Mein Block

Autor mit kleinem Bruder. Hinter der Bank der Sandkasten.

Die ersten Jahre meines Lebens habe ich in einem Kreuz­ber­ger Altbau verbracht, im ersten Stock, direkt an der Hoch­bahn. Wenn ich abends im Bett lag und drau­ßen die U‑Bahn oder die noch nicht so vielen Autos vorbei­fuh­ren, husch­ten die Lich­ter an der Decke entlang. Sie hatten sich ihren Weg gesucht durch den klei­nen Spalt über der Gardine. In meiner Fanta­sie aber waren das keine Auto­schein­wer­fer, sondern Peter Pan und seine Freunde, die am Nacht­him­mel umher­flo­gen, um mich vor Käpt’n Hook zu schüt­zen. Ich konnte also beru­higt einschla­fen.
Als ich unge­fähr sechs Jahre alt war, zogen meine Eltern mit der Oma, meinen jünge­ren Brüdern und mir in ein Neubau­vier­tel, gleich um die Ecke. Hier wurde es rich­tig span­nend, jeden­falls außer­halb der Wohnung. Es gab massig Platz hinter’m Haus: Licht, Luft und Sonne hatte der Senat den Berli­ner Kindern verspro­chen, und er hat sein Verspre­chen gehal­ten, jeden­falls uns gegen­über.

Ein klei­ner Sand­kas­ten war die Ausgangs­ba­sis, von dort aus erober­ten wir unse­ren Block. Wir hatten keinen übli­chen Hinter­hof mehr, sondern Rasen­flä­chen, die von klei­nen Stra­ßen und einzel­nen Gebäu­de­rie­geln umstellt waren. Der Platz dazwi­schen war unser Revier. Dort jagten wir mit Salz­streuer in der Hand den Kanin­chen hinter­her, weil uns jemand erzählt hatte, dass sie stehen­blei­ben, wenn sie Salz auf den Schwanz bekä­men. Hier  enter­ten wir fiktive Schiffe, die unser Gebiet in Form von Klet­ter­ge­rüs­ten bedroh­ten. Und hier gingen wir auch auf Esel­jagd. Hundert Meter hinter unse­rem Haus stand eine moderne Kirche, damals jeden­falls war der Stil ange­sagt: Hohe geschlos­sene Wasch­be­ton-Fassade, nur am Rand zog sich eine schmale Fens­ter­reihe vom Boden bis zum Dach. Manch­mal musste die Kirche als Burg herhal­ten, die wir stür­men oder vertei­di­gen muss­ten. Sie war umge­ben von einer Mauer, hinter der es tiefer herun­ter ging, als von vorn. Dort weide­ten manch­mal Esel, die wir mit klei­nen Stein­chen bewar­fen, damit sie über die Wiese rennen. Natür­lich durfte uns der Burg­herr nicht dabei erwi­schen. Aber es gab immer ein paar “brave Kinder”, die auch in der Kirche arbei­te­ten und uns gerne beim Pfar­rer anschwärz­ten. Mit solchen woll­ten wir natür­lich nichts zu tun haben.

Durch das ganze Vier­tel schlängte sich eine schmale Straße. Sie verband die Häuser im Inne­ren des Blocks, damit sie von Kran­ken­wa­gen oder Taxis, Müll- oder Umzugs­wa­gen zu errei­chen waren. Nur ganz vorn an der Straße stand ein Park­ver­bots­schild mit der Ergän­zung “Gesamte Straße”. In meiner kind­li­chen Naivi­tät und gleich­zei­ti­ger Bemü­hung, alles ganz genau zu verste­hen, zerbrach ich mir den Kopf über dieses Zusatz­schild — und zwar über Jahre hinweg. Was ist denn bloß eine “Gesamte Straße”? Ist unter den Stei­nen Samt? Durfte man deshalb nur lang­sam durch­fah­ren? Als junger Mensch habe ich mir sehr oft solch unsin­nige Gedan­ken gemacht.
Wenn wir unten spiel­ten, konn­ten wir von unse­rer Wohnung aus beob­ach­tet werden. Und aus rund 200 weite­ren. Da gab es dann immer welche, die aus ihrem Fens­ter oder vom Balkon herun­ter­brüll­ten, dass wir vom Rasen runter soll­ten. Oder dass wir nicht solch einen Krach machen soll­ten. Die meis­ten nahmen wir nicht so rich­tig ernst, außer einem Mann, der dann manch­mal mit seinem Hund runter­kam und uns bedrohte.

Neben dem Haus war ein klei­ner Sand­kas­ten, viel­leicht zehn Quadrat­me­ter groß. Hier verbrachte ich unend­lich viele Stun­den. Während Oma oder andere Erwach­sene nebenan auf der Beton­bank saßen, baute ich im Sand Stra­ßen und Tunnel. Das konnte ich stun­den­lang machen, ohne dass es lang­wei­lig wurde.
Die Kinder in der Nach­bar­schaft waren alle etwa im glei­chen Alter und gemein­sam wurden wir hier älter. Im Sand­kas­ten fand ich auch meine Freun­din Gabi, mit der ich dann während der Grund­schul­zeit verlobt war. Hier schmie­dete ich später mit Frank Pläne, wie man am besten Kaugum­mi­au­to­ma­ten knackt, was wir aber nie geschafft haben. Von hier aus gingen wir am Sonn­tag mit etwas Sand zum verhass­ten Friseur­la­den auf der ande­ren Seite des Blocks, um ihn in das Schloss zu stop­fen, auf dass wir nie wieder auf seinen Stuhl muss­ten. Leider erfolg­los. Wenn abends die Laterne nahe des Sand­kas­tens anging, muss­ten wir nach Hause. Aber manch­mal waren wir viel zu beschäf­tigt, um das Leuch­ten zu bemer­ken. Selbst als Jugend­li­che trafen wir uns noch am Sand­kas­ten, nun diente er uns aber als riesi­ger Aschen­be­cher.

Zur heißen Zeit der Haus­be­set­zer-Bewe­gung war ich noch­mal dort. Ich kannte im Block ja jedes Haus, jedes Gebüsch und vor allem jeden Durch­gang. Eines Tages schlich ich mich mit zwei Freun­den an die Poli­zei­wa­che gleich nebenan. Im Schutze der Nacht warfen wir dort Steine in die Fens­ter. Dummer­weise kam in diesem Moment ein Strei­fen­wa­gen und jagte uns sofort hinter­her. Obwohl inner­halb von Minu­ten alles voller Poli­zei war, die den ganzen Block durch­kämmte, konn­ten wir uns uner­kannt verste­cken. Das jahre­lange Gueril­lat­rai­ning als Kind hatte sich gelohnt.

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