Zu Besuch beim Marxismus in Schmöckwitz

Abfahrt Halen­see 9.45 Uhr, sonni­ges Vorfrüh­lings­wet­ter. S45 nach Eich­walde, von dort nach Schmöck­witz, lang­sam, zu Fuß.
Warum nach Schmöck­witz? Der Name klingt auffor­dernd, nach Land­par­tie, Schmöck­witz ist drau­ßen. Verrei­sen und gleich­zei­tig zuhause blei­ben. “Irgend­was war doch in Schmöck­witz”, sagt Ute. “Hast du da nicht mal in DDR-Zeiten einen Vortrag gehal­ten, über irgend­was, irgend­was mit Grund­rech­ten?” Aber wo denn? Wo soll denn in Schmöck­witz und bei wem theo­re­ti­sches Inter­esse an den Grund­rech­ten bestan­den haben? “Vorne war ein größe­rer Saal und unten am Wasser ein klei­ne­res einstö­cki­ges Haus, in einem ziem­lich klei­nen Zimmer saßen Leute, denen du was über die Grund­rechte erzählt hast, anfangs hab ich zuge­hört, dann bin ich raus und habe auf dem Steg überm Wasser Ziga­ret­ten geraucht und den Schwä­nen zuge­se­hen.”

Gestern in meinem Verfas­sungs­rechts-Semi­nar habe ich über den Unter­schied zwischen Staats­recht und Verfas­sungs­recht gespro­chen, und ob das ein Unter­schied ist, und nicht nur unter­schied­li­che Sicht­weise. Da bin ich — fast zufäl­lig — auf einen Mann gesto­ßen, der Uwe-Jens Heuer heißt. 1989 hat er im Staats­ver­lag der DDR und bald darauf im Nomos-Verlag in Baden-Baden ein Buch erschei­nen lassen, das tut so, als ob es die DDR neben der BRD noch lange geben würde. Der Text wirkt heute manch­mal ein biss­chen komisch. Und uralt. Heuer ist heute Mitglied des Bundes­ta­ges. Im Hand­buch lese ich, dass er in Schmöck­witz wohnt unter einer nach Wasser klin­gen­den Adresse. Das Vergnü­gen mache ich mir doch, denke ich, mal nach­zu­se­hen, wie “Marxis­mus und Demo­kra­tie” land­schaft­lich ange­ord­net sind. Von meiner Wohnung am oberen Kurfürs­ten­damm bin ich mit der S45 in 45 Minu­ten in Eich­walde. Da war ich noch nie. Der Ort ist über­ra­schend städ­tisch. Nicht Berlin. Dahme-Spree­wald. Aber nach­dem ich über den weit­räu­mi­gen Händel­platz mit Pracht­kir­che hinaus bin, treffe ich am Ende der Grünauer Straße auf das gelbe Schild: Berlin. Die eine Seite der Straße Bran­den­burg, die andere Berlin, es kommen noch mehrere solche Schil­der, an jeder abzwei­gen­den Straße.
Eich­walde tut städ­tisch, Berlin fängt vorstäd­tisch an. Baum­wur­zeln haben das Pflas­ter gewellt, kein Schild “Gehweg­schä­den”, mit dem Berlin die Stadt sich aus der Haftung steh­len will, und schon stol­pere ich.

Ich liege einen Moment in Berlins südli­chem Staub, biege — um eine Besin­nungs­pause zu machen — nach Eich­walde zurück, zum Platz der Repu­blik, weit­räu­mig, nicht gerade villen­städ­tisch, auch nicht lauben­pie­pe­risch, eine gepflegte Garten­an­lage in der Mitte. Könnte man auf den Charak­ter der Repu­blik schlie­ßen aus dem Charak­ter dieses Plat­zes? Fried­lich, verstän­dig und ein biss­chen büro­kra­tisch: Klei­nes grünes Schild: “Park­an­lage, Rasen betre­ten nicht gestat­tet. Eltern haften für ihre Kinder. Gemein­de­amt Eich­walde.”
Ich bin alleine, mehr Flug­zeuge in der blauen Luft als Autos auf den grob gepflas­ter­ten Stra­ßen. Die Stuben­rauch­straße, links die Schmöck­wit­zer führt mich über die sandige Maxim-Gorki-Straße in die Mari­an­nen­straße, die fast ein Wald­weg ist, dann bin ich am Adler­ge­stell; ganz alte Straße, die Forst­ge­stelle waren mit dem Staats-Adler gekenn­zeich­net; aber das Alter der Straße und ihre Heimat­kund­lich­keit sind ganz in der moder­nen Auto­straß­lich­keit unter­ge­gan­gen. Ich wundere mich ein biss­chen, dass auch diese endlos schei­nende Straße mit der hohen Präsenz in den Verkehrs-Nach­rich­ten plötz­lich zu Ende ist, vom “Schmöck­wit­zer Krug” an heißt sie Werns­dor­fer Straße, von dort führt sie nach Werns­dorf, über die Schmöck­wit­zer Brücke, auf der ich jetzt stehe.

Wasser, ausge­dehnt, rechts und links. Ich bin in Lübeck aufge­wach­sen, sommer­lang haben wir am Strand gele­gen; “wir fahren an die See”, heißt für mich immer noch: in die Weite, Frei­zü­gig­keit, ins lässi­gere Leben. Der Himmel ist wolken­los, die Sonne strahlt, lässt die Dächer der Neubau-Anla­ger nörd­lich der Brücke in ihrem Blau glit­zern, vorne der “Winter­gar­ten Schmöck­witz”, böhmi­sche und öster­rei­chi­sche Küche, aber wohl auch italie­ni­sche, sieht einla­dend aus, ist jetzt aber zu.
Ich gehe ein Stück die Straße “Am Sedd­in­see” abwärts, immer noch ein biss­chen auf der Suche nach einer Örtlich­keit, von der ich vermu­ten könnte, dass ich da mal über die Grund­rechte gespro­chen hätte. Glase­rei Still vermie­tet auch Zimmer, im Kanu­heim gibt es “Wochen­end-Zimmer”, erst kann ich mir nicht vorstel­len, dass ich mich hier für ein paar Tage einmie­ten sollte, aber je länger ich hier bin, umso vertrau­ter wird mir der Gedanke.
Alt-Schmöck­witz heißt die Straße, die in Alt-Schmöck­witz den Anger umschließt und die Tram die Rich­tung wech­seln lässt. Drei Häus­chen stehen noch da aus dem 18. Jahr­hun­dert, als der Ort noch nicht Ausflugs­ziel­i­ges hatte, sondern ein Fischer­dorf war.
Etwas seit­wärts steht die Kirche, ein Kirch­lein, Fontane fand sie trist. Aber da hat er nicht rich­tig hinge­guckt; aus dem letz­ten Jahr des 18. Jahr­hun­derts, von einem Span­dauer Maurer­meis­ter gebaut; abge­schlos­sen, den Kron­leuch­ter, den Fontane beguckt hat, kann ich mir also nicht anse­hen.
Vor der Tür eine Bank, die gemüt­lich höher liegt über dem Schmöck­wit­zer Plätz­chen. Aber ein dicker Alter setzt sich so bräsig, dass ich ihn auffor­dern müsste zu rücken, wenn ich auch sitzen wollte. Das merk­wür­dige Helden­mal gerade davor mit einem grünen Knaben, der in fallen­der Haltung auf einem Löwen reitet, verliert lang­sam die Arme. Der Löwe, heißt es im Papier, gilt seit Rauchs Grab­mal für Scharn­horst als Symbol der Kraft und Tapfer­keit des preu­ßi­schen Mili­tärs. Ach, für welchen Unsinn sich doch Bild­hauer herge­ben. Wie gut, dass kaum noch jemand solche “Sinn­ge­bun­gen” nach­voll­zie­hen kann. Aber auch 1924 hätte man schon klüger sein können.

Ich gehe um die Kirche herum, die Wiese hinun­ter zum “Boots‑, Yacht- und Frei­zeit-Center”, weil ich einen Moment im Zwei­fel war, ob die Puppe im Fens­ter nicht doch eine leben­dige Frau sei. Der dicke Alte, der mich nicht auf die Bank lassen wollte, ist auch um die Kirche getre­ten und pisst nun das Gottes­haus an. Ich frage mich, warum er um die Ecke gegan­gen ist, wo er doch auch nicht verbor­ge­ner steht. Nach­dem er weg ist, sieht man den Piss­fluss an der Kirchen­wand von der Straße aus.
Ich sitze auf der blau-grünen Bank vor dem blauen Imbiss-Stand, der sich “Linie 68” nennt und früher das Halte­stel­len-Häus­chen war. Das Ange­bot ist ordent­lich, der Wirt sehr freund­lich. Ich warte auf die Tram Nr. 68.
Zu Uwe-Jens Heuer hätte ich von der Godber­sen­straße in die andere Rich­tung gehen müssen. Das war mir zu weit. Ich habe mich damit getrös­tet, dass ich den Wohn­ort des Marxis­mus in der Straße zum Seeblick viel­leicht auf der Rück­fahrt aus der Tram ausma­chen könnte. Aber das gelingt mir nicht. Die Tram saust elegant dahin. Man erhascht — wenn man nicht Bescheid weiß — nur unge­naue Blicke, aber doch einen guten Einblick vom Ganzen.

Die Tram 68 ist ein empfeh­lens­wer­tes Verkehrs­mit­tel, sie fährt mich durch die Wasser­sport-Teile von Grünau, an der Olym­pia-Tribüne vorbei. Auf dem Wasser hier, steht im 36er Olym­pia­buch, hat Deutsch­land die Welt geschla­gen. Ach, Deutsch­land hat ja leider auch an vielen ande­ren Stel­len auf die Welt geschla­gen. Es ist Deutsch­land schlecht bekom­men. Ob Deutsch­land lern­fä­hig ist? Jetzt hat es doch die Chance über­all. Muss es unbe­dingt, denke ich, schon wieder Helm-ab-zum-Gebet üben? Ich weiß nicht, warum ich das gerade hier denke. Die Schön­heit dieses Vorfrüh­lings­ta­ges liegt mir auf der Brust. Zur Wahr­heit gehört nicht nur das Resul­tat, sondern auch der Weg (zitiert Heuer, oben am Seeblick).

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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