Westagent im Osten

Otto John (Mitte) 1955 in der Karl-Marx-Allee

Für die DDR-Stasi muss es wie Weih­nach­ten und Karl Marx’ Geburts­tag an einem Tag gewe­sen sein: Der Chef des Bundes­verfassungs­schutzes, Otto John, wird ihnen in Person präsen­tiert.
Eigent­lich weiß man ja in west­deut­schen Sicher­heits­krei­sen, dass Besu­che hoch­ran­gi­ger Geheim­nis­trä­ger in West-Berlin gut abge­si­chert sein müssen. Mitte der 50er Jahre steht die Mauer noch nicht, ostdeut­sche wie sowje­ti­sche Agen­ten tummeln sich im feind­li­chen Gebiet.
Als eins­ti­ger Ange­hö­ri­ger des Wider­stands gegen das NS-Regime war Otto John zu Besuch im Bedler­block, dem Gebäude, in dem seine Mitver­schwö­rer um Graf von Stauf­fen­berg erschos­sen worden waren. 1954 gab es dort eine Feier zum Jahres­tag des Atten­tats vom 20. Juli, danach fuhr John zu seinem Freund (und KGB-Agen­ten) dem Frau­en­arzt Wolf­gang Wohl­ge­muth in der Uhland­straße 154. Was danach pass­sierte, ist bis heute unge­klärt.

Version 1 von Otto John: Er wurde durch ihm unbe­kannte Drogen bewusst­los gemacht und wachte erst am Morgen des nächs­ten Tages auf einer Couch wieder auf. Die stand aller­dings nicht mehr in Char­lot­ten­burg, sondern in Karls­horst, im Haupt­quar­tier des KGB. Die Sowjets brach­ten ihn für vier Monate nach Moskau und danach wieder in die DDR. Von dort konnte er im Dezem­ber 1955 nach West-Berlin flüch­ten.

Version 2, offi­zi­elle DDR-Darstel­lung: Otto John reiste frei­wil­lig in die DDR, weil er mit den poli­ti­schen Verhält­nis­sen in der Bundes­re­pu­blik unzu­frie­den war. Vor allem die Remi­li­ta­ri­sie­rung und den wach­sen­den Einfluss frühe­rer Natio­nal­so­zia­lis­ten trie­ben ihn zu diesem Schritt. In einer Pres­se­kon­fe­renz trat John persön­lich auf und erläu­terte diese Gründe. “Ich habe mich nach reif­li­cher Über­le­gung entschlos­sen, in die DDR zu gehen und hier zu blei­ben, weil ich hier die besten Möglich­kei­ten sehe, für eine Wieder­ver­ei­ni­gung und gegen die Bedro­hung durch einen neuen Krieg tätig zu sein.”

Version 3 von Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Hart­mut Jäckel nach Auswer­tung von Unter­la­gen aus dem Stasi-Archiv:
“Gewich­tige Indi­zien besa­gen: Der Geheim­nis­trä­ger Otto John hat sich am 20. Juli 1954 frei­wil­lig zu Gesprä­chen nach Ost-Berlin bege­ben. Inner­lich bewegt von einem naiv-patrio­ti­schen Impe­tus, der deut­schen Einheit auf eigene Faust voran­zu­hel­fen, hat er nicht damit gerech­net, dass ihm die Rück­kehr in den West­teil Berlins verwehrt werden könnte. Als ihm dies bewusst wurde, mag er geglaubt haben, einen groben Fehler durch einen noch gröbe­ren korri­gie­ren zu können.”

Nach­dem er im Dezem­ber 1954 von Moskau wieder nach Ost-Berlin gebracht worden war, tauchte John an mehre­ren Stel­len in der DDR auf. Er hatte dort eine Wohnung sowie ein Büro und hielt im ganzen Land poli­ti­sche Vorträge. Ob Otto John nun entführt wurde oder ein Über­läu­fer war — seine Zeit in der DDR war am 12. Dezem­ber 1955 zu Ende. An diesem Tag setzte er sich nach West-Berlin ab, wo er sofort verhaf­tet und nach Karls­ruhe ausge­flo­gen wurde.
Ein Jahr später verur­teilte der Bundes­ge­richts­hof John wegen Landes­ver­rats zu vier Jahren Zucht­haus, jedoch wurde er schon nach drei Jahren entlas­sen.
Eigent­lich konnte anhand der vorlie­gen­den Indi­zien nicht darüber entschie­den werden, ob Otto John nun Opfer oder Über­läu­fer war. Doch beim Gericht sagte ein Mann aus, der das Urteil maßgeb­lich beein­flusste: Der Jour­na­list Karl Richard Albert Wittig hatte unter Eid behaup­tet, John 1955 in Weimar getrof­fen zu haben, wo dieser ihm “sein Herz ausge­schüt­tet habe.” Demnach war Otto John ein Idea­list, der frei­wil­lig in die DDR gefah­ren sei und jeder­zeit auch wieder zurück­keh­ren könnte, wenn er wollte. Johns Anwälte strit­ten das natür­lich ab, aber sogar der Staats­an­walt meinte: “Mit Wittig ist nichts anzu­fan­gen, der phan­ta­siert, kein Wort glaub’ ich dem.”
Die Rich­ter waren offen­bar ande­rer Meinung und verur­teil­ten Otto John. Sechs Jahre später, John war längst wieder in Frei­heit, verschwand Karl Richard Albert Wittig während einer Reise von Hessen nach West-Berlin. Ob er von der Stasi verhaf­tet oder in die DDR über­ge­lau­fen war, wurde nie geklärt.
Otto John kämpfte noch bis zu seinem Tod 1997 vergeb­lich für seine Reha­bi­li­tie­rung. 1986 gewährte ihm der dama­lige Bundes­prä­si­dent Richard von Weiz­sä­cker eine Sonder­ente von monat­lich 4.200 DM, “um einen Schluss­strich zu ziehen”.

Foto: Bundes­ar­chiv, Bild 183–25798-0007 / Walter Heilig / CC-BY-SA 3.0

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