Von Pankow nach Köpenick

Von Pankow nach Köpe­nick, genauer: von Hein­ers­dorf nach Spind­lers­feld. Ein Spazier­gang allein mit den Füßen wird das natür­lich nicht. Die S‑Bahnlinien sind … da fallen mir verschie­dene Verglei­che ein; sagen wir: die Schlag­adern der Stadt, sie verbin­den, verknüp­fen, versor­gen alle Teile der Stadt.
Wenn Menschen aus Hein­ers­dorf und aus Spind­lers­feld glei­cher­ma­ßen sagen: Wir wohnen in Berlin, und wenn sie dann nicht nur den Namen meinen, der ja für sich gar nichts besagt, weil es ihn auch gar nicht zu geben brauchte, dann meinen sie die S‑Bahn (und die U‑Bahn, die Busse, die Tram: dieses ganze System des Von-hier-nach-dort, das aus Kiezen und inne­ren Berei­chen eigent­lich erst die große Stadt macht, in der viel­leicht nur die Fahrer der großen S‑Bahnlinien Tat für Tag wirk­lich leben, indem sie glau­ben, dass sie immer am glei­chen Ort sind: in ihrer engen Führer­ka­bine).
So unge­fähr dachte ich, als ich an diesem Novem­ber-Donners­tag, nach­mit­tags gegen Zwei, in Hein­ers­dorf auf dem Bahn­steig stand. “Hier endlich ist kein Berlin mehr — kein Haus mehr, nur eine Wind­mühle und sandi­ger Hügel. Hier sind wir im Freien. Vor uns liegt Hein­ers­dorf. Der Geruch des Korn­fel­des ist in der Luft. Weit hinüber dehnt sich der Abend­him­mel, weit und blau, nur an den Rändern duns­tig von der Atmo­sphäre der Stadt, in der mehr als zwei Millio­nen Menschen atmen und arbei­ten. Aber von ihnen kann man hier nichts sehen. Man sieht nur das Nächste, das nächste Haus, die nächste Straße, die Wind­mühle, die Sand­hü­gel — und eine Lerche schwirrt über den Feldern und singt.”

Ach nein, hier singt keine Lerche, der Lerchen­sin­ge­text, den ich hier eben zitiert habe, ist über 100 Jahre alt, ein Stück aus einem wunder­vol­len Arti­kel eines erst­klas­si­gen Berlin-Jour­na­lis­ten; er hieß Julius Roden­berg. Was wissen wir noch von dem, was vor 100 Jahren war? Und warum sollen wir’s wissen? Was vorbei ist, ist vorbei…
Das sind Novem­ber-Gedan­ken, während ich über den nörd­li­chen Aus- und Eingang vom S‑Bahn-Bahn­steig hinüber aufs Einsen­bahn-Gelände gegan­gen bin, einem Wort nach, das auf dem Wegwei­ser­schild steht und das ich nicht verstehe: “GB Trak­tion”. Wo der Auf- und Abgang endet, endet offen­bar auch der öffent­li­che Weg. “Dienst­weg” ist groß ange­schil­dert, ich weiß nicht, ob ich — ins Unzu­läs­sige gelangt — schnell umkeh­ren soll, kein Mensch zu sehen, rechts der eindrucks­volle zwei­stö­ckige Rund­bau, auf dessen schrä­gem Dach die Tauben strei­tend und weiß­ko­tend verwei­len: wie ein Bauwerk aus dem Rom der Cäsa­ren oder wie ein Fest­zir­kus aus den 20er Jahre, als die Leute zur Unter­hal­tung noch ausgin­gen und nicht mit TV genug hatten.
Gegen­über auf der ande­ren Seite des Bahn­hofs, hinter den brei­ten verkehrs­rau­schen­den Stra­ßen, stehen wie Mauern vor Pankow mäch­tige Kera­mik-verka­chelte Wohn­hoch­häu­ser, denen gegen­über der there­sia­nisch gelbe Bahn­hof im klas­si­schen Schlöss­chen­stil zu der Frage veran­lasst: Wie kommt der denn hier her, hat denn die Gegend mit dem Bahn­hof begon­nen; das gab es ja in Berlin auch, am Mexi­ko­platz z.B. war zuerst der Bahn­hof, ehe die Stra­ßen und die Villen und die Menschen kamen.

Menschen sind hier um den Hein­ers­dor­fer Bahn­hof nur wenige. Zwei rauchende Männer stehen innen an der Theke des Tag- und Nacht-Imbis­ses im Bahn­hof und, nach­dem ich über die Prenz­lauer Chaus­see hinüber bin, sehe ich zwei andere, die an der Halte­stelle der tiefer liegen­den Tram stehen.
Nach­dem ich dann über das kleine Park­stück und an dem bara­cken­fla­chen TIP vorüber bin, vor dessen Türen ein klei­ner Markt statt­fin­det, der sich “Lager­ver­kauf” nennt und über­wie­gend Billig­kla­mot­ten anbie­tet, sehe ich, wie weit sich die Hoch­häu­ser am drit­ten Arm der Vesa­li­us­straße nach Norden erstre­cken; das waren die ehema­li­gen Viet­na­me­sen-Hoch­häu­ser, Fremd­ar­bei­ter-Unter­künfte, Stät­ten der Heimat­lo­sig­keit, aber das ist jetzt auch vorbei, das haben wir auch schon verges­sen.
Die Gegend sieht proper aus, und sie wird immer prope­rer, je weiter ich nach Westen komme und — wenn man es nicht zuvor wüsste, wäre man direkt über­rascht — plötz­lich öffnet sich an der Para­cel­sus­straße ein Wohn­haus-Arran­ge­ment, das zu den präch­tigs­ten und schöns­ten gehört, die es derart in Berlin gibt. Inmit­ten ein Platz, der keinen Namen hat, den aber jeder Para­cel­sus­platz nennt. Nach einem großen Arzt — wie übri­gens auch Vesa­lius einer war, der Arzt Karls V., ein früher medi­zi­ni­scher Wissen­schaft­ler, der Gottes Gebot trotzte und Leichen aufschnitt, um Bescheid zu wissen.
Die Ärzte passen. Denn den nörd­li­chen Abschluss dieser um Plätze und weit vorra­gende Erker und Tor-Terras­sen laufen­den Para­cel­sus­straße bildet das Kran­ken­haus Pankow; wenn man — wie ich jetzt — von unten herauf­kommt, sieht es wie ein Groß­schloss aus, und die Häuser der Para­cel­sus­straße wären die Kava­liers-Unter­künfte.

Während ich hier entlang gehe, fühle ich mich schon weit fort von dem Bahn­hof, der Eisen­bahn, den verkehrs­dich­ten Stra­ßen und den hohen Häusern, bei denen ich aber sofort wieder bin, bei der Droge­rie um die Ecke biegend zu “Haar­kunst” an der ande­ren Ecke, rein­kom­men und dran­kom­men.
Das ginge ich mit meinem zu lang gewach­se­nen Haar hinein, wen ich nicht zu S10 zurück müsste, die mich in 40 Minu­ten nach Spind­lers­feld bringt, einer lang­haa­ri­gen Blon­den gegen­über sitzend, die, ohne auch nur einmal aufzu­bli­cken, liest und liest und mich erst mit einem fast verwun­der­ten Blick aus ihren voll­ge­le­se­nen blauen Augen mustert, als sie in Ober­spree aussteigt und die Haare schüt­telt, als müsse sie etwas von sich abschüt­teln.
Gleich were ich im Ernst-Grube-Park sein, als hätte ich im Buch der Stadt eine Seite umge­blät­tert und begönne auf einer ande­ren eine andere Stadt­ge­schichte zu lesen.
Dieses neue Kapi­tel schreibe ich jetzt für das Bezirks­jour­nal Köpe­nick, während die Dunkel­heit schon nieder­ge­sun­ken ist über die anhal­ten­den Sorgen unse­res Tages.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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