Kalte Zeiten, Wärmestuben

Die Zunei­gung zu den Krokus­sen habe ich aus der Jugend. Der Ruf des Zeisigs und die Krokusse sind Sigel meiner Jugend. Jedes­mal und beson­ders das erste Mal im Jahr, wenn ich Krokusse sehe, denke ich… ich weiß gar nicht genau, ob ich etwas denke, aber jedes­mal geht es mir ein biss­chen besser als zuvor. Die ersten Krokusse dieses Jahres habe ich gestern vorm Rathaus Lich­ten­berg gese­hen, gelb und lila. Lang­sam wurde es Abend, auf dem schön verwil­der­ten Fried­hof zwischen Bleck­mann- und Hoen­er­weg ließen die Mädchen ihre Hunde laufen, dann saßen sie mit den Jungen auf den Rücken­leh­nen der Bänke und warte­ten darauf, dass ich vorüber sei, um sich in Ruhe zu küssen. An den Birken rankt sich der Efeu empor, man muss den Anblick ästhe­tisch nehmen, nicht biolo­gisch, roman­tisch, nicht poli­tisch. Auch die Häuser­fron­ten links und rechts in Bleck­mann- und Hoen­er­weg muss man nicht in ihrem Verfalls­zu­stand beschrei­ben, sicher werden sie bald reno­viert, sondern nach der Stim­mungs­qua­li­tät. Vom quir­li­gen Ring­Cen­ter an der Frank­fur­ter Allee, von der S4, die bald ganz Berlin umrun­det, bis hier­her in diese versam­melte Ruhe habe ich gerade 5 Minu­ten gebraucht. Das ist ein Charak­te­ris­ti­kum von Berlin, wie schnell die Stadt­stim­mun­gen wech­seln, wenn man es nicht zu eilig hat, Ziele zu errei­chen. Mein Ziel ist der Roede­li­us­platz.
Zuerst komme ich in die Rusche­straße. Rusches waren Orts­bau­ern, die meis­ten Stra­ßen heißen hier örtlich, nach Kommu­nal­po­li­ti­kern des [vor]vorigen Jahr­hun­derts, nur nach Männern. Der Roede­lius, zu dessen Platz ich auf dem Wege bin, war erst Bürger­meis­ter von Span­dau, dann von Muskau, dann von Lich­ten­berg, Amts­vor­ste­her; Dotti, dessen Straße ich nun schon hinter mir habe, belie­ferte das Mili­tär, machte dicke Geschäfte und konnte sich den Möllen­dorff-Park kaufen, durch ich herauf­ge­kom­men bin. Das sind alles Leute, bei denen man sich mora­lisch nichts mehr denken kann. Die Stra­ßen heißen eben so, sie könn­ten auch nach den Krokus­sen heißen und den Zeisi­gen. Oder einfach nach Vorna­men wie weiter hinten andere. Dann braucht man später keine Umbe­nen­nungs­kom­mis­sio­nen, und niemand muss bean­spru­chen, dass er zu bestim­men hat, wie die Geschichte heißt. Als ich hinüber­bli­cke zu den Plat­ten­bau­ten, die die Rusche­straße bevöl­kern, und in die Norman­nen­straße einbiege, kommen mir natür­lich doch einige Gedan­ken geschicht­li­cher Art.
Die Norman­nen­straße bildet von Rathaus zu Kirche und Gericht die höher gele­gene Nord­grenze eines von der Frank­fur­ter Allee anstei­gen­den Kiezes, dessen Mittel­punkt in Wirk­lich­keit (denke ich oder bilde ich mir ein) etwas nörd­lich vom Roede­li­us­platz liegt und nicht hier unten, wo die Geschichte in ihrem langen Mantel vorüber­ge­gan­gen ist und Gedenk­stät­ten hinter­las­sen hat. Ich studiere die Orien­tie­rungs­ta­fel in der Norman­nen­straße vor dem nun ganz offe­nen Stasi-Tor. Begeg­nungs­t­stätte des Doku­men­ta­ti­ons­zen­trums zur Aufklä­rung von SED-Verbre­chen e.V., Bund der Stali­nis­tisch Verfolg­ten, Landes­ver­band Berlin und eine Zweig­stelle von Pastor Gaucks Behörde, die ja auch so umständ­lich heißt, so lang und so sehr nach Musil.
Aber das ist natür­lich auch nur eine persön­li­che Jugend­er­in­ne­rung, dass ich bei Stasi und Stasi-Verar­bei­tung an Robert Musils Paral­lel­ak­tion aus dem Mann ohne Eigen­schaf­ten denke. Wenn ich mir vorstelle, dass — nehmen wir ihn mal als Beispiel — der intel­lek­tu­elle Intel­lek­tu­el­len-Sohn Micha Wolf gerade 30 war, als er bei der Stasi einzog, um — wie er sagt — kein Spion zu sein, dann möchte ich Alter ja beinahe sagen … ach, nein, keine grund­sätz­li­chen Schlüsse; “eine deut­sche Karriere” heißt der Unter­ti­tel von Jochen von Langs Biogra­phie von Erich Mielke; Mielke und Wolf, was die sich wohl erzählt haben beim Glase Bier, sie kommen mir beide nicht sehr typisch vor. Hans Zoschke, nach dem das Stadion gegen­über heißt, an dessen Mauer oben die Rüdi­ger­straße für die Argus-Sied­lung einen klei­nen Platz bildet, war ein Freund von Werner Seelen­bin­der. Arbei­ter­sport­ler, wie man damals sagte, Wider­stand gegen die Nazis, Gruppe Uhrig, von Freis­ler und andern Juris­ten zu Tode gebracht. Er konnte schöne Gedichte schrei­ben. “Hans Zoschke eine deut­sche Karriere”, auf einen solchen Titel kommt niemand.

Die Autos haben schon die Lich­ter an, es wird Abend. Das Amts­ge­richt am Rode­li­us­platz ist schon mausezu. Sonst wäre ich hinein­ge­gan­gen, mehrere frühere Studen­tin­nen und Studen­ten von mir arbei­ten da; ich selbst bin froh, dass ich meine Justiz­kar­riere hinter mir habe; ich habe das Vertrauen in die Gerech­tig­keits­ma­schine, das ich früher so dick hatte, ziem­lich verlo­ren. Die Gerichts­bau­meis­ter hießen Thoe­mer und Mönnich, von ihnen stam­men die Haupt­ge­richte in Berlin; Deutsch­land war ein Reich gewor­den; im letz­ten Drit­tel des 19. Jahr­hun­derts etablier­ten sich die “Reichs­jus­tiz­ge­setze”, und zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts entstan­den über­all in der Metro­pole, aber auch im provin­zi­el­len Lande Reichs­jus­tiz­ge­richte, Gerech­tig­keits­schlös­ser, könnte man sagen; aller­dings die Archi­tek­ten hatten ihre eige­nen Gedan­ken; er wolle so bauen, hat Rudolf Mönnich gesagt, dass die Archi­tek­tur den “unan­ge­neh­men Eindruck ihrer Bestim­mung” verdränge. Das ist leider heute kein Archi­tek­ten-Prin­zip mehr: der Erwei­te­rungs­bau in der Magda­le­nen­straße zwischen Gericht und hoch­be­sta­chel­drah­te­tem Gefäng­nis ist von sehr bestim­mungs­ge­mä­ßer roter Recht­eckig­keit.
Gericht und Glau­bens­kir­che gegen­über sind fast gleich­zei­tig gebaut. Die Archi­tek­ten der Kirche waren ideo­lo­gisch ganz andere Männer als die Gerichts­bau­meis­ter, jeden­falls einer von ihnen, von dem die Pläne sind; er hieß Ludwig von Tiede­mann, ein stram­mer Werte­kon­ser­va­ti­ver, der anbauen wollte gegen “die kalt berech­nende Zeit”; dafür nahm er — man sieht es — die Gotik und Rüders­dor­fer Kalk­stein, aus dem sich die Rathe­nower Back­steine erhe­ben wie aus einer prägen­den Form. Der andere Kirchen­bau­meis­ter hieß Robert Leib­nitz; er war, glaube ich, weni­ger grund­sätz­lich, man konnte es dem alten Adlon anse­hen, mit dem er am Pari­ser Platz glänzte.
Der Kaiser war mit diesen Kirchen­bau­meis­tern. Und die Kaise­rin. Es lief ein großes Kirchen­bau­pro­gramm zu Jahr­hun­dert­be­ginn. Die Glau­bens­kir­che ist nur ein Beispiel. Gab es plötz­lich so viele Gläu­bige? Das wird immer als Grund ange­ge­ben; auch hier: die Lich­ten­ber­ger Gemein­de­kir­che hatte nur für 300 Leute Platz; und jetzt kamen aber­hun­derte? Es war nur noch ein knap­pes Jahr­zehnt zum Krieg; da hieß es für die könig­lich-preu­ßi­schen Pfar­rer — denn der König-Kaiser war ihr Bischof — die Kano­nen segnen, mit denen die Gläu­bi­gen andere Gläu­bige erschie­ßen soll­ten. Vor dem Gerichts­ge­bäude stan­den die Frauen, wenn ihre Männer drin­nen verur­teilt und gefan­gen wurden. Solch ein Kirchen-/Gerichts­platz mitten in der Arbei­ter­ge­gend erzählt schwere Geschich­ten, auch wenns Abend werden will.
Auf der Nord­seite liegt unter einem Haus­bo­gen, der Kirche gegen­über, der Eingang zur Plon­z­straße und zur ganzen Sied­lung. Sie wird wie von weit geöff­ne­ten Armen von der Glas­chke- und Schott­straße umschlos­sen. “Es sieht italie­nisch aus”, sagt Jagusch, der Foto­graf. Es sieht zutrau­lich aus, heimat­lich; später sagt viel­leicht mancher gern: Ich bin aus der Schott‑, Rüdiger‑, Plonz‑, Glas­ch­ke­straße. Ein Zeisig singt. An der Kirchen­tür wird erklärt, was die Kopten sind und wann die Wärme­stube und das Nacht­café geöff­net ist.
Maria aus Magdala am See Gene­za­reth war die Frau, die dem Chris­tus die Füße mit ihren Tränen wusch.
Keine 200 Meter sinds durch die Magda­le­nen­straße zum U‑Bahnhof, 12 Minu­ten zum Alex, Berlin ist schnell anders, aber fast immer es selbst.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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1 Kommentar

  1. Sigel ohne ´e´? Da musste ich doch erst mal nach­schla­gen. Kannte ich nicht das Wort. Wieder was gelernt …

    Auch der Arti­kel selbst. Inter­es­sant …

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