Staatsfeind Nummer 1

Es ist schon erstaun­lich, wie wenig souve­rän die US- und andere Regie­run­gen mit den Veröf­fent­li­chun­gen ihrer Diplo­ma­ten-Depe­schen bei Wiki­leaks umge­hen. Natür­lich fühlen sie sich tierisch bloß­ge­stellt und gede­mü­tigt, ande­rer­seits ist man sein Jahr­zehn­ten und Jahr­hun­der­ten auch von den USA nichts ande­res gewohnt. Dabei könn­ten sie auch einfach sagen: “OK, wir haben Mist gebaut, dass wir unsere Rech­ner so wenig schüt­zen und dadurch eine Vier­tel­mil­lion E‑Mails öffent­lich gewor­den sind. Aber sie waren nicht für die Öffent­lich­keit gedacht und deshalb braucht sich niemand darüber aufzu­re­gen.” Fertig, und nach ein paar Wochen wäre Ruhe gewe­sen. Aber wie gewohnt laufen sie wieder Amok. Viel­leicht sind sie ja schon so dünn­häu­tig, weil auch ihre Doku­mente zu den Krie­gen im Irak und Afgha­ni­stan veröf­fent­licht wurden. Na und? Immer­hin halten sich die USA doch für die Ober-Demo­kra­ten der Welt, sie führen sogar Kriege, damit ihre Demo­kra­tie auch denen aufge­zwun­gen wird, die sie viel­leicht gar nicht haben wollen. Jeden­falls ist das die Argu­men­ta­tion für diverse Einmar­sche gewe­sen. Und da soll­ten sie doch froh sein, wenn jemand aufzeigt, wo es nicht rich­tig läuft. Weil z.B. das Abknal­len von Jour­na­lis­ten nun mal nicht sehr demo­kra­tisch ist, genau wie das Foltern von Menschen.
Aber anstatt Wiki­leaks zu danken, stel­len sich Obama und Clin­ton mit Schaum vor dem Mund vor die Kame­ras und klagen den Über­brin­ger der schlech­ten Nach­richt an. “Köpft ihn”, hieß es früher. Und heute?

Der Wiki­leaks-Grün­der Julian Assange wird plötz­lich beschul­digt, zwei Frauen verge­wal­tigt zu haben und muss deswe­gen in den Knast. Er wird sogar von Inter­pol gesucht, ist das auch bei ande­ren Verge­wal­ti­gern der Fall? Und ist es nicht merk­wür­dig, dass diese Vorwürfe genau dann erho­ben werden, wenn Assange gerade zum Staats­feind Nr. 1 ausge­ru­fen wird? Es erin­nert doch ziem­lich an die angeb­li­chen Massen­ver­nich­tungs­waf­fen von Saddam Hussein im Irak, die nach dem Einmarsch niemals gefun­den wurden. Assange hatte die Vorwürfe bestrit­ten und als Komplott der US-Regie­rung bezeich­net.
Aber es bleibt nicht dabei. Konser­va­tive US-Poli­ti­ker haben bereits die Hinrich­tung Assan­ges gefor­dert. Umge­setzt wurde bereits die Maßnahme, die Website wikileaks.com zu blockie­ren. Dabei nutzt die US-Regie­rung aus, dass die entspre­chen­den DNS-Server in den USA stehen. Gleich­zei­tig wurden offen­bar diverse Unter­neh­men unter Druck gesetzt. Die Kredit­kar­ten­un­ter­neh­men Visa und Master­card haben ange­kün­digt, Zahlun­gen an Wiki­leaks nicht mehr weiter­zu­lei­ten, so wie zuvor schon der Bezahl­dienst PayPal. Die Firma Amazon, die auch eigene Server betreibt, hat diese für Wiki­leaks eben­falls gesperrt.
All diese Maßnah­men stin­ken, sie zeigen, dass sich die grund­sätz­lich unfaire Poli­tik der USA auch unter Obama nicht geän­dert hat.

Doch je höher der Druck auf Wiki­leaks, umso größer wird auch die Unter­stüt­zung. Auf der ganzen Welt lassen sich Netz­ak­ti­vis­ten nicht gefal­len, dass die freie Bereit­stel­lung von Infor­ma­tio­nen derma­ßen krimi­na­li­siert wird. Inner­halb von zwei Tagen haben 1.005 Grup­pen und Unter­stüt­zer die Doku­mente von Wiki­leaks auf ihre eige­nen Server gepackt (Stand 8.12. um 5.00 Uhr), orga­ni­siert wurde das über www.wikileaks.ch
Mitt­ler­weile sind die Seiten wohl nicht mehr aus dem Netz zu bekom­men. Einige Unter­stüt­zer haben nun bei den wich­tigs­ten Webpro­vi­dern in Deutsch­land ange­fragt, wie sie zum Löschen der Inhalte stehen und ob sie das Kopie­ren (“Spie­geln”) auf ihren Servern zulas­sen. Immer­hin hat sich in den USA der Hoster ja auch zum Büttel der Regie­rung gemacht. Die teil­weise sehr erfreu­li­chen Antwor­ten hat die Nerd­fa­brik veröf­fent­licht. Während Server4You “nicht wünscht”, dass die Website bei ihnen gespie­gelt werden, Strato und Host­Eu­rope rumei­ern, antwor­tete 1&1, dass sie Wiki­leaks sehr libe­ral gegen­über­ste­hen. Auch Hetz­ner hat eine Wende zum Posi­ti­ven gemacht, die schönste Antwort kam aber von Domain­Fac­tory. Sie hat “die Rechts­lage anwalt­lich prüfen lassen und ist zum Schluss gekom­men, dass eine straf­recht­li­che Verfol­gung rela­tiv unwahr­schein­lich ist, denn eine Verfol­gung wg. ‘Offen­ba­rung von Staats­ge­heim­nis­sen’ oder ‘Preis­gabe von Staats­ge­heim­nis­sen’ funk­tio­niert nur dann, wenn diese vorher nicht veröf­fent­lich worden sind. Das ist aber bei einem Wiki­leaks Mirror nicht der Fall.”

Schon jetzt ging der Schuss der US-Regie­rung nach hinten los. Es hätte nie eine solche breite Thema­ti­sie­rung und Unter­stüt­zung für Wiki­leaks gege­ben, wenn die Angriffe nicht solche Ausmaße ange­nom­men hätten. In wohl jeder Nach­rich­ten­sen­dung auf der Welt wurde Wiki­leaks bekannt gemacht, die pani­schen Reak­tio­nen auf die Veröf­fent­li­chun­gen haben zu einer brei­ten Soli­da­ri­sie­rung geführt. Und noch immer werden täglich weitere Doku­mente der Diplo­ma­ten-Mails einge­stellt. Ange­kün­digt wurde gestern, dass demnächst auch Doku­mente aus Russ­land veröf­fent­licht werden. Es hat sich eine Bewe­gung gebil­det, und dieje­ni­gen, die ohne Klei­der daste­hen, wirken hilf­los. Souve­rän ist das nicht.

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Zufallstreffer

Geschichte

Aktion Wasserschlag

Es war die Reak­tion des Senats auf die Entfüh­rung des dama­li­gen Berli­ner CDU-Vorsi­t­­zen­­den Peter Lorenz. Am 27. Februar 1975, drei Tage vor der Abge­ord­ne­ten­haus­wahl, war er im Zehlen­dor­fer Quer­ma­ten­weg von Mitglie­dern der “Bewe­gung 2. Juni” […]

7 Kommentare

  1. Auf die Inter­net­zen­sur der Chine­sen “Google”, haben Obama und Frau Clin­ton große Reden wegen des hohen Gutes der Presse und Rede­frei­heit gehal­ten. Flow Infor­ma­tion. Das ist gerade einmal ein paar Monate her. Die schei­nen wohl etwas Schi­zo­phren zu sein.

  2. Die, welche jetzt in den USA am lautes­ten schrei­ben sche­ren sich doch kein Stück um Wiki­Leaks. Sie sind hinter der öffent­li­chen Meinung her, die ihnen Stim­men für Wahlen sichert. Daher braucht man sich über die Inef­fi­zi­enz nicht wundern. Darum geht es nämlich nicht.

  3. Eine moderne Hexen­ver­fol­gung…

    Es ist schon faszi­nie­rend was ein soge­nann­ter “frei­heit­li­cher” Rechts­staat so alles an “Recht” findet. Nichts aus der eige­nen Geschichte gelernt (Südstaa­ten, Kuklux Klan), ande­ren auf der großen Welt­bühne mit hoch erho­be­nen Zeige­fin­ger erzäh­len wollen was sie dürfen und sollen, aber im Endef­fekt keinen Deut besser oder cleve­rer reagie­rend, wie eine chine­si­sche Dikta­tur, die einen Frie­dens­no­bel­preis­trä­ger und dessen Frau wegsperrt, so daß es wohl erst­ma­lig in der Geschichte des Frie­dens­no­bel­prei­ses eine Verlei­hung ohne den Geehr­ten geben wird.

    Was soll nur aus unse­rer Welt noch werden?
    Oder besser, was haben wir daraus gemacht?

  4. Hallo Oldie­man, ich denke die Nazis haben verhin­dert, dass Carl von Ossi­jetzky den Nobel­preis persön­lich entge­gen­neh­men konnte.

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