Glück und beide Mollies blie­ben heil. Ich klet­terte die Müll­tonne hoch, während er mit seinem Feuer­zeug die Lunte von einem der Brand­sätze anzün­dete. Gerade als ich mich auf die Mauer­krone hoch zog, erreichte mich der erste Bulle und hielt mich am Bein fest. Ich sah zu Tobi und schrie: “Schmeiß doch, man!” und er warf den Brand­satz auf den Boden. Eine Sekunde später stand unter mir alles in Flam­men. Der Mollie entzün­dete auch das Benzin der vorher zerbro­che­nen Flasche. Die Flam­men loder­ten sofort einen halben Meter hoch. Ich merkte, wie der Poli­zist mein Bein los ließ und in die andere Rich­tung rannte. Bloß weg aus dem Feuer! Die ande­ren blie­ben stehen, einer trat an der brenn­den­den Hose des Bullen die Flam­men aus. Dann ließ sich Tobi auch schon auf der ande­ren Seite der Mauer runter.
Ich sprang hinter­her. Wir rann­ten über den Hof, woll­ten durch’s Hinter­haus nach vorn flüch­ten. Kaum öffne­ten wir die Tür, sahen wir einen bulli­gen Kerl vor uns. Irgend­ein Bewoh­ner von der Sorte “Müll­kut­scher”, dieje­ni­gen, die “Volkes Stimme” auch mal mit der Faust Nach­druck verlei­hen. Er griff sich Tobi und hielt ihn am Kragen fest. Mit der ande­ren Hand versuchte er, mich zu packen. Ich nahm Tobi den Mollie aus der Hand und schlug ihn dem Bär auf den Kopf. Die Kopf­haut riss auf und der Mann brüllte wie wahn­sin­nig, sicher auch, weil das Benzin in die Wunden kam. Aber wenigs­tens ließ er Tobi los.
In diesem Moment sah ich, wie zwei der Bullen über die Mauer stie­gen und auf uns losrann­ten.
“Gib Feuer!”, schrie ich und Tobi warf unse­ren letz­ten Mollie in den Durch­gang zum Hof.
Hinter den Poli­zis­ten dann der bren­nende Eingang, im Flur der hilf­los schrei­ende Müll­typ, man kann nicht behaup­ten, dass wir beson­ders unauf­fäl­lig gewe­sen wären.
Nach einem kurzen Sprint durch’s Vorder­haus öffne­ten wir leise die Tür zur Dres­de­ner Straße 16 und lugten heraus. Hier waren keine Bullen, aber links und rechts sahen wir an den Häuser­wän­den blaue Lich­ter zucken. Offen­bar war am Kotti und am O‑Platz schon die Poli­zei und kurz darauf sahen wir dort auch mehrere Wannen sich lang­sam vortas­ten. Sie scho­ben die längst ausge­brann­ten Barri­ka­den zur Seite.
“Lass uns versu­chen, nach Hause zu kommen. Genug für heute.” Ich nahm Tobis Vorschlag gerne an.
Aber so leicht war das mit dem Rück­zug nicht. Denn zwischen uns und der Adal­bert­straße stand jetzt der Feind. Also nahmen wir unsere Hals­tü­cher ab, setz­ten die Unschulds­mie­nen auf und mach­ten uns auf einen weiten Umweg, rund um den Kiez, an der Mauer entlang bis zur Adal­bert­straße.

Am nächs­tens Morgen spazier­ten wir durch den Kiez. Es sah aus wie im Kriegs­ge­biet. Fast alle Schau­fens­ter waren einge­wor­fen, selbst die klei­nen Läden aufge­bro­chen und geplün­dert. In den Türen stan­den vezwei­felte Inha­ber, manche wein­ten, andere waren wütend. Den meis­ten aber sah man ihre Ratlo­sig­keit an.
Am Stra­ßen­rand war genau zu erken­nen, welche Autos schon in der Nacht dort gestan­den haben. Sie waren entwe­der völlig zerbeult, mit einge­wor­fe­nen Schei­ben oder sogar ausge­brannt.
“Ist dir klar, dass wir das waren?”, fragte ich Tobi. Mir ging es plötz­lich dreckig, denn wir hatten ja die Poli­zei, den Staat, die Reichen als Ziel unse­rer Angriffe. Getrof­fen wurden aber fast nur die einfa­chen Leute.
“Das waren wir nicht, nur ein biss­chen. Wir waren ja nur dabei.”
“Klar, alle waren nur dabei. Wie damals in der Reichs­kris­tall­nacht.”
Tobi sah mich entsetzt an: “Bist du bescheu­ert? Was haben wir mit den Nazis zu tun?”
Mir war auf einmal wirk­lich zum Heulen. “Viel­leicht mehr, als uns das klar ist.”
“Quatsch! Die Nazis haben Juden ermor­det oder denen die Schei­ben einge­schmis­sen, das ist doch was ganz ande­res. Außer­dem kämp­fen wir nicht gegen ’ne Minder­heit, sondern gegen Nazis!” Seine Argu­mente wurden immer verwor­ren­der.
“Gehö­ren die Läden hier etwa alle den Nazis?”
Das Schlimme an der Diskus­sion war ja, dass ich das alles kenne und norma­ler­weise genauso rede.
“Wir haben noch nie mal so rich­tig darüber gespro­chen, warum wir das machen und was wir eigent­lich errei­chen wollen.”
“Na, ist doch klar: Wider­stand!” Tobi begriff nicht, was ich meinte. Kein Wunder, ich stellte ja auf einmal inner­halb von Sekun­den alles in Frage, was bisher anschei­nend klar war. Doch der Anblick dieser Zerstö­run­gen hat mir regel­recht die Augen geöff­net.
“Aber wenn wir keinen Unter­schied mehr machen zwischen einer Nazi­kneipe und ’nem Klamot­ten­la­den…”
“Was hast du denn auf einmal?”, fiel mir Tobi ins Wort. “Wirst du jetzt ein Hippie oder was? Es war doch geil letzte Nacht, die Barri­ka­den und so. Wann erlebt man das schon mal?”
“Darum geht es doch gar nicht! Wir sind doch keine Hooli­gans, die sich nur wegen der Action prügeln, oder? Ich hab eigent­lich schon ’nen poli­ti­schen Anspruch.”
“Poli­ti­scher Anspruch. Ja toll. Ich nicht, oder was? Ey, wir sind der Wider­stand, kapierste das nicht? Der Kiez gehört uns, die Bullen sollen sich hier raus­hal­ten. Und die Haus­be­sit­zer sollen sich verpis­sen. Ist das viel­leicht nicht poli­tisch?”
“Und was haben die klei­nen Läden damit zu tun?” So eine Schau­fens­ter­scheibe kostet bestimmt tausend Mark. Daran kann so einer pleite gehen.”
Tobi sah aber jedes Argu­ment als persön­li­chen Angriff, obwohl es ja gar nicht so gemeint war. Es ging ja auch gegen mich selbst und meine Igno­ranz. Ich merkte, dass plötz­lich etwas zwischen uns stand. Wir hatten uns auch vorher manch­mal gestrit­ten, aber dies­mal ging es tiefer. Wir sahen uns ja als poli­ti­sche Menschen, aber waren nicht in der Lage, auch so zu disku­tie­ren. Viel­leicht auch deshalb, weil nicht viel dahin­ter steckte. Waren wir nicht doch eher Hooli­gans?
Schwei­gend gingen wir die Orani­en­straße weiter.
“Lass uns kurz bei Martha vorbei­ge­hen”, schlug ich vor.
“Ne, keine Lust.” Tobi war immer noch sauer.
Also stieg ich allein die drei Stock­werke nach oben und klopfte. Es war aber nicht Martha, die mir öffnete, sondern ihr Sohn. Und der zog mich sofort in die Wohnung und schlug mir ins Gesicht.
“Da ist ja einer dieser Chao­ten! Euch sollte man alle verga­sen, wie damals!”, brüllte er und schlug wieder zu. Im Affekt trat ich ihm mit voller Wucht zwischen die Beine und offen­bar hab ich gut getrof­fen. Winselnd ging er zu Boden.
Dann sah ich Martha, zusam­men­ge­sun­ken auf ihrer Couch. Sie hatte wohl geweint und wischte sich gerade das Gesicht trocken. Ich beugte mich sofort zu ihr.
“Was ist denn los? Hat er dich geschla­gen?”, wollte ich wissen.
“Nein”, schluchzte sie, aber ange­schrieen. Und alles wegge­schmis­sen, was ihr mir gestern gebracht habt. Sie zeigte zum Müll­ei­mer, wo der Käse und das Fleisch raus­schau­ten. Ich nahm alles raus, machte es wieder sauber und legte es auf ihren Küchen­tisch.
Dann nahm ich mir ihr Nudel­holz und ging zu ihrem Sohn.
“Wenn du nicht sofort die Wohnung verlässt, schlage ich dir den Schä­del ein!”
Er schaute mich mit einem hass­ver­zo­ge­nen Gesicht an, rutschte dann aber zur Wohnungs­tür. Aufste­hen konnte er noch nicht. Als er drau­ßen war, schloss ich die Tür und ging zu Martha. Sie war noch immer sehr aufge­regt.
“Wie kann eine so liebe Frau nur mit so ’nem bösen Jungen gestraft sein”, sagte ich. “Nimm’s mir nicht übel, aber das denke ich wirk­lich.”
“Ach Junge, du hast ja recht. Aber was soll ich denn machen? Manfred ist doch nun mal mein Sohn.”
Wir saßen dann noch über eine Stunde zusam­men und rede­ten. Über ihr Leben, über den Sohn, über Tobi und mich. Ich erzählte ihr von meinem schlech­ten Gefühl, was die Plün­de­run­gen der klei­nen Läden anging.
Als ich ging, drückte sie mich eng an sich. Es war das erste Mal. Und das letzte Mal, dass wir uns sahen. Als ich sie eine Woche später besu­chen wollte, sagten die Nach­barn, dass Martha zwei Tage vorher gestürzt war. Sie hatten sie ins Urban-Kran­ken­haus gebracht, wo sie nach ein paar Stun­den gestor­ben ist. Ich bin dann dort hin, wollte wissen, wo sie beer­digt wird. Aber man wusste es nicht. Ich habe es auch nicht mehr erfah­ren.

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Die Extremisten und die Gewalt

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4 Kommentare

  1. Nicht ganz mein Geschmack (Romane), aber über diesen lässt sich ja bekannt­lich strei­ten, weiter so… gut geschrie­ben.

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