Kammerherr out. Messel in.

Der Frei­herr von Mirbach war Kammer­herr der Kaise­rin. Nach­dem sie das Schloss geräumt hatte und ihrem kaiser­li­chen Gatten nach­ge­flo­hen war, besich­tigte der Graf Harry Keßler mit dem SPD-Breit­scheid die Wohnung des letz­ten deut­schen Kaiser­paa­res: “…spieß­bür­ger­lich, geschmack­los … Aus dieser Umwelt stammt der Welt­krieg: aus dieser kitschi­gen, klein­li­chen, mit lauter falschen Werten sich und andere betrü­gen­den Schein­welt … Noch während des Krie­ges wusste die Kaise­rin nicht, was ein Sozi­al­de­mo­krat ist, dachte beinahe, die Leute fräßen kleine Kinder…” (Sonn­abend, 28.12.1918).

In diese Welt gehört der Ober­hof­meis­ter von Mirbach. Was hatte er mit Fried­richs­hain zu tun, dass man eine breite Straße nach ihm benannte und ihr diesen Namen ließ über Kaiser­reich, ersten und zwei­ten Welt­krieg, erste Repu­blik und Nazi­reich, mehr als ein halbes Jahr­hun­dert?
Ich will doch nicht anneh­men, dass das so war, als ob man die Garten­straße in Mitte nach dem Kammer­herrn von Wülknitz genannt hätte, nach dem kammer­herr­li­chen Kerl, der hier die ersten großen Ausbeu­tungs­miet­häu­ser baute, Miets­ka­ser­nen: Wohnen als Kriegs­dienst. Das gab es in Fried­richs­hain auch.
Hier, wo ich jetzt stehe, gerade nicht. Die Mirbach­straße heißt heute und nun auch bald ein halbes Jahr­hun­dert nach einem Mann, der zu denen gehörte, die hier wohn­ten und wohnen, ein Schlos­ser, Willy Bänsch, 36 Jahre war er alt, als die Nazis ihn ermor­de­ten; die Mörder können aber auch Leute von hier gewe­sen sein.
Horst Wessel war ja auch von hier, nach dem der ganze Bezirk bis 1945 hieß. Die einen und die ande­ren, die Kammer­her­ren, die einfa­chen Menschen, aus den Wohnun­gen und aus den Knei­pen kommt die Welt­po­li­tik. Die Bäns­ch­straße ist eine schöne Straße, grün in der Mitte, nach Osten zulau­fend auf die Sama­ri­ter­kir­che, ein ande­res Beispiel der vielen Berli­ner Beru­hi­gungs­kir­chen: Chris­tus sollte die Menschen abhal­ten, allzu laut zu sagen, was sie litten. Christ­kir­chen­tum als poli­ti­sches Programm, alles in allem hat es geklappt, auch die sozia­lis­ti­sche Kirchen­be­we­gung hat ja schließ­lich ihre Klien­ten ruhig­ge­stellt und Staa­ten unter­stützt und verwal­tet, die denen nicht gehör­ten, die hier heimisch sind.

Über solche Gedan­ken errei­che ich die nächste Stra­ßen­ecke, Pros­kauer Ecke Schrei­ner­straße. Ich stehe vor einem Baudenk­mal, vor einem sozi­al­po­li­ti­schen Denk­mal, das eine alltäg­li­che Wirk­lich­keit ist. Als wenig weiter nord­wärts gerade die Straße nach dem Kammer­herrn benannt war, trat hier, wo die Pros­kauer Straße die Stadt schon ein ganzes Stück ange­ho­ben hat über die Frank­fur­ter Allee, ein Mann auf, der nur dem Alter nach zur Gene­ra­tion des Kammer­herrn gehörte. Er hieß Alfred Messel. Aus Darm­stadt gebür­tig, aber längst schon in Berlin einer der großen Archi­tek­ten mit großen Aufträ­gen von den Leuten, die großes Geld hatten. 1892 war u.a. von zwei Männern, die sich Gedan­ken mach­ten über die Macht, die vom Grund­be­sitz ausging, Adolf Damaschke und H. Albrecht, der Berli­ner Spar- und Bauver­ein gegrün­det worden. Der Verein wollte etwas tun gegen das Wohnungs­elend, gegen die kammer­herr­li­che Ausbeu­tung, die Ausbeu­tung durch Kapi­tal und Staat.

1893 zeigte Messel in der Sickin­gen­straße in Moabit das erste Beispiel vor: eine Einheit aus zwei Häusern mit zwei­ge­schos­si­gem Trep­pen­haus. Das machte Schule. 1896 erschien von Albrecht und Messel “Das Arbei­ter­wohn­haus”, eine Grund­satz­schrift mit “Ratschlä­gen zum Entwer­fen … auf Grund prak­ti­scher Erfah­run­gen”.
Diese Verbin­dung von sozi­al­po­li­ti­scher Theo­rie, archi­tek­to­ni­scher Erfah­rung und juris­tisch ausge­stat­te­tem Umset­zungs­wil­len war neuar­tig und beispiel­haft. Der gemein­nüt­zige Verein wuchs rasch. Sein zwei­tes vorbild­li­ches Bauvor­ha­ben entstand hier an der Pros­kauer Straße. Das war 1897. Der fünf­ge­schos­sige Wohn­block reichte selbst­be­wusst mit Turm und Giebel an die Stra­ßen­ecke und weicht nicht vor ihr zurück, denn Stadt heißt: geschlos­sene Fassa­den und bebaute Ecken. Stadt ist Stadt und keine Land­schaft, da fielen die Späte­ren hinter Messel zurück (sogar Bruno Taut, der eine Gene­ra­tion später für densel­ben Verein baute).

Der Komplex Proskauer/Schreinerstraße enthält fast nur Wohnun­gen aus Stube, Kammer, Küche, zwar ohne Bad damals, aber mit Innen­toi­lette; er wird umschlos­sen, von einer einheit­lich gestal­te­ten Fassade, die weder die einzel­nen Wohnun­gen noch die einzel­nen Häuser abbil­det und die durch unter­schied­li­che Giebel, Loggien, Balkone unter leuch­ten­der Gesamt­farbe Viel­ge­stal­tig­keit gewinnt.
Das war damals eine Tat, die mit Welt­maß­stab zu messen war, Welt­klasse (um ein später in Deutsch­land popu­lär gewor­de­nes Spit­zen­wort zu zitie­ren). Auf der Welt­aus­stel­lung in Paris zu Beginn des neuen Jahr­hun­derts, das ein Jahr­hun­dert der Stadt­zer­stö­rung werden würde, 1900 gab es eine Gold­me­daille dafür.

Ich gehe die Pros­kauer Straße zu Ende. Sie setzt sich jenseits der Elde­naer Straße fort in dem Fußgän­ger­über­weg, der über zum Bezirk Prenz­lauer Berg gehö­ren­des Gelände zum S‑Bahnhof und zur Stor­kower Straße nach Lich­ten­berg führt.
Diese über­dachte Füßgän­ger­brü­cke zwischen drei Bezir­ken ist fast so lang wie die Pros­kauer Straße, die ich hier­her herauf­ge­wan­dert bin. Sie ist keine Schön­heit, aber doch eine Einma­lig­keit. Sie lässt uns von oben tiefe Blicke tun in und über die Stadt. Über die weiten Dächer der kaum noch genutz­ten Indus­trie­hal­len west­lich (östlich: Berli­ner Flie­sen­markt, Teppich­land Berlin) blicke ich auf die Türme am Frank­fur­ter Tor, die so tun, als ob sie den Gendar­men­markt bekrön­ten.

Vorne liegt der Forcken­beck­platz in dich­tem Grün. Sein Name erin­nert an einen Mann, der — als diese Vier­tel hier wuch­sen — versuchte, ein Parla­men­ta­rier in Deutsch­land zu sein und dann Ober­bür­ger­meis­ter der Reichs­haupt­stadt war. “Dieses Volk kann nicht reiten!” sagte der Reichs­kanz­ler, nach dem heute noch über­all in Deutsch­land Stra­ßen, Plätze, Höhen und Türme benannt sind: “Dieses Volk kann nicht reiten! Die was haben, arbei­ten nicht, nur die Hung­ri­gen sind flei­ßig. Ich sehe sehr schwarz in Deutsch­lands Zukunft. Wenn die Forchow und Wirken­beck (Virchow und Forcken­beck) ans Ruder kommen, fällt alles ausein­an­der. Keiner wirkt fürs Ganze, jeder stoppt nur an seiner Frak­ti­ons­ma­tratze”.
Das war zehn Jahre bevor die Bäns­ch­straße den Namen des Kammer­herrn und andert­halb Jahr­zehnte bevor der Forcken­beck­platz den Namen des Bürger­meis­ters und die Pros­kauer Straße ihre berühm­ten Häuser erhielt. Auf diesem Reit­platz der Geschichte ist Deutsch­land ganz schön herum­ge­rit­ten.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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